Lithiummangel im Trinkwasser? Postoperatives Delir! Abhängigkeit von Gabapentinoiden?


Prof. Dr. med. Jürgen Fritze, Pulheim

Derzeit quälen die kulminierenden, vielfältigen Gewalttätigkeiten von Menschen gegen Menschen und Natur. Was können Psychiater und Psychotherapeuten dagegen ausrichten? Und die Psychopharmakotherapie? Die suizidpräventive Wirkung von Lithium gilt als etabliert [3]. Ökologische Studien zeigten eine inverse Assoziation zwischen Lithium im Trinkwasser und suizidalem Verhalten (z. B. [4]), weshalb die Lithium-Anreicherung des Trinkwassers als suizidpräventive Maßnahme vorgeschlagen wurde [2]. Es erscheint unplausibel anzunehmen, dass Lithium ausschließlich und spezifisch antisuizidal oder antiautoaggressiv wirkte. Tatsächlich zeigen ökologische Studien auch inverse Assoziationen zwischen Lithium im Trinkwasser und heteroaggressivem Verhalten [7]. Schon 1976 zeigte eine randomisierte kontrollierte Studie (RCT) [8], dass Lithium im Vergleich zu Placebo gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Häftlingen eines amerikanischen Gefängnisses minderte. Adeel et al. [1] haben kürzlich weltweite Daten zu den Konzentrationen von Lithium u. a. im Trinkwasser publiziert – leider sehr lückenhaft: keine Daten zu Russland, keine Daten zum nahen Osten. Die Idee dürfte aber angesichts der Komplexität der Entstehungsbedingungen (z. B. [6]) von Gewalttätigkeit zu schlicht sein, auch wenn der Aggression neuronale Regelkreise zugeordnet werden können (z. B. [5]). Gleichzeitig wirken die Entstehungsbedingungen erschreckend schlicht: In der Regel Männer im fortgeschrittenen Alter entfesseln bei in der Regel jungen Männern archaische Aggressionsbereitschaften (u. a. Territorialkampf, Hordenkohäsion verbunden mit Ostrazismus), wobei und obwohl Gewalttätigkeit letztendlich für das – junge – Individuum regelhaft maladaptiv ist. Was also können Psychiater und Psychotherapeuten dagegen ausrichten? Ohne sich auf die Behandlung der resultierenden posttraumatischen Belastungsstörungen zu reduzieren?

Psychische Störungen bis hin zum Delir nach Operationen und unter intensivmedizinischer Behandlung sind außerordentlich häufig mit – abgesehen vom fortgeschrittenen Alter – vielfältigen Risikofaktoren. Diese psychischen Störungen verschlechtern die Prognose der zugrunde liegenden somatischen Krankheiten und beeinträchtigen auch langfristig die Lebensqualität der Patienten, dies auch erlebnisreaktiv. Psychiaterinnen und Psychiater dürften überwiegend nur im Konsiliardienst damit befasst werden, und dies vermutlich ohne auf breite Erfahrungen zurückgreifen zu können. Denn dieses Feld scheint seit Jahrzehnten im Wesentlichen dem Gebiet der Anästhesiologie und Intensivmedizin überlassen worden zu sein. Desto wichtiger ist, dass Psychiaterinnen und Psychiater für den Konsiliardienst zumindest theoretisch gewappnet sind. Krampe et al. aus der Arbeitsgruppe von Claudia Spies aus der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin der Berliner Charité geben eine umfassende Übersicht über pharmakologische und nichtpharmakologische Therapie- und Präventionsoptionen. Die Evidenzen für – rein symptomatisch wirkende – pharmakotherapeutische Maßnahmen sind begrenzt, insbesondere Haloperidol wird in der Praxis überdosiert, der längerfristige Patienten-Nutzen bleibt fraglich. Viele Risikofaktoren sind grundsätzlich insbesondere präventiven Maßnahmen zugänglich. Seit Jahrzehnten verfolgt Claudia Spies ihre Mission, Evidenz für nichtpharmakologische Interventionen zu generieren. Danke dafür.

In PPT 2023;30(4) wurde von Lenz et al. eine Übersicht zu Pregabalin präsentiert. Udo Bonnet greift dies auf und erweitert die Perspektive auf alle Gabapentinoide von der Pharmakobiochemie bis zur klinischen Praxis, mit kritischer Diskussion der Debatte über Abhängigkeitspotenziale.

Und schließlich liefert die Rubrik „Referiert & kommentiert“ wieder einen bunten Themenmix zu Pharmakotherapiestudien aus Psychiatrie und Neurologie.

Literatur

1. Adeel M, et al. Global navigation of Lithium in water bodies and emerging human health crisis. npj Clean Water 2023;6:33. https://doi.org/10.1038/s41545-023-00238-w

2. Araya P, et al. Lithium in drinking water as a public policy for suicide prevention: relevance and considerations. Front Public Health. 2022;10:805774. doi: 10.3389/fpubh.2022.805774.

3. Del Matto L, et al. Lithium and suicide prevention in mood disorders and in the general population: A systematic review. Neurosci Biobehav Rev. 2020;116:142–53. doi: 10.1016/j.neubiorev.2020.06.017.

4. Eyre-Watt B, et al. The association between lithium in drinking water and neuropsychiatric outcomes: A systematic review and meta-analysis from across 2678 regions containing 113 million people. Aust N Z J Psychiatry. 2021;55(2):139–52. doi: 10.1177/0004867420963740. .

5. Fields RD. THE ROOTS OF HUMAN AGGRESSION: Experiments in humans and animals have started to identify how violent behaviors begin in the brain. Sci Am. 2019;320(5):65–71.

6. Haer R, et al. Analyzing the microfoundations of human violence in the DRC – intrinsic and extrinsic rewards and the prediction of appetitive aggression. Confl Health 2013;7:11. https://doi.org/10.1186/1752-1505-7-11

7. Kohno K, et al. Lithium in drinking water and crime rates in Japan: cross-sectional study. BJPsych Open. 2020;6(6):e122. doi: 10.1192/bjo.2020.63.

8. Sheard MH, et al. The effect of lithium on impulsive aggressive behavior in man. Am J Psychiatry. 1976;133(12):1409–13. doi: 10.1176/ajp.133.12.1409.

Psychopharmakotherapie 2023; 30(06):183-183