Psychiatrie an neuen Ufern der antidepressiven Behandlung


Faszination und Risiken der Psychopharmakotherapie der Zukunft

Prof. Dr. Hans-Jürgen Möller, München

Mit Ketamin/Esketamin ist die Zeit der RAAD (rapid acting antidepressants) angebrochen und damit der Fokus auf neue Wirkungsmechanismen der Antidepressiva-Therapie. Statt der monoaminergen Mechanismen steht nun eine glutamaterge Pharmakologie im Fokus. Es ist aufgrund der neurobiologischen Datenlage evident, dass das glutamaterge Wirkprinzip allein zur Erklärung der Wirkung der RAAD nicht ausreicht, sondern ergänzend andere pharmakologische Mechanismen hinzukommen, aber es steht im Zentrum der Hypothesenbildung der genannten und anderer glutamaterger RAAD. Daneben gibt es noch andere, nicht über das glutamaterge System funktionierende Antidepressiva, allerdings bisher noch weitgehend ohne Zulassung. Von diesen stellen die Psychedelika (im engeren Sinne als 5-HT2A-Agonisten pharmakologisch charakterisiert, auch dies aber nur eine vereinfachte Beschreibung eines komplexeren Wirkungsmechanismus) die größte Gruppe. Eine gute Darstellung über diese neue Welt glutamaterger Antidepressiva und RAAD anderer Wirkungsmechanismen geben die beiden Übersichtsarbeiten von Reif-Leonhard, Freudenberg und Reif in der März /April-Ausgabe und Juli/August-Ausgabe der PPT [3, 4]. Sie zeigen die große Fülle potenzieller Substanzen/Wirkungsmechanismen, verdeutlichen gleichzeitig aber auch, dass bisher nur Ketamin/Esketamin zugelassen sind (nur Esketamin mit einer speziellen Zulassung für Depression im Sinne der therapieresistenten Depression [TRD]) und breite klinische Verwendung gefunden haben. Der faszinierenden, geradezu überbordenden Kreativität in der Entwicklung neuer bzw. in der Wiederbelebung alter Substanzen/Wirkungsmechnismen steht derzeit ein erheblicher Mangel der Prüfung und Validierung als Antidepressiva gegenüber. Bei dieser Datenlage ist der aktuelle Hype um die Gruppe der Psychedelika umso bemerkenswerter und scheint die gewohnte Rationalität als Kriterium der traditionellen Psychopharmakologie durch Emphase und mediale Aufmachung zu ersetzen.

Schon mit Ketamin/Esketamin wurden dissoziative Symptome als häufige unerwünschte Begleitwirkung beschrieben, die aber pragmatisch gesehen wurden und denen keine besondere Aufmerksamkeit in der klinischen Gesamtbewertung gegeben wurde. Es waren „lediglich“ Nebenwirkungen, die als solche dokumentiert wurden. Es wurde auch gezeigt, dass der therapeutische Effekt vermutlich davon nicht oder nicht wesentlich abhängig ist. Ganz anders sieht es bei den Psychedelika aus, als deren Hauptvertreter derzeit Psilocybin im Fokus der Aufmerksamkeit in den USA und in Deutschland/Europa steht. Interessant im Umgang damit ist, dass die meisten Untersucher es vermeiden, das Potenzial für dissoziative/psychotische Symptome eindeutig als unerwünschte Begleitwirkung zu deklarieren und als solche in den Studien zu dokumentieren. So sind in der großen und an sich methodisch vorbildlichen und hochrangig publizierten Phase-III-Studie zur Wirksamkeit von Psilocybin bei TRD von Goodwin et al. [2] keine Angaben zu diesen Symptomen zu finden. Im Gespräch darüber mit ihm, wie auch mit anderen Psilocybin-Experten, wurde mir deutlich gemacht, dass man diese Symptome als Indikator des komplexen biologischen Wirkungsmechanismus ansehe, der zu dem therapeutischen Effekt beitrage oder sogar wesentlich sei. Letzteres scheint meines Erachtens bisher nicht bewiesen, wird aber als Hypothese aufrechterhalten, obwohl es durchaus negative Befunde bezüglich dieser Hypothese gibt. Es wird interessant zu beobachten, ob sich die Zulassungsbehörden diesen Interpretationsansatz trotz bisher nicht überzeugender Datenbasis zu eigen machen werden und damit dieses Spektrum von bei prinzipieller Betrachtung unerwünschten Begleitwirkungen in der Zulassungsbewertung ausblenden.

Dabei handelt es sich nicht nur um eine theoretische bzw. zulassungsrechtliche Frage, sondern um eine eminent wichtige Frage für die klinische Praxis. Ich denke in diesem Moment an die Zeit, in der Antidepressiva in der Behandlung depressiver und apathischer Symptome bei nicht mehr akut psychotischen an Schizophrenie Erkrankten intensiv auf dem Prüfstand standen, da zumindest einige Trizyklika wegen des Risikos, psychotische Symptome zu induzieren, als zu problematisch angesehen wurden. Erst die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) konnten durch weitgehendes Fehlen dieses Risikos einen Platz in der medikamentösen Behandlung depressiver und apathischer Symptomatik bei an Schizophrenie Erkrankten finden. Wird diese Nebenwirkungs-Problematik bei Psilocybin schon im Vorfeld ausgeblendet mit dem Hinweis, dass dissoziative und ähnliche Symptome notwendiger Teil des Wirkungsmechanismus sind, scheint das nicht unproblematisch. Da schon jetzt nicht nur depressive Syndrome, sondern auch abulisch-apathische Syndrome Teil des Erprobungsprozesses von Psilocybin sind, stellt sich unter anderem die Frage, ob immer die Diffenzialdiagnose einer Schizophrenie ausgeschlossen wird, um die oben für die Trizyklika dargestellte Problematik zu verhindern. Oder wird es eher so sein, dass Psilocybin und andere Psychedelika ohne klar definierte medizinische Indikationsstellung verordnet werden als per se „gute“ Medikamente mit globalem Wirkungsspektrum?

Dass für viele Laien, auch für viele Ärzte, die Psychedelika per se „gut“ sind, hängt möglicherweise bei einigen mit positiven Vorerfahrungen mit Halluzinogenen in der eigenen Lebensgeschichte zusammen. Vielleicht trägt aber auch die Rückbesinnung auf den magisch-mythischen kulturellen Kontext, in dem diese Substanzen ursprünglich ihren Platz hatten, zu dieser grundsätzlich positiven Bewertung bei. Diese Sicht scheint wieder neue Faszination zu erhalten. Dass durch Psilocybin und andere Psychedelika Gefühle der Spiritualität, Verbundenheit mit überirdischen Bezugssystemen, ja sogar Gefühle der Religiosität im Allgemeinen (nicht im Sinne einer speziellen Religion) erzeugt werden können, wird intensiv durch entsprechende Forschungsgruppen untersucht [1] und gibt diesen Substanzen einen besonderen Stellenwert im Sinne von etwas von der normalen Realität Abgehobenem, das zu höherem Denk- und Erlebensvermögen führt. Sie werden so zu quasi kultischen/„heiligen“ Substanzen. Dass das „besondere transzendentale Erleben“ eine neurobiologische Basis zu haben scheint, ist Ergebnis der diesbezüglichen Forschung. Dieses Erleben wird von den meisten Behandelten als angenehm empfunden. Derzeit gibt es aber keine ausreichenden Beweise, dass diese Erlebnisebene Teil oder gar Conditio sine qua non des antidepressiven/therapeutischen Effekts ist.

Die dargestellte Besonderheit macht deutlich, dass es sich bei Psilocybin und anderen Psychedelika nicht nur um Antidepressiva im traditionellen Sinne handelt, die man medizinisch pragmatisch nach bestimmten Regularien verordnet, sondern dass sie möglicherweise des besonderen therapeutischen Handelns bedürfen, z. B. mit psychotherapeutischer Begleitung im Sinne traditioneller psychologischer oder psychodynamischer Konzepte oder sogar mit Gesprächen über die Eröffnung transzendentaler/religiöser Zugangswege. Die Psychiatrie muss in diesem Kontext den richtigen Weg finden, insbesondere auch in Hinblick darauf, ob sie ein traditionelles medizinisches Fach mit klaren Behandlungsindikationen, Verwendung zugelassener Medikamente im zugelassenen Dosisrahmen, Berücksichtigung von Nebenwirkungen, Kontraindikationen, medikamentösen Interaktionen u. a. bleibt – oder ob sie in den Grenzbereich von Medizin und Heilkult eintreten will, das skizzierte Regelsystem medizinisch pharmakologischen Handelns verlässt und ein vorrangig intuitives Behandlungsangebot macht, bei dem die Frage der Indikation und Zulassung der verwendeten Medikamente und die sonstigen psychopharmakotherapeutischen Regeln nicht weiter berücksichtigt werden, sondern man vorwiegend auf die persönliche Beziehung und die Behandlungswünsche des Patienten hinsichtlich bestimmter Medikamente/Drogen abstellt und die therapeutischen Zielsetzungen jenseits der definierten traditionellen Ziele (z. B. Abnahme depressiver Symptomatik) sucht, im Sinne von Selbstfindung, spiritueller Grenzerweiterung und Ähnlichem. Rationalität, nicht Irrationalität muss die Devise des medizinischen Handelns bleiben.

Die derzeit laufende sorgfältige wissenschaftliche Evaluation von Psilocybin kann als wichtiges Beispiel dafür angesehen werden, wie eine vielen Nutzern/Anwendern als rekreationelle Droge bekannte Substanz in den Medikamentenschatz der Medizin/Psychiatrie eingeführt werden kann, um sie in der hier wie ein anderes Medikament nach definierten medizinischen Kriterien zu verwenden. Das gibt Hoffnung, dass auch hinsichtlich anderer Substanzen aus dem Bereich der Drogen dieser Weg gegangen wird. Nur so lässt sich ein Dammbruch vermeiden, bei dem diese Substanzen jenseits der medizinischen Regelsysteme ohne klare Indikationsstellung und ohne klare Wirksamkeitsbeurteilung global eingesetzt werden, vorrangig dann im außermedizinischen Bereich. Es ist wichtig, dass Psychiater und insbesondere die klinische Psychopharmakologen, zusammen mit den Zulassungsbehörden, dafür sorgen, dass letztere Entwicklung vermieden wird.

Literatur

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