Amyotrophe Lateralsklerose (ALS)

Ravulizumab als Komplementsystem-Inhibitor gegen ALS


Annika Harsch, Stuttgart

Patienten mit amyotropher Lateralsklerose weisen häufig erhöhte Plasmakonzentrationen der Komplementkomponente C5 auf. In einer Studie wurde nun die Wirksamkeit und Sicherheit des monoklonalen Antikörpers Ravulizumab, der eine hohe Affinität für C5 aufweist, untersucht. Sie zeigt, dass eine C5-Inhibition im Vergleich zu Placebo keinen Einfluss auf die Krankheitsprogression bei ALS-Patienten hat.

ALS geht mit einer starken Bewegungseinschränkung bis hin zu Lähmungen der Atemmuskulatur und Atemnot einher, ausgelöst durch eine Rückbildung der Motoneuronen im Rückenmark und im Gehirn. Während die US Food and Drug Administration (FDA) die Zulassung dreier Arzneimittel für die ALS-Therapie genehmigt hat, ist in Deutschland lediglich das Arzneimittel Riluzol zugelassen [1], das das Fortschreiten der ALS allerdings nur verlangsamen kann. Die Pathogenese von ALS ist noch nicht ausreichend erforscht, jedoch deuten Studien der letzten Jahre vermehrt an, dass eine Dysregulation des Immunsystems und Neuroinflammation an der Entstehung von ALS beteiligt sind [4]. Da die Plasmakonzentrationen der Komplementkomponente C5 und dessen Spaltprodukte C5a und C5b bei ALS-Patienten erhöht sind, wird vermutet, dass das Komplementsystem der angeborenen Immunantwort eine Schlüsselrolle in der ALS-Pathogenese spielt. Als möglicher Wirkstoff wurde daher der monoklonale Antikörper Ravulizumab herangezogen, der bereits für andere Indikationen wie paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie (PNH) zugelassen ist [2] und eine hohe Affinität für C5 besitzt. In der klinischen Phase-III-Studie CHAMPION (Changing paradigms in complement inhibition)-ALS wurde die Sicherheit und Wirksamkeit von Ravulizumab bei ALS untersucht (Tab. 1).

Tab. 1. Studiendesign von CHAMPION-ALS [Genge et al. 2023]

Erkrankung

Amyotrophe Lateralsklerose (ALS)

Studienziel

Wirksamkeit und Sicherheit von Ravulizumab

Studiendesign/
-phase

Interventionsstudie, multinational, randomisiert, doppelblind, Placebo-kontrolliert, parallel, Phase III

Eingeschlossene Patienten

382

Intervention

2 : 1-Randomisierung:

  • Ravulizumab i. v. alle 8 Wochen + Standardtherapie (n = 255)
  • Placebo + Standardtherapie (n = 127)

Wichtige Einschlusskriterien

  • ALSFRS-R-Prognosewert von mindestens –0,3 Punkten pro Monat
  • in den ersten 36 Monaten nach Krankheitsausbruch
  • SVC ≥ 65 %
  • unabhängig von Beatmungsunterstützung

Primärer Endpunkt

Veränderung des ALSFRS-R-Werts gegenüber dem Ausgangswert in Woche 50, basierend auf dem CAFS

Wichtige sekundäre Endpunkte

  • Zeit des Überlebens ohne Beatmungsunterstützung
  • Veränderung der SVC im Vergleich zum Ausgangswert

Sponsor

Alexion

Studienregister-Nr.

NCT04248465 (ClinicalTrials.gov)

ALSFRS-R: Revised Amyotrophic Lateral Sclerosis Functional Rating Scale; CAFS: Combined Assessment of Function and Survival; i. v.: intravenös; SVC: slow vital capacity

Infokasten: ALSFRS-R und CAFS

Revised Amyotrophic Lateral Sclerosis Functional Rating Scale (ALSFRS-R): Fragebogen zur Einstufung der Progression einer ALS-Erkrankung. Der Fragebogen besteht aus zwölf Fragen, wobei für jede Frage maximal vier Punkte erzielt werden können (0–48 Punkte; je höher die Punktzahl, desto besser der Gesundheitszustand des Patienten).

Combined Assessment of Function and Survival (CAFS): als Verbesserung des ALSFRS-R entwickelt. Neben der funktionellen Beeinträchtigung wird auch das Überleben des Patienten berücksichtigt. Als kombinierter Endpunkt werden so auch Patienten miteinbezogen, die während der Behandlung versterben. Für die Ermittlung des CAFS wird das Studienergebnis jedes Patienten mit dem jedes anderen Patienten verglichen und mit einer Punktzahl versehen. Die Summe der Punktzahlen wird anschließend in eine Rangfolge gebracht und innerhalb der Behandlungsgruppen werden die Ränge gemittelt. Je höher der CAFS-Wert, desto besser war das Ergebnis der Behandlung in der jeweiligen Gruppe [3].

Studiendesign

Die Patienten waren im Median 58 Jahre alt, 60 % waren männlich. Sie wurden 2 : 1 randomisiert. Im Verum-Arm erhielten die Teilnehmer neben ihrer Standardtherapie Ravulizumab i. v., abhängig von ihrem Körpergewicht. Am ersten Tag wurde ein Einstiegsdosis (2400, 2700 bzw. 3000 mg) verabreicht, gefolgt von einer Erhaltungsdosis (3000, 3300 bzw. 3600 mg) an Tag 15, die schließlich alle acht Wochen über 42 Wochen hinweg verabreicht wurde. Im gleichen Intervall wurde die Placebo-Gruppe behandelt. Bei Patienten, die während der Behandlung eine Grenze von 40 kg Körpergewicht unterschritten, wurde die Dosis angepasst. Nachdem 103 Patienten den Kontrollbesuch in Woche 26 absolviert hatten, wurde eine Interimsanalyse durchgeführt.

Ergebnisse

Wirksamkeit

Bei der Interimsanalyse konnte kein signifikanter Unterschied zwischen den beiden Gruppen festgestellt werden (Tab. 2). Zusätzlich lag die Conditional Power (definiert als die Wahrscheinlichkeit, die Nullhypothese „Ravulizumab zeigt 50 Wochen nach Behandlung keine Wirkung im Vergleich zu Placebo“ zu verwerfen) bei < 0,1 %, wobei zu Beginn der Studie ein Grenzwert von 10 % festgelegt worden war. Die Studie wurde daher vom Sponsor aufgrund von Zwecklosigkeit frühzeitig abgebrochen.

Tab. 2. Wichtigste Studienergebnisse: Primärer Endpunkt in Woche 50 [Genge et al. 2023]

Endpunkt

Ravulizumab

Placebo

Differenz

Interimsanalyse

ALSFRS-R-Wert gegenüber Ausgangswert [Punkte]

–14,67 (SE 0,89);
95%-KI –16,42 bis –12,91

–13,33 (SE 1,22);
95%-KI –15,72 bis –10,93)

–1,34
(95%-KI –4,21 bis 1,53)

Primäranalyse

ALSFRS-R-Wert gegenüber Ausgangswert [Punkte]

–14,41 (SE 0,73)

–13,21 (SE 1,01)

–1,20 (SE 1,23);
95%-KI –3,62 bis 1,22; p = 0,33

CAFS [Punkte]

189,3 (SD 112,5)

195,8 (SD 106,44)

5,5;
95%-KI –15,7 bis 26,6; p = 0,61

ALSFRS-R: Revised Amyotrophic Lateral Sclerosis Functional Rating Scale; CAFS: Combined Assessment of Function and Survival; KI: Konfidenzintervall; SD: Standardabweichung; SE: Standardfehler

Auch für den primären und für die beiden wichtigsten sekundären Endpunkte der Studie konnte keine Verbesserung erzielt werden.

Sicherheit

Für die Anzahl unerwünschter Ereignisse (UE) konnte kein Unterschied zwischen der Ravulizumab- und der Placebo-Gruppe festgestellt werden. Behandlungsinduzierte UE wurden bei 80 % in der Ravulizumab- und bei 85 % in der Placebo-Gruppe festgestellt. Schwerwiegende behandlungsinduzierte UE traten bei 16 % der Ravulizumab- und bei 19 % der Placebo-Gruppe auf. Die häufigste schwerwiegende UE war Lungenversagen.

Fazit der Studienautoren

Entgegen den Erwartungen der Autoren deuten die Ergebnisse der Studie darauf hin, dass eine Inhibierung von C5 keinen Einfluss auf die Krankheitsprogression von ALS-Patienten hat. Limitierungen der Studie lagen unter anderem darin, dass lediglich Patienten ausgewählt wurden, die einen ALSFRS-R-Prognosewert von mindestens –0,3 Punkten pro Monat aufwiesen. Daher kann den Autoren zufolge keine Aussage darüber getroffen werden, wie die Ravulizumab-Therapie bei Patienten mit einer anderen Krankheitsprogressionsrate anschlagen würde.

Quelle

Genge A, et al., Efficacy and safety of ravulizumab, a complement C5 inhibitor, in adults with amyotrophic lateral sclerosis: a randomized clinical trial. JAMA Neurol 2023;e232851.

Literatur

1. European Medicines Agency (EMA). Rilutek: EPAR – Public assessment report und Product information EMA.

2. European Medicines Agency (EMA). Ultomiris: EPAR – Public assessment report und Product information EMA.

3. Miller BJD, et al. The combined assessment of function and survival (CAFS): a new endpoint for ALS clinical trials. Amyotroph Lateral Scler Frontotemporal Degener 2013;14:162–8.

4. Parker SE, et al. Revisiting the role of the innate immune complement system in ALS. Neurobiology of Disease 2019;127:223–32.

Psychopharmakotherapie 2023; 30(06):206-217