ADHS im Erwachsenenalter

Multimodale Therapie und deren praktische Umsetzung


Abdol A. Ameri, Weidenstetten

Erwachsene mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sind zum einen durch die Kernsymptome und zum anderen durch häufige koexistierende, psychische Störungen in mehreren Lebensbereichen beeinträchtigt. Eine leitliniengerechte Behandlung setzt auf die Linderung der Kernsymptome durch eine Pharmakotherapie, eingebettet in ein Gesamtkonzept mit Psychoedukation, Psychotherapie und weiteren psychosozialen Maßnahmen. Die Optionen wurden bei einem von Medice veranstalteten Symposium im Rahmen des DGPPN-Kongresses 2023 diskutiert.

ADHS zeichnet sich durch eine komplexe Symptomatik aus, die bei einem Großteil der betroffenen Kinder und Jugendlichen bis ins Erwachsenenalter persistiert [1]. Nach der aktuell gültigen S3-Leitlinie von 2017 basiert das Management der ADHS auf einem individualisierten, multimodalen therapeutischen Gesamtkonzept – unter Berücksichtigung der Symptomschwere, Komorbiditäten und Präferenzen der Betroffenen [1]. Eine medikamentöse Therapie sollte von psychoedukativen, psychotherapeutischen und psychosozialen Maßnahmen flankiert werden. Neben dem Zulassungsstatus sind die erwünschte Wirkdauer, das zu erwartende Wirkprofil und das Nebenwirkungsprofil wesentliche Kriterien für die Wahl der medikamentösen Therapie [1]. Bei Erwachsenen mit ADHS sollen initial Stimulanzien, wie Methylphenidat (MPH), oder Atomoxetin eingesetzt werden.

Individuelle Dosisanpassung passend zur Lebenssituation

Mit retardiertem MPH (Medikinet® adult) steht eine speziell für die adulte ADHS zugelassene Therapieoption zur Verfügung, die bereits in niedrigen Dosisbereichen zu einer über bis zu 16 Stunden anhaltenden Symptomlinderung führen kann [2]. Das MPH-Präparat ist in sieben verschiedenen Dosisstärken (5, 10, 20, 30, 40, 50 und 60 mg) erhältlich, was die individuelle Dosisfindung erleichtert. Es besteht jeweils zur Hälfte aus schnell und verzögert freizusetzendem Wirkstoff [2]. Durch die Möglichkeit zur zweimal täglichen Einnahme ermöglicht es den Patienten ein hohe Flexibilität im Alltag. Nach optimaler medikamentöser Einstellung des Vormittags kann der Patient bei Bedarf mit oder nach dem Mittagessen eine zweite Kapsel (gegebenenfalls in einer niedrigeren Wirkstärke) einnehmen, um auch am Nachmittag von der Symptomreduktion zu profitieren. „Wichtig ist, dem Patienten zu erklären, dass das Präparat gezielt eingenommen werden kann, um eine verbesserte Fokussierungsfähigkeit des Gehirns zu erreichen“, erläuterte Dr. Carolin Zimmermann, München.

Seit Kurzem ist MPH auch als Matrixtablette (Kinecteen®) mit 25 % schnell und 75 % verzögert freigesetztem Wirkstoff zur Initialtherapie von Erwachsenen mit ADHS zugelassen [3]. Die Matrixtablette löst sich langsam auf, was nach morgendlicher Einnahme eine über 10 bis 12 Stunden anhaltende Symptomkontrolle ermöglicht [3].

Schnell freisetzende MPH-Präparate sind für Erwachsene nicht zugelassen, unterstrich die Nervenärztin. Retardiertes MPH werde von ihren Patienten im Allgemeinen gut vertragen. Bei Appetitstörungen sei es ratsam, vor der Arzneimitteleinnahme zu essen. Schlafstörungen lassen sich durch die Einnahme retardierter MPH-Präparate in der ersten Tageshälfte weitgehend verhindern. Im Falle eines Blutdruckanstiegs sei eine Dosisreduktion und gegebenenfalls eine antihypertensive Behandlung in Erwägung zu ziehen.

Psychiatrische Komorbiditäten: eher die Regel als die Ausnahme

Für die Therapieplanung ist entscheidend, ob zusätzlich zur ADHS eine psychiatrische Komorbidität wie Depression und Angststörungen vorliegt. Eine aktuelle Metaanalyse ergab, dass Patienten mit ADHS ein 4,5-fach höheres Risiko für die Entwicklung einer Depression haben als Personen ohne ADHS (Odds-Ratio [OR] 4,51; 95%-Konfidenzintervall [KI] 2,44–8,34]. Das Risiko für Angststörungen ist nahezu 5-fach erhöht (OR 4,95; 95%-KI 3,29–7,4 [4]. Deshalb ist es laut Zimmermann essenziell, bei Menschen mit ADHS auf das mögliche Vorliegen von psychiatrischen Komorbiditäten zu achten. Im Praxisalltag sei die Verwendung von Fragebögen eine effiziente Möglichkeit, depressive Symptome, Angststörungen, Suchtanamnese und sonstige Störungen abzufragen.

Im Rahmen einer modernen, multimodalen Therapie der ADHS kann die Verordnung von digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) die herkömmliche Face-to-Face-Psychotherapie sinnvoll ergänzen, so Prof. Dr. Stephan Köhler, Berlin. DiGA sind nicht zur Überbrückung der Wartezeiten auf Psychotherapie geeignet, sondern könnten im Rahmen eines Blended-Care-Ansatzes parallel zur bestehenden Therapie und zur Verhinderung von Rezidiven verwendet werden – unabhängig vom Behandlungsort und Öffnungszeiten.

Quelle

Dr. Carolin Zimmermann, München, Prof. Dr. Stephan Köhler, Berlin, Satellitensymposium „Blickpunkt ADHS: Perfect Match?! Medikamentöse Therapie und DiGA“, veranstaltet von Medice im Rahmen des DGPPN-Kongresses 2023, Berlin, 1. Dezember 2023.

Literatur

1. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. (DGKJP); Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN). S3-Leitlinie „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter“, AWMF-Registernummer 028-045.

2. Fachinformation Medikinet® adult, aktueller Stand.

3. Fachinformation Kinecteen®, aktueller Stand.

4. Hartman CA, et al. Anxiety, mood, and substance use disorders in adult men and women with and without attention-deficit/hyperactivity disorder: A substantive and methodological overview. Neurosci Biobehav Rev 2023; 151:105209.

Psychopharmakotherapie 2024; 31(01):23-33