Multiple Sklerose

Bewährte Optionen und zukünftige Therapien in der Erforschung


Sabine M. Rüdesheim, Frechen

Die Hemmung der Aktivität von B- und T-Zellen durch Blockierung der Pyrimidinsynthese ist eine wirksame Option bei der Behandlung von multipler Sklerose. Mittlerweile ist jedoch weiteres Wirkprinzip, die B-Zell-Depletion mithilfe eines Anti-CD20-Antikörpers, in den Fokus gerückt, zeigten Experten bei einem Fachpresse-Workshop der Firma Sanofi auf.

Multiple Sklerose (MS) ist eine chronische Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems, die je nach Anzahl und Lokalisation der Läsionen zu schweren neurologischen Beeinträchtigungen und Hirnatrophie führt. Die Behinderungszunahme kann im Krankheitsverlauf als schubassoziierte Verschlechterung auftreten – oft wird sie jedoch, wie Analysen zeigen, durch eine stetige schubunabhängige Behinderungsprogression (PIRA [progression independent of relapse activity]) angetrieben [1]. Demnach müssen auch Patienten ohne entzündliche Aktivität im Sinne von Schüben Hirnsubstanzverlust hinnehmen, der die Progression fördert. Deshalb sollte die Therapie frühzeitig beginnen.

Bewährte Wirksamkeit

Als therapeutische Zielstruktur gelten neben den T-Zellen die B-Zellen. So hemmt z. B. Teriflunomid (Aubagio®) reversibel und selektiv die Proliferation aktivierter T- und B-Zellen, indem es das mitochondriale Enzym Dihydroorotat-Dehydrogenase inhibiert. In den beiden Zulassungsstudien TEMSO [2] und TOWER [3] reduzierte der orale Immunmodulator signifikant das Risiko einer Behinderungsprogression im Vergleich zu Placebo. Dieser positive Effekt geht Untersuchungen zufolge mit einem Schutz des Hirnvolumens einher [4]. Real-World-Daten untermauern das Wirksamkeits- und Sicherheitsprofil; dabei wurden unter dem Immunmodulator weder die Immunabwehr noch der Impfschutz beeinträchtigt.

B-Zell-depletierende Antikörper

Eine weitere Therapieoption ist die Reduktion der Anzahl der B-Zellen im Blutstrom. Eine wichtige Zielstruktur ist dabei ein Protein auf der Zelloberfläche: das Cluster of Differentiation 20 (CD20). Da sich dieser Therapieansatz bei der Behandlung der MS schon mit dem monoklonalen Anti-CD20-Antikörper Rituximab als wirksam erwiesen hat, wird er zurzeit in der Forschung intensiv verfolgt und ist zum Teil auch schon zur Behandlung verfügbar. Die Mechanismen differieren dabei etwas:

  • Unter Ocrelizumab erfolgt die Depletion von B-Zellen, die CD20 exprimieren, aber nicht von Prä-B-Zellen oder Plasmablasten, sodass die B-Zell- und Antikörperproduktion nicht beeinträchtigt wird.
  • Obinutuzumab depletiert B-Zellen und Plasmablasten.
  • Der Antikörper Ofatumumab wirkt nicht nur auf die große Schleife des CD20-Moleküls, sondern zielt auch auf kleine Epitope in der Nähe der B-Zell-Membran, um eine maximale Zytolyse zu erreichen.
  • Die Wirksamkeit von Inebilizumab bei MS wird zurzeit untersucht. Der Antikörper, der spezifisch an CD19 bindet, ist bereits für Neuromyelitis-optica-Spektrumerkrankungen zugelassen. Er zielt auf Prä-B-Zellen und antikörperproduzierende Zellen wie Plasmablasten und einige Plasmazellen ab und führt zu einer anhaltenden Depletion der B-Zellen.
  • Die Experten erwarten in diesem Therapiesegment weitere Entwicklungen, wie sie z. B. schon durch die gezielte Modifikation spezifischer Zuckermoleküle an einem Antikörper, sogenanntes Glycoengineering, erfolgte, die eine bessere Wirksamkeit des Proteins erzielt. So wurden für den glycoengineerten Antikörper Ublituximab inzwischen Ergebnisse der Phase-III-Studien vorgelegt (siehe auch Kasten).

In den letzten Jahren wurden große Anstrengungen unternommen, um neue therapeutische Optionen für die Behandlung der MS zu entwickeln. Allerdings adressieren bislang alle diese Strategien Targets in der Peripherie, und hier mehr oder weniger spezifisch Teilbereiche der Immunreaktion bei MS, einschließlich der Aktivierung und Vermehrung von T-Zellen sowie ihrer Zirkulation und Transmigration über die Blut-Hirn-Schranke bzw. B-Zellen und natürliche Killerzellen [5]. Dort, wo der Schaden entsteht, im Zentralnervensystem (ZNS), gibt es jedoch relativ wenig Hebel, obwohl die Destruktion und Inflammation im Gehirn selbst für die Krankheitsprogression verantwortlich sind. Deshalb sind zukünftig die Hemmung von aktivierten Mikrogliazellen im ZNS mit gehirngängigen Small Molecules sowie neue Adhäsionsmoleküle als Targets von Interesse.

Immersive virtuelle Realität

Wie eine Machbarkeitsstudie zeigte, können zukünftig digitale Hilfsmittel wie Interventionen, die auf immersiver virtueller Realität (VR) beruhen, die traditionelle klinische Praxis in der kognitiven Diagnostik sowie in der Therapie bzw. Rehabilitation ergänzen [6]. Durch die Möglichkeit, mithilfe von VR das Leben quasi ins Labor zu holen, können kognitive Funktionen in virtuellen Situationen überprüft werden. Dies ermöglicht, individualisierte Trainingsprogramme zu erstellen, bei denen die Patienten nach Aufsetzen einer VR-Brille in einer sicheren Umgebung trainieren und so ihre Selbstständigkeit steigern können.

Quelle

Prof. Dr. Peter Rieckmann, Bischofswiesen, Priv.-Doz. Dr. Tobias Ruck, Düsseldorf, Prof. Dr. Mathias Mäurer, Würzburg, Dr. Michael Gaebler, Leipzig, Fach-Presseworkshop „8. MS Special(ists) – MS-Patienten*innen im Blick“, Köln, 22. August 2022, veranstaltet von Sanofi.

Literatur

1. Kappos L, et al. Contribution of relapse-independent progression vs relapse-associated worsening to overall confirmed disability accumulation in typical relapsing multiple sclerosis in a pooled analysis of 2 randomized clinical trials. JAMA Neurol 2020;77:1132–40.

2. O’Connor P, et al. A randomized, placebo-controlled trial of natalizumab for relapsing multiple sclerosis. N Engl J Med 2011;365:1293–303.

3. Confavreux C, et al Oral teriflunomide for patients with relapsing multiple sclerosis (TOWER): a randomised, double-blind, placebo-controlled, phase 3 trial. Lancet Neurol 2014;13:247–56.

4. Sprenger T, et al. Association of brain volume loss and long-term disability outcomes in patients with multiple sclerosis treated with teriflunomide. Mult Scler. 2020;26:1207–16.

5. Linker RA, et al. Identification and development of new therapeutics for multiple sclerosis. Pharmacol Sci;29:558–65.

6. Belger J, et al. Immersive virtual reality for the assessment and training of spatial memory: Feasibility in individuals with brain injury. 2019 International Conference on Virtual Rehabilitation (ICVR), [abstract]. DOI :10.1109/ICVR46560.2019.8994342.

Psychopharmakotherapie 2023; 30(01):30-37