Gabapentinoide – Desensitisierer und GABA-Mimetika


Mechanismen, Hypothesen und Herausforderungen bezüglich einer klinisch noch nicht genügend erschlossenen gut verträglichen Substanzklasse

Udo Bonnet, Castrop-Rauxel/Essen

Die Substanzklasse der Gabapentinoide wird in jüngerer Zeit zunehmend in Hinblick auf ihr Schadens- bzw. Suchtpotenzial diskutiert. Dabei besteht das Risiko, dass ihr Nutzen aus dem Blick gerät. Für eine valide Beurteilung des Nutzen-Risiko-Profils sind vertiefende Studien nötig. Dieser Beitrag gibt einen kurzen Überblick über den Kenntnisstand und offene Forschungsfragen.
Schlüsselwörter: Gabapentinoide, Phenibut, Desensitisierung, Hyperalgesie, Entzugssymptome, Atemdepression
Psychopharmakotherapie 2023;30:199–205.

Mit großem Interesse habe ich die Übersichtsarbeit von Lenz et al. in PPT 2023;30(4) [34] mit Fokus auf Risiken und Nutzen von Pregabalin gelesen und möchte die darin erwähnte Aufforderung zu diesbezüglich mehr Forschung, jedoch erweitert auf alle Gabapentinoide, mit diesem Artikel unterstützen. In Deutschland umfassen die Gabapentinoide (GPT) zusätzlich zu Pregabalin auch Gabapentin und es gibt gute Hinweise darauf, dass auch das nicht verschreibungsfähige „Nahrungsergänzungsmittel“ Phenibut dazugehört (Abb. 1; Tab. 1). In der Sorge, dass die Substanzklasse der Gabapentinoide zunehmend in Misskredit gerät, da deren Schadens- bzw. Suchtpotenzial überbewertet und deren Nutzen deshalb nicht weiter beachtet bzw. weiter erforscht wird, möchte ich hier einige ergänzende Informationen präsentieren und Anmerkungen machen.

Abb. 1. Gabapentinoide (GPT)

Tab. 1. Liste der zugelassenen Gabapentinoide (GPT) nach Ländern* [7 ,11, 14, 19, 32, 33]

Gabapentinoid

Erstzulassung

Länder und Indikationen

tmax

Bioverfügbarkeit

t½

KD

Phenibut

1965

Länder der ehemaligen Sowjetunion: Nootropikum, Alkoholentzugssymptome, verschiedene neurotische Symptome, Anxiolyse, Insomnie, Beruhigung/Sedierung, Muskelrelaxation. Analgesie, Epilepsie

3–4 h

ca. 65 %

5–6 h

21 ± 7 μM

(schwächste Bindung von allen GPT)

[32, 33]

Gabapentin

1994

Die meisten Länder: fokale Epilepsie mit und ohne sekundäre Generalisierung, neuropathische Schmerzen (diabetische Neuropathie, Post-Zoster-Neuralgie, Phantomschmerzen)

3–4 h

Dosisabhängig, intestinaler Sättigungsmechanismus

5–6 h

0,05 ± 0,01 μM

[32, 33]

Pregabalin

2004

Die meisten Länder: fokale Epilepsie mit und ohne sekundäre Generalisierung, neuropathische Schmerzen (diabetische Neuropathie, Post-Zoster-Neuralgie, Phantomschmerzen)

Europa: generalisierte Angststörung

USA: Fibromyalgie

≤ 1 h

> 90 %

6–7 h

Ähnlich wie bei Gabapentin, dissoziiert aber langsamer als Gabapentin von den α2δ1- und α2δ-2-Untereinheiten der Voltage gated calcium channels (VGCC) [15]

Gabapentin-Encarbil (Extended-Relase Prodrug von Gabapentin)

2016

USA: primäre Restless Legs, Post-Zoster-Neuralgie

Japan: primäre Restless Legs

5–8 h

60 % (nüchtern) bis 80 % (beim Essen eingenommen)

5–8,5 h

Wie Gabapentin

Mirogabalin

2019

Japan: neuropathische Schmerzen (diabetische Neuropathie, Post-Zoster-Neuralgie)

1 h

> 85 %

2–5 h

Ähnlich wie Gabapentin, dissoziiert aber noch langsamer als Pregabalin von den α2δ1- Untereinheiten (längste Bindung von allen GPT hier und dadurch theoretisch stärkste analgestische Potenz von allen GPT) [15, 20, 12]

*vorbehaltlich individueller Regelungen in anderen Ländern

tmax: Zeit von der oralen Einnahme bis zum Erreichen der maximalen Konzentration im Blut; t1/2: Eliminationshalbwertszeit: KD: Dissoziationskonstanten bei α2δ-1/2-Untereinheiten


Definition der Substanzklasse

Pharmakologisch werden GPT durch ihre Eigenschaft definiert, an die Alpha-2-delta(α2δ)-Untereinheiten von präsynaptischen, spannungsabhängigen Calciumkanälen (Voltage-gated calcium channel: VGCC) zu binden (Infokasten 1). Dadurch wird die VGCC-vermittelte Exozytose von Neurotransmittern aus ihren Vesikeln in den synaptischen Spalt behindert. Da die Ausschüttung der Neurotransmitter hauptsächlich von der neuronalen Aktivität des präsynaptischen Neurons (und auch von der Dichte aktivierter VGCC in der Präsynapse) abhängt, entsteht dadurch eine Filterung der Informationsweiterleitung; bei exzitatorischen Synapsen wirkt sich das als Bremsung der neuronalen Aktivität im postsynaptischen Neuron aus [7, 14, 20].

Infokasten 1. Bindung von Gabapentinoiden an α2δ-Untereinheiten

Gabapentinoide binden an die α2δ-1- und α2δ-2-Transkripte. Das α2δ-1-Transkript wird primär in der Präsynapse von (meistens glutamatergen) exzitatorischen Synapsen, z. B. bei Spinalganglien-(DRG[dorsal root ganglion]-)Neuronen, exprimiert. Das α2δ-2-Transkript findet sich dagegen eher bei (meistens GABAergen) inhibitorischen Synapsen [20].

Wanderung der α2δ-Untereinheiten und neuroplastische Sensitisierung – Desensitisierung

In spinalen Neuronen wurde gefunden, dass α2δ-Untereinheiten intrazellulär von deren Entstehungsort (endoplasmatisches Retikulum/Golgi-Apparat) über Transportvesikel oder Recycling-Endosomen zu einem präsynaptischen VGCC-Komplex wandern (Trafficking). Durch ihr Andocken stabilisieren die α2δ-Untereinheiten den VGCC-Komplex und fördern dadurch dessen Aktivität („auxiliäre“ α2δ-Untereinheiten) [20], was zur aktivitätsabhängigen Ausschüttung von Neurotransmittern führt. Speziell können die α2δ-Proteine auf diesem Wege auch bei glutamatergen NMDA(N-Methyl-D-aspartat)-Rezeptoren andocken und dadurch (nach intrazellulärem – transmembranösem – transsynaptischem Trafficking) exzitatorische Synapsen (postsynaptisch) noch empfindlicher für neuronale Inputs machen (Sensitisierung) (Infokasten 2) [9, 16, 26]. GPT wären in diesem Kontext also Desensitisierer an exzitatorischen Synapsen (und damit auch von deren neuroplastischer Langzeit-Potenzierung [LTP]), ähnlich wie beispielsweise auch für Ketamin [27] beschrieben.

Infokasten 2. Sensitisierung

Sensitisierung – auch als Sensitivierung oder Sensibilisierung bezeichnet – beschreibt einen neuroassoziativen Lernvorgang, bei dem die wiederholte Anwendung eines Stimulus zu einer progressiven Verstärkung der Antwort führt (Erhöhung der Reaktionsbereitschaft bzw. Senkung der Reaktionsschwelle).

Hyperalgesie, „Wanting“, Entzugssymptome, besondere Neigung von Opiatabhängigen zur GPT-Einnahme und Atemdepression

GPT können offenbar klinische Phänomene abschwächen, die auf der Hypersensitisierung verschiedener (oft monoaminerger – hier insbesondere exzitatorischer und opioiderger) Rezeptoren/Netzwerke zu beruhen scheinen. Im Übrigen kann Hypersensitisierung auch als ein Mechanismus der Chronifizierung von Beschwerden verstanden werden. Die Rolle der CACNA2D1-Gene, die α2δ-1- und α2δ-2-Proteine kodieren [20], dürfte hier ein interessantes Forschungsfeld eröffnen. So ist zum Beispiel denkbar, dass der Expressionslevel dieser Proteine, den (kritischen) Sensitisierungs- oder oxidativen Stresszustand einer Synapse anzeigt. Inzwischen sind für CACNA2D1-Gene Assoziationen mit einigen zur Chronifizierung neigenden schweren neuropsychiatrischen Störungen wie Epilepsie, Autismus, Depression, bipolare Störung und Schizophrenie gefunden worden [1].

Als Beispiele für „mildere Hypersensitisierungs-Syndrome“ könnten gelten:

  • Periphere und zentrale Sensitisierung chronischer Schmerzen (Hyperalgesie),
  • Opioid-induzierte Hyperalgesie (auch Motiv für die Selbstbehandlung von Opiatabhängigen mit GPT),
  • Entzugssymptome (u. a. Cannabis-, Alkohol- und Opiat-Entzugssymptome; auch Motiv für die Selbstbehandlung von Suchterkrankungen mit GPT)
  • Somatoforme bzw. funktionelle Störungen, chronischer Pruritus und im Tierexperiment auch biologische Korrelate der Suchtentwicklung, sog. „behavioral sensitization“ im Belohnungssystem („Wanting“; [9]).
  • Generalisierte Angststörung und Depersonalisationserleben (mentales Fatigue?)

Auch wenn gut kontrollierte Studien zum Einsatz von GPT bei diesen „milderen Hypersensitisierungs-Syndromen“ kaum durchgeführt wurden (Ausnahmen: generalisierte Angststörung, chronische neuropathische Schmerzen [29, 39, 44] und Alkoholentzugssymptome [2, 18]), weist der oft kritisierte [28] und häufige Off-Label-Einsatz von GPT auch bei Opioid-induzierter Hyperalgesie, Entzugssymptomen und somatoformen Störungen etc. auch nach eigener Beobachtung auf eine gewisse Wirksamkeit hin. Selbst eine gesetzliche Regulierung der Verschreibung von Pregabalin und Gabapentin z. B. in England hat das diesbezügliche Verschreibungsverhalten der Hausärzte bisher kaum beeinflusst [30].

Aktuell wird besonders für µ-Opioid-Rezeptoren (MOR) die unter längerfristiger Dauerstimulation beobachtete „oppositionelle Toleranzentwicklung“ (Infokasten 3) als ein zentraler Mechanismus für Entzugssymptome sowie für die Opioid-induzierte Hyperalgesie diskutiert [6, 45]. Beide, sowohl die Opioid-bezogenen Entzugssymptome als auch die Opioid-induzierte Hyperalgesie, werden durch GPT und wohl auch Ketamin klinisch deutlich abgeschwächt [6, 40, 45]. Die Konsequenzen sind ein relatives „Einsparen“ von Opioiden, da eine gegenregulierende Dosissteigerung nicht mehr notwendig ist, und Anti-Hyperalgesie. Im Tierexperiment gibt es sogar erste Hinweise auf eine GPT-vermittelte Umkehr der Toleranz (reversed tolerance) [35]. Ein solcher Mechanismus (Abschwächung bzw. Umkehr der opiat-induzierten Toleranz gegen Atemdepression) würde die vermutete – aber präklinisch [24] wie klinisch [23, 44] noch nicht ausreichend validierte – vermehrte Inzidenz von Atemdepressionen und die damit verbundene Zunahme von Todesfällen bei solchen Opiatabhängigen erklären können, die gleichzeitig höhere GPT-Dosen konsumieren [35]. Ein diesbezügliches Problem scheint eher in Ländern mit einer „Opioid epidemic“ wie in Nordamerika, aber bisher nicht in Deutschland zu existieren [3].

Infokasten 3. Oppositionelle Toleranzentwicklung

Mit zunehmender Änderung der „Beanspruchung“ neuronaler Systeme inklusive zellmembranständiger oder transmembranöser Neurotransmitter-Rezeptoren kommt es zu Änderungen in der Plastizität dieser Systeme. In der Regel resultieren dynamische Anpassungsprozesse im Sinne der Homöostase/Allostase. Ein solcher Anpassungsprozess ist die oppositionelle Toleranz. Hier werden zelluläre/synaptische Gegenregulationsmechanismen aktiviert, die beispielsweise auf der Rezeptorebene bei zunehmender Stimulation zur Abnahme von deren Empfindlichkeit (Desensitisierung) und Down-Regulation (Abnahme ihrer Dichte auf der Zellmembran, ihrer Insertion, ihres Trafficking, ihrer Synthese und schließlich Abnahme der Transkription ihrer Komponenten sowie Zunahme ihrer Abbau/Recycling-Mechanismen) und ggf. zu Verschiebungen von synaptisch nach extrasynaptisch führen. Diese Gegenregulation können stimulations-, milieu- bzw. kontext-, system- und rezeptorabhängig zu mehr oder weniger ausgeprägten/dauernden „überschießenden“ Reaktionen führen, wenn die Stimulation schnell abnimmt oder – bei längeren („chronischen“) Aktivierungen – nicht zunimmt. Solche „überschießenden“ Reaktionen resultieren im Kern daraus, dass das betroffene „desensitisierte“ und „herunterregulierte“ Rezeptorsystem nicht mehr wie vorher funktioniert und im homöostatischen/allostatischen Sinne „Gegenspieler/Opponenten“ (z. B. bzgl. der neuronalen Aktivität: bei betroffenen inhibitorischen Elementen die exzitatorischen Mechanismen) relativ überaktiv agieren oder sogar „hypersensitiv“ geworden bzw. „heraufreguliert“ worden sind, bis sich die Homöostase/Allostase unter diesen Bedingungen erneut einstellt. Die Mikroglia soll bei diesen Anpassungen eine besondere Rolle spielen. Die oppositionelle Toleranz gilt als ein basaler Mechanismus, der die Ausprägung von Entzugssymptomen auf der Verhaltensebene mitbestimmt [51–54].

GABA-mimetische Wirkung, „Liking“, Sedierung, Entzugssymptome und Abdosierungsschema

Eine weitere, noch zu wenig beforschte Wirkung von GPT ist ihre Fähigkeit, dosisabhängig die extrasynaptische („ambiente“) extrazelluläre GABA-Konzentration im Hirngewebe zu erhöhen [9]. Es gibt frühe Hinweise auf eine aktivitätsabhängige GPT-vermittelte Zunahme der intrazellulären GABA-Synthese und Umkehr der Richtung des GABA-Transporters („GABA transporter reversal“) mit dem Resultat der Erhöhung der ambienten GABA-Konzentration [4, 43]. Ein Einfluss von GPT über Zytokine könnte auch beteiligt sein [31]. Darüber hinaus ist vor kurzem eine GPT-vermittelte Steigerung der Expression spezieller extrasynaptischer GABAA-Rezeptoren, die charakteristischerweise Delta-Untereinheiten enthalten, beschrieben worden [49]. Solche extrasynaptischen GABA-Rezeptoren haben definitionsgemäß keinen relevanten Einfluss mehr auf die oft „phasische“ synaptische Plastizität (z. B. die Langzeit-Depression [LTD] – mit Blick auf GABA); sie sollen eher in übergeordnete Funktionen von Neuronen-Verbänden involviert sein [17], die einen „tonischen“ Einfluss auf die Regulation der neuronalen Erregbarkeit/Plastizität, der Stimmung, des Schlafs, der Kognition und von Schmerzen (ebenfalls Anti-Hyperalgesie) haben [42, 43, 48].

Damit gehören GPT, obwohl sie nicht direkt an GABA-Rezeptoren binden können, tatsächlich auch zur Substanzklasse der GABA-Mimetika [6], die sich klinisch durch dosisabhängige Stimulierung, Euphorisierung/Angstlösung („Liking“) und Sedierung – aber auch rasche diesbezügliche Toleranzentwicklung – auszeichnen, im Übrigen alles Motive für eine eigenmächtige Dosissteigerung von GPT, nicht nur bei Opiatabhängigen [9]. Andere typische GABA-mimetische Phänomene sind Entzugssymptome, die Alkohol- und Benzodiazepin-Entzugssymptomen ähnlich sind – inklusive epileptischer Anfälle und Delirien, die für GPT inzwischen zuverlässig dokumentiert wurden [9]. Deshalb wird zum Beispiel in den aktuellen deutschen S3-Leitlinien zur Behandlung der Medikamentenabhängigkeit eine sukzessive Dosisreduktion beim Absetzen von regelmäßig eingenommenen GPT empfohlen [41]. Ein ambulantes Abdosierungs-Schema wird zum Beispiel von der Bundesärztekammer [13] oder bei [9] skizziert. Sowohl GPT selbst als auch Benzodiazepine und Propofol (GABA-Mimetikum der Intensivmedizin) sind wirksam gegen leichte bis extreme Entzugssymptome [9].

Phenibut

Überraschenderweise existiert mit Phenibut ein im Internet unkompliziert zu erwerbendes „Nahrungsergänzungsmittel“, das kürzlich auch als GPT identifiziert wurde [32]. Phenibut hat eine lange Tradition als russisches Arzneimittel, das in Ländern der ehemaligen Sowjetunion seit Ende der 60er-Jahre gegen einige „neurotische“ (heute eher definiert als somatoforme) Beschwerden und Entzugssymptome eingesetzt wird [33]. Pharmakologisch bindet Phenibut jedoch deutlich schwächer (Dissoziationskonstante KD = 21 ± 7 μM) an die auxiliären α2δ-Untereinheiten als Gabapentin (KD = 0,05 ± 0,01 μM) (Tab. 1) [32, 33], dem bisher diesbezüglich schwächsten im klinischen Einsatz befindlichen GPT. Eine präzise klinisch-pharmakologische Einschätzung des Risikopotenzials von Phenibut im Vergleich mit Gabapentin und Pregabalin steht noch aus.

Gefährdungspotenzial von GPT und besondere Herausforderungen

Bisher gehören GPT zu den sichersten und am besten tolerierbaren Psychopharmaka [14], trotz sich häufender Berichte über GPT-bezogene Abhängigkeit und Atemdepression (meistens bei Opiatabhängigen und polyvalent Substanzabhängigen) [7, 9]. Legt man die weltweit sehr hohe Verschreibungszahl (Pregabalin ist mittlerweile ein „Blockbuster“) und den nicht nur in Deutschland1 verbreiteten nichtmedizinischen Konsum von GPT [25] zugrunde, dann relativieren sich diese Berichte schnell [38]. Am Ende der letzten Dekade schätzten deutsche Suchtmediziner das Schadenspotenzial von GPT im Vergleich zu anderen psychotropen Substanzen noch eher niedrig ein (Abb. 2; [8]).

Abb. 2. Einschätzung von 101 deutschen Suchtmedizinern bezüglich der durchschnittlichen Gesamtschädlichkeit einer Substanz in Relation zu ihrem durchschnittlichen Nutzen (Kategorie: „kein/wenig Nutzen“). Optisch grenzen sich zwei Gruppen ab: im linken unteren Quadranten die verschreibungsfähigen Medikamente und im oberen rechten Quadranten die nicht verschreibungsfähigen Drogen [8]. Die hier gezeigte Einschätzung dürfte deutlich anders ausfallen in Ländern, die sich mit einer Opioid-Epidemie auseinandersetzen müssen, wie z. B. den USA, wo GPT ein höheres Schadenspotenzial bez. Abhängigkeit und Atemdepressionen zugeschrieben wird [3, 5, 22]. GHB: Gamma-Hydroxybuttersäure; LSD: Lysergsäurediethylamid; NSAR: nichtsteroidale Antiphlogistika

Allerdings besteht eine besondere Herausforderung darin, die Opiatabhängigen in Opiatsubstitutionsbehandlungen oder in Justizvollzugsanstalten am GPT-Konsum zu hindern, der nicht selten, um Rezepte zu erhalten, mit vermehrten Krankheitssimulationen (z. B. chronische Schmerz- und Angsterkrankungen), aber insbesondere auch Intoxikationserscheinungen durch Überdosierung (oft Sedierung, Dysarthrie, Gangstörung) einhergeht [7, 36].

Um das tatsächliche Gefährdungspotenzial von GPT zu bestimmen, sind ausreichend große, prospektive epidemiologische und gut kontrollierte klinische Studien erforderlich, die aktuell noch nicht existieren. Deshalb kann auch die Alternativ-Hypothese noch nicht widerlegt werden, dass GPT eher einen günstigen Einfluss auf Opiatabhängige und polyvalent Substanzabhängige haben, indem sie dabei helfen, Opioide und andere gefährlichere Sedativa wie Benzodiazepine einzusparen (anti-adverse-selection hypothesis). Bei Todesfällen im Kontext von Opiaten und Sedativa würden sie im Urin dann eher als „bystander“ gefunden, d. h. ohne relevanten Kausalitätsanspruch [5, 7].

Eigene Erfahrungen und Empfehlungen

Seit Mitte der 90er-Jahre habe ich gute Erfahrungen gemacht mit der gezielten und gut kontrollierten, in der Regel vorübergehenden Verordnung von GPT bei verschiedenen psychiatrischen Störungen, chronischen Schmerzerkrankungen und Suchterkrankungen. Dabei kann ich mich auch während der oft monate- und jahrelangen ambulanten Kontrollen an keinen Fall erinnern, bei dem durch GPT eine psychische Abhängigkeit oder Atemdepression ausgelöst worden wäre. In der Regel wurden GPT gut vertragen, gelegentlich wurde eine Tagesmüdigkeit bzw. bedenkliche Konzentrationsstörung, Reaktionszeitminderung, Denkverlangsamung, Dysarthrie, Wortfindungsstörung, leichte Gedächtnisstörung, Schwindel, Gangunsicherheit bzw. Stürze oder periphere Ödeme (meistens übergewichtige Männer mit alkoholbezogener Polyneuropathie oder übergewichtige ältere Frauen) beschrieben. Nach Dosisreduktion bzw. ausschleichendem Absetzen waren diese Beschwerden jedes Mal reversibel. Bei geriatrischen Patienten [7] gilt auch bei GPT „start low“ (initial 100 mg Gapapentin, oder 25 mg Pregabalin) „and go slow“. Eine eigenmächtige Dosissteigerung in supratherapeutische Bereiche passierte selten, dann charakteristischerweise in der Risikopopulation (s. u.). Darüber hinaus kann ich mich an keinen Patienten erinnern, der sich primär zur elektiven Entgiftung von GPT ambulant oder stationär in der Klinik (ca. 500 elektive Entgiftungsbehandlungen pro Jahr) vorstellte. Das soll nicht ausschließen, dass solche Fälle existieren [21, 47], dann aber wohl eher selten. Vermieden habe ich in der Regel die ambulante Verordnung von GPT bei Risikopopulationen (Opiatsubstituierten, polyvalent Substanzabhängigen, Häftlingen). Wenn es wegen einer behandlungsrelevanten Komorbidität, zu deren Behandlung GPT zugelassen waren, nicht zu vermeiden war, wurde die GPT-Verordnung besonders engmaschig kontrolliert: in den ersten zwei bis drei Monaten alle ein bis zwei Wochen. Bei ersten Hinweisen auf einen Fehlgebrauch (unangemessene Zunahme der Rezeptwünsche oder Berichte über Dosissteigerung und Intoxikationen) wurde die GPT-Behandlung sofort ausschleichend beendet (Versuch einer risikoadaptierten, präzisionsbasierten Medizin). Unbedingt sollte es zur Psychoedukation von Patienten in der GPT-Behandlung gehören, darüber zu informieren, dass GPT (i) stimulieren, euphorisieren und sedieren können, jedoch (ii) mit rascher Toleranzentwicklung. Eine beispielsweise daraus resultierende (iii) eigenmächtige Dosissteigerung in supratherapeutische Bereiche kann zum Koma und zur Atemdepression führen, insbesondere, wenn andere Sedativa und Opiate zusätzlich konsumiert werden (synergistische Wirkung, [37]). Ein unmittelbares Absetzen von GPT ist oft mit (iv) deutlichen Entzugssymptomen verbunden. Dies gilt mittlerweile aber fast für alle häufig verschriebenen Psychopharmaka, auch Antidepressiva und Antipsychotika [10, 12], wobei hier im Gegensatz zu GPT (und Benzodiazepinen) epileptische Anfälle und Delirien eher sehr selten sind.

Ausblick

Neben dem tatsächlichen Ausmaß von psychischen Abhängigkeitserkrankungen und Atemdepressionen im Zusammenhang mit GPT sollten prospektive Studien klären, ob GPT bei psychiatrischen Störungen und chronischen Schmerzen eine Toleranzentwicklung zeigen. In meiner ambulanten Behandlung entstand jedoch nicht selten nach ein paar Wochen bis Monaten dieser Eindruck, was entweder zu einer vorsichtigen Abdosierung oder fluktuierenden Dosisänderung führte.

Interessenkonflikt

Es besteht kein Interessenkonflikt in Bezug auf diesen Artikel.

1 In der EU werden im Bereich der verschreibungsfähigen Medikamente aktuell am häufigsten Opiate missbraucht – gefolgt von Benzodiazepinen, GPT und Antidepressiva [15].

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Univ.-Prof. (apl) Dr. med. Udo Bonnet, Klinik für Seelische Gesundheit, Evangelisches Krankenhaus Castrop-Rauxel (Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität Duisburg-Essen), Castrop-Rauxel & LVR-Klinikum Essen, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Fakultät, Universität Duisburg-Essen, Essen; Anschrift: Udo Bonnet, EVK Castrop-Rauxel, Grutholzalle 21, 44577 Castrop-Rauxel, E-Mail: udo.bonnet@uni-due.de

Gabapentinoids – desensitizers and GABA mimetics. Mechanisms, hypotheses and challenges regarding a clinically not yet sufficiently developed well-tolerated substance class

Gabapentinoids are increasingly discussed with regard to their damaging and addictive potential, respectively. This carries the risk of losing sight of their benefits. Further detailed studies are necessary in order to evaluate the risk-benefit profile. This article provides a short review of the state of knowledge and open questions for research.

Key words: Gabapentinoids, phenibut, desensitisation, hyperalgesia, withdrawal symptoms, respiratory depression

Psychopharmakotherapie 2023; 30(06):199-205