Dr. Alexander Kretzschmar, München
Biomarker wie Glial Fibrillary Acidic Protein (GFAP) und die Neurofilament-Leichtketten (NfL) im Liquor und Serum (s) erlauben jetzt eine präzisere Therapiesteuerung anhand der Vorhersage der Krankheitsaktivität sowie von Behandlungseffekten. Dabei erscheint das sGFAP ein spezifischerer Prädiktor sowohl für das aktuelle wie auch für das künftige Fortschreiten der MS zu sein, während sNfL eher ein Prädiktor der generellen Behinderungsprogression ist. Mit der Entwicklung von Vakzinierungsstrategien gegen das Epstein-Barr-Virus (EBV) soll darüber hinaus ein weiterer Player in der MS-Pathologie ausgeschaltet werden, kündigte Prof. Bart Van Wijmeersch, Limburg, an.
Mit dem heutigen Verständnis der MS als Krankheitskontinuum mit verschiedenen immunologischen Phänotypen rückt die Verringerung der chronischen Neuroinflammation als wichtigste Ursache der schwelenden, nicht Schub-assoziierten Akkumulation von Behinderung ins Zentrum der Therapieforschung. Damit stehen auch neue Immun-Netzwerke und -Substrate des angeborenen Immunsystems im ZNS im Fokus. Eine wichtige Rolle kommt dabei auch der Mikroumgebung der proinflammatorischen Signalwege zu, berichtete Prof. Amit Bar-Or, Philadelphia. Als mögliche therapeutische Targets untersucht werden derzeit die Chemokin-Rezeptoren CCR7 auf den Memory-T-Zellen, c-KIT für eine Inhibition der Mikroglia- und Mastzellaktivierung und -migration sowie die Aktivität der Phosphodiesterase 4 (PDE4) bei der Aktivierung von Mikroglia, Mastzellen und Astrozyten, die Inhibition der Serin/Threonin-Kinase RIPK1 in Neuroprotektionsmodellen und die CD40/CD40L-Interaktion bei der Lymphozyten-Aktivierung.
Derzeit werden rund 50 Wirkstoffkandidaten in klinischen Studien untersucht, informierte Van Wijmeersch [3].
BTK: bestuntersuchtes Target in der MS-Forschung
Das wohl mit Abstand bestuntersuchte Target ist jedoch die Bruton-Tyrosinkinase (BTK), so Prof. Jiwon Oh, Toronto. Zu den vielfältigen BTK-Funktionen gehören die Mikroglia-Aktivierung und Beteiligung an der Proliferation und Reifung von B-Zellen sowie die Sekretion von Immunmediatoren und Antikörpern. BTK+-Zellen findet man u. a. in den ringförmigen, eisenhaltigen Läsionen als Kennzeichen der schwelenden MS-Inflammation (Smouldering Inflammation) sowie in Mikroglia von Läsionen bei sekundär progredienter MS (SPMS) [1, 5]. Die BTK-Hochregulation ist mit einer verstärkten Mikrogliose, insbesondere bei progressivem MS-Verlauf, assoziiert [2].
Zu den gegenwärtig in Phase-II/III-Studien untersuchten Kandidaten gehört der kovalente BTKi Tolebrutinib, der die BTK irreversibel hemmt. In-vitro- und in-vivo-Daten zeigen eine schnelle und ausreichend hohe Penetration ins ZNS, so Oh. Auf dem ECTRIMS-ACTRIMS-Kongress 2023 wurden neue Daten aus der Langzeit-Extensionsstudie der Phase IIb (NCT03889639) vorgestellt [4]. In einer Zwischenauswertung wurden Effektivität und Sicherheit der Therapie mit Tolebrutinib 60 mg über bis zu 144 Wochen beurteilt. Zum Zeitpunkt des Cut-off am 14. Februar 2023 befanden sich noch 82,4 % (103/125) der für die Langzeitstudie rekrutierten Patienten in Behandlung. 68,5 % der Teilnehmer waren schubfrei, die jährliche Schubrate betrug 0,23 (Kernstudie: 1,23). Der mittlere Expanded Disability Status Score (EDSS) als Marker für den Schweregrad der Behinderung blieb bis zur Woche 144 stabil.
Bei den bisher für BTKi vorliegenden Daten sorgten in den frühen Studien insbesondere Fälle von erhöhter Leberenzymaktivität, vor allem der Alanin-Aminotransferase (ALT), für Aufmerksamkeit. In den Phase-II/III-Studien betraf dies rund 5 % der Teilnehmer. Dagegen waren Infektionen bislang kein größeres Sicherheitssignal. Das Sicherheitsprofil von Tolebrutinib stimmte laut den Studienärzten mit demjenigen in früheren Studien überein. Die häufigsten unerwünschten Ereignisse waren COVID-19-Erkrankungen (34,4 %), Erkältungssymptome (16 %), Kopfschmerzen (13,6 %), Infektionen der oberen Atemwege (11,2 %) und Rückenschmerzen (9,6 %). Leberenzymerhöhungen ≥ 3fach des oberen Grenzwerts wurden bei 4,8 % der Teilnehmer gemessen.
Quelle
Prof. Bart Van Wijmeersch, Limburg (Belgien), Prof. Amit Bar-Or, Philadelphia (USA), Prof. Jiwon Oh, Toronto (Kanada), Symposium „Approaching Precision Neurology: New Targets Bridging Immunology, Neuroinflammation and Neurodegeneration“, Mailand, 12. Oktober 2023, veranstaltet von Sanofi-Aventis Groupe im Rahmen des 9. ECTRIMS-ACTRIMS-Kongresses.
Literatur
1. Garcia-Merino A. Bruton’s tyrosine kinase inhibitors: A new generation of promising agents for multiple sclerosis therapy. Cells 2021;10:2560.
2. Gruber RC, et al. Central effects of BTK inhibition in neuroinflammation. Neurology 2020;94(Suppl 15):808.
3. Lubetzki C, et al. Remyelination in multiple sclerosis: from basic science to clinical translation. Lancet Neurol 2020;19:678–88.
4. Oh J, et al. Safety and clinical efficacy outcomes from the long-term extension study of tolebrutinib in participants with relapsing multiple sclerosis: 3-year results. ECTRIMS-ACTRIMS 2023; Abstract 1470/P278.
5. Pal Singh S, et al. Role of Bruton’s tyrosine kinase in B cells and malignancies. Mol Cancer 2018;17:57.
Psychopharmakotherapie 2023; 30(06):206-217