Ein neuer „atypischer“ Depressionstyp


Univ.-Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Gerd Laux, Soyen

Hochfunktionale Depression. Das übersehene Leiden

Ein Aufklärungsbuch.

Von Michelle Hildebrandt. S. Hirzel Verlag, Stuttgart 2024. 1. Auflage. 200 Seiten. Kartoniert 22,00 Euro. ISBN 978-3-7776-3383-1. E-Book (PDF-Format) 19,90 Euro. ISBN 978-3-7776-3569-9.

Zu Depressionen liegen zahlreiche Bücher vor, sie spiegeln die Bedeutung und Häufigkeit dieser Störung und Krankheit wider. Einteilung und Klassifikation erfolgen standardgemäß nach ICD-10, aktuell ICD-11 und DSM-5. Dies ist formal-schematisch, relativ abstrakt. Klinisch-deskriptiv sind deshalb praxisorientierte Depressionsformen üblich, als Beispiele seien agitiert-ängstliche, hypochondrisch-somatisierte, larvierte, gereizte Depression, „Umzugsdepression“ „gehetzte“ oder „selbstquälerische Depression“ (nach Leonhard) genannt. In jüngerer Zeit wurde auch eine weitgehend tabuisierte „männliche Depression“ („vom Dauerstress zur Depression“) mit empirischen Erhebungsdaten beschrieben. Die Autorin legt nun ein Aufklärungsbuch über das „übersehene Leiden“ der hochfunktionalen Depression vor.

Auf knapp 200 Seiten wird zunächst das klinische Bild der sogenannten hochfunktionalen Depression definiert und beschrieben. Diese oft „übersehenen“ Patienten sind im Sinne einer „smiling depression“ nicht primär niedergeschlagen-depressiv, sondern hoch engagiert mit starkem Leistungswillen, hohem Selbstanspruch, hoch belastbar, eher hyperaktiv und überfordern sich. Ähnlich zur „männlichen Depression“ besteht ein Gereiztsein und oft ein (Alkohol-)Abusus. Auslöser der für viele überraschend auftretenden Depression ist oft Verlust von Anerkennung. Persönlichkeitszüge spielen eine Rolle, ätiopathogenetisch werden kompetent epigenetische Faktoren aufgezeigt.

Bemerkenswert ist das Kapitel „Psychotherapie: Risiken und Nebenwirkungen“. Die klinisch erfahrene Autorin moniert hier die starke Defizitorientierung gängiger Psychotherapien und der Überbetonung bzw. Zentrierung auf Kindheit und Traumatisierung sowie die empirisch nicht validierten Langzeitpsychotherapien. Im Kapitel „Was hilft“ wird dargelegt, dass nach ihrer Erfahrung eine Ressourcenorientierung zielführend ist – gerade hochfunktional, leistungsorientierte, depressive Patienten verfügen zumeist über große Ressourcen, die als Bewältigungsstrategien genutzt werden können. Kognitive Verhaltenstherapie steht an erster Stelle, aber auch Entspannungsverfahren, Achtsamkeitsmeditation, Mindfulness-Based-Stress Reduction (MBSR; „achtsamkeitsbasierte Stressreduktion“), Akzeptanz- und Commitmenttherapie sowie ressourcenorientierte Psychotherapie sind geeignet, die Resilienz zu stärken.

Der Abschnitt „Bittere Pillen? Ein Plädoyer für Antidepressiva“ ist absolut kompetent geschrieben, beschreibt auch die neueren Befunde zu Neuroplastizitätseffekten der Antidepressiva und zu Hormon- und Stressbefunden. Bei Rückfällen droht als erstes die Gefahr, sich zu überfordern, auf Frühwarnzeichen sei zu achten (dysfunktionales Verhalten, „Hamsterrad“). Empfohlen werden ein gesunder Lebensstil, eine adäquate Work-Life-Balance, soziale Beziehungen, eine rezidiv-prophylaktische Medikation und fachärztliche Kurzkontakte pro Quartal. Beschrieben ist auch ein Selbsttest.

Abschließend wird die gute Prognose betont – hohe Leistungsbereitschaft, Ehrgeiz, die Fähigkeit, sich gut zu strukturieren und die geistige Flexibilität sind bei hochfunktionalen Depressionen ausgesprochen gute Ressourcen. Gesellschaftlich-familiäre Veränderungen (Erziehungsstile, Einzelkind-Konstellation, angemessener Umgang mit digitalen Medien) sollten berücksichtigt werden. Die Autorin plädiert als präventive Ressourcen für die „modifizierten Sekundärtugenden“ gesunde Leistungs- und Anstrengungsbereitschaft, Verlässlichkeit, Durchhaltevermögen (Erleben von Frust), gewisse Ordnungsliebe und Höflichkeit.

Im Anhang finden sich Links und ein Glossar.

Insgesamt liegt ein sehr gut lesbares, erfreulich direkt und offen formuliertes Taschenbuch aus der Praxisrealität vor, dem ein breiter Leserkreis zu wünschen ist.

Psychopharmakotherapie 2024; 31(06):222-222