Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen

Offene Studie mit historischer Kontrollgruppe als Basis für eine NMOSD-Arzneimittelzulassung?


Dr. Thomas M. Heim, Freiburg

Mit Eculizumab und Ravulizumab stehen seit Kurzem zwei intravenös zu applizierende C5-Komplement-Inhibitoren zur Behandlung Aquaporin-4-IgG-Antikörper-positiver Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (AQP4-AK+ NMOSD) zur Verfügung. In einer Pro-Kontra-Debatte beim DGN-Kongress 2023 diskutierten namhafte Experten, ob das sehr ungewöhnliche Studiendesign der zulassungsrelevanten Studie zu Ravulizumab angemessen war.

Ravulizumab bindet am selben Epitop der Komplementkomponente 5 wie Eculizumab. Die beiden Moleküle unterscheiden sich nur in vier Aminosäuren. Das, so Dr. med. Vivien Häußler, Neurologie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, habe zur Folge, dass die Halbwertszeit von Ravulizumab viermal länger ist und daher statt alle zwei Wochen nur alle acht Wochen infundiert werden muss. Eculizumab wurde im September 2019 als erstes Medikament zur Behandlung von AQP4-AK+ NMOSD zugelassen. Die Zulassung von Ravulizumab folgte im Mai 2023.

Grundlage der Zulassung von Eculizumab war die randomisierte, Placebo-kontrollierte Doppelblindstudie PREVENT [2]. Bei Ravulizumab stützte sich der Zulassungsantrag auf eine offene Phase-III-Studie mit externem Komparator. In dieser Studie namens CHAMPION-NMOSD [3] wurden 58 NMOSD-Kranke mit Ravulizumab behandelt. Als Komparator diente der Verlauf in der Placebo-Gruppe von PREVENT. Ravulizumab zeigte Häußler zufolge eine deutliche Überlegenheit über Placebo hinsichtlich Überleben und Schubrate. Die Ergebnisse seien mit denen unter Eculizumab in PREVENT vergleichbar, sowohl hinsichtlich primärer und sekundärer Endpunkte als auch der Sicherheit. Allerdings, so schränkte Häußler ein, unterschieden sich PREVENT und CHAMPION-NMOSD in einigen Punkten, beispielsweise bei den Einschlusskriterien und der Demographie.

Hohes Risiko für Selektions- und Detektionsbias

„Das war sehr ungewöhnlich, dass so ein Studiendesign zu einer Zulassung geführt hat“, merkte Prof. Dr. med. Corinna Trebst, Medizinische Hochschule Hannover an. Ein grundlegendes Problem sah die Expertin in der fehlenden Verblindung, die mit einem hohen Risiko für Selektions- und Detektionsbias einhergehe. Ein weiterer Schwachpunkt sei die fehlende Randomisierung und die damit mangelnde Adjustierung für Baseline-Charakteristika und potenzielle Kovariaten. In der historischen Kontrollgruppe, der Placebo-Gruppe aus PREVENT, sei die Krankheitslast erheblich größer gewesen als in der Verum-Gruppe von CHAMPION-NMOSD. Schaue man sich die Placebo-Gruppe aus PREVENT näher an, dann sehe man dort unter anderem eine höhere jährliche Schubrate, deutlich mehr Myelitiden und häufigere begleitende Immuntherapien als bei den in CHAMPION-NMOSD mit Ravulizumab behandelten Patienten. Ein grundsätzliches Problem einer historischen Kontrollgruppe sei, dass man dabei verschiedene Zeiträume mit unterschiedlichen therapeutischen Möglichkeiten vergleiche. So hätten beispielsweise in der PREVENT-Placebo-Gruppe zu Studienbeginn noch mehr als die Hälfte der Teilnehmenden Azathioprin erhalten, in der Ravulizumab-Gruppe von CHAMPION-NMOSD nur 22 % (Tab. 1). Einen weiteren Schwachpunkt von CHAMPION-NMOSD sah Trebst darin, dass in der Propensity-Score-Analyse zwar Region, Alter, Geschlecht, Komedikation, EDSS(Expanded disability status scale)-Ausgangswert und Schubrate in den letzten 24 Monaten berücksichtigt waren, aber nicht die Schwere und Lokalisation der vorherigen Schübe.

Tab. 1. Immunsuppressive Vorbehandlung bei Studienbeginn in der CHAMPION-NMOSD (Behandlung mit Ravulizumab) und in der Placebo-Gruppe der PREVENT-Studie, die in CHAMPION-NMOSD als externer Komparator diente [3]

Immunsuppressive Therapie vor Studieneinschluss

CHAMPION-NMOSD
(Ravulizumab) (n = 58)

PREVENT-Placebo-
Gruppe (n = 47)

SMD

Azathioprin

13 (22,4 %)

26 (55,3 %)

–0,72

Ciclosporin/Tacrolimus

1 (1,7 %)

3 (6,4 %)

–0,24

Glucocorticoide

29 (50,0 %)

30 (63,8 %)

–0,28

Cyclophosphamid

0 (0 %)

5 (10,6 %)

Intravenöse Immunglobuline

1 (1,7 %)

2 (4,3 %)

–0,15

Methotrexat

0 (0 %)

5 (10,6 %)

Mitoxantron

1 (1,7 %)

3 (6,4 %)

–0,24

Mycophenolatmofetil

7 (12,1 %)

15 (31,9 %)

–0,49

Satralizumab

1 (1,7 %)

0 (0 %)

SMD = Standardisierte mittlere Differenz


Eingeschränkte Möglichkeiten bei seltener Erkrankung

Prof. Dr. Ingo Kleiter, Marianne-Strauß-Klinik, Berg am Starnberger See, erklärte, was aus seiner Sicht bei CHAMPION-NMOSD zum Abweichen vom Goldstandard, der randomisiert kontrollierten Studie, geführt habe. Bei einer seltenen Erkrankung wie der NMOSD sei die Rekrutierung schwierig. Zu Studienbeginn sei zudem keine zugelassene Vergleichstherapie verfügbar und somit keine Head-to-Head-Studie möglich gewesen. Eine Placebo-Kontrolle sei wiederum aus ethischen Gesichtspunkten nicht vertretbar gewesen, da die positiven Ergebnisse aus PREVENT zur Wirksamkeit von Eculizumab bereits vorlagen. Trebsts Kritik am Studiendesign von CHAMPION-NMOSD hielt Kleiter nur für teilweise berechtigt. Immerhin habe man ähnliche Einschlusskriterien und den gleichen primären Endpunkt verwendet wie in PREVENT und der höhere EDSS in PREVENT erkläre sich durch die höhere Anzahl an Myelitiden. Die Vermutung, dass Myelitiden mit einem erhöhten Schubrisiko einhergehen, habe sich aber nicht bewahrheitet. Auch die Schubrate in den letzten zwei Jahren habe offenbar nur ein geringes prädiktives Gewicht, sodass die Einschlusskriterien entsprechend verbreitert werden könnten.

Sind Plattformstudien die Zukunft?

Grundsätzlich wäre laut Kleiter ein Studiendesign denkbar gewesen, das auf den Nachweis der Nichtunterlegenheit von Ravulizumab gegenüber Eculizumab abzielt, so wie es bereits in einer Studie zur paroxysmalen nächtlichen Hämoglobinurie realisiert wurde [1]. Um eine ausreichende Power zu erreichen, hätte das aber 8600 Teilnehmende erfordert. „Für seltene Erkrankungen brauchen wir neue‚ ‚pragmatische‘ Studiendesigns“, forderte Kleiter. Ein vielversprechender Ansatz seien Plattformstudien mit zufälliger Zuordnung der Teilnehmenden zu verschiedenen Therapien. Im Verlauf könnten Zwischenanalysen erfolgen und Behandlungsarme flexibel beendet oder neu hinzugefügt werden. Ein vorbildliches Beispiel dafür sei die Plattformstudie RECOVERY (Randomized evaluation of COVID-19 therapy), z. B. [4].

Quelle

Dr. med. Vivien Häußler, Hamburg, Prof. Dr. med. Corinna Trebst, Hannover, Prof. Dr. med. Ingo Kleiter, Berg am Starnberger See. DGN-Forum „Arena: Studien kritisch betrachtet“, 9. November 2023, 96. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, Berlin (Online on demand auf www.dgnvirtualmeeting.org).

Literatur

1. Lee JW, et al. Ravulizumab (ALXN1210) vs eculizumab in adult patients with PNH naive to complement inhibitors: the 301 study. Blood 2019;133:530–9.

2. Pittock SJ, et al. Eculizumab in aquaporin-4-positive neuromyelitis optica spectrum disorder. N Engl J Med 2019;381:614–25.

3. Pittock SJ, et al. Ravulizumab in aquaporin-4-positive neuromyelitis optica spectrum disorder. Ann Neurol 2023;93:1053–68.

4. RECOVERY Collaborative Group; Dexamethasone in hospitalized patients with Covid-19. N Engl J Med 2021;384:693–704.

Psychopharmakotherapie 2024; 31(01):23-33