Multiple Sklerose

Risiko neuer Krankheitsaktivität nach Absetzen krankheitsmodifizierender Arzneimittel


Dr. Jasmine Naun, Stuttgart

Bei multipler Sklerose nimmt die Krankheitsaktivität mit dem Alter ab. In einer Phase-IV-Nichtunterlegenheitsstudie konnte nicht nachgewiesen werden, dass das Absetzen der Medikation bei Patienten über 55 Jahren ohne aktuelle Krankheitsaktivität einer Weiterführung der Medikation gleichwertig ist.

Seit 1993 wurden 20 krankheitsmodifizierende Therapien aus zehn verschiedenen Wirkstoffklassen zur Behandlung der multiplen Sklerose (MS) zugelassen und finden derzeit breite Anwendung in der Indikation. Obwohl 46 % der US-amerikanischen Erwachsenen mit MS inzwischen 55 Jahre oder älter sind, wurden die meisten krankheitsmodifizierenden Therapien auf Basis von Phase-III-Studien zugelassen, in denen Personen dieser Altersgruppe ausgeschlossen waren. Aus diesem Grund sind wenige Daten zu möglichen Vorteilen dieser Therapien für diese Altersklasse verfügbar. Auch stellt sich die Frage nach der Sicherheit dieser Arzneimittel in dieser Altersgruppe, da sich beispielsweise die Risiken für Infektionskrankheiten mit dem Alter erhöhen. Darüber hinaus konnte in Subgruppen-Analysen festgestellt werden, dass die Behandlungseffekte bei jungen Patienten deutlich höher ausfallen als bei älteren Patienten. Dies könnte damit zusammenhängen, dass Rückfälle bei älteren Patienten seltener auftreten.

Ziel der vorliegenden Studie war daher, zu untersuchen, ob die Krankheitsaktivität zunimmt, wenn ältere Patienten ohne kürzliche Krankheitsaktivität ihre krankheitsmodifizierende Therapie absetzen im Vergleich zu Patienten, die ihre Medikation weiter einnehmen.

Studiendesign

DISCOMS ist eine multizentrische, randomisierte, kontrollierte, einfach verblindete, Phase-IV-Nichtunterlegenheitsstudie. Studienteilnehmer wurden an 19 Standorten in den USA eingeschlossen. Einschlusskriterien waren:

  • Alter ≥ 55 Jahre
  • Bestätigte MS-Diagnose nach McDonald-Kriterien
  • Jeglicher MS-Typ
  • Kein MS-Rückfall seit mindestens 5 Jahren oder keine neuen Läsionen seit mindestens 3 Jahren
  • Mindestens 5 Jahre kontinuierliche Einnahme krankheitsmodifizierender Therapie durch ein bei der FDA zugelassenes Arzneimittel und mindestens 2 Jahre kontinuierlich auf der aktuellen Therapie

Hauptausschlusskriterien waren Off-Label-Medikationen der MS (Rituximab, Cyclophosphamid, Methotrexat oder Ciclosporin) sowie Siponimod oder Cladribin, die so spät zugelassen wurden, dass eingeschlossenen Patienten eine Anwendung von zwei Jahren innerhalb des Studienzeitraums nicht möglich gewesen wäre. Patienten, die Mitoxantron erhalten hatten, wurden ebenso ausgeschlossen wie Patienten, die Alemtuzumab erhielten, das zwar eine Zulassung hat, in den USA aber zu selten Anwendung findet. Beide Arzneimittel haben zudem langanhaltende pharmakodynamische Effekte. Die Verabreichung von systemischen Glucocorticoiden in den letzten 5 Jahren war ein weiteres Ausschlusskriterium.

Patienten wurden in 19 MS-Zentren in den USA eingeschlossen und 1 : 1 randomisiert in eine Gruppe, die die Medikation absetzte, und eine Gruppe, die ihre Medikation wie bisher weiter anwendete. Primärer Endpunkt war der Anteil an Patienten mit einem neuen Krankheitsereignis (Rückfall oder eine neue T2-Läsion im Gehirn). Dabei wurde untersucht, ob das Absetzen der Therapie der Weiterführung der Therapie nichtunterlegen war. Für die Nichtunterlegenheit wurde eine vordefinierte Spanne von 8 % festgelegt.

Nichtunterlegenheit der Absetzgruppe nicht bestätigt

Insgesamt wurden zwischen Mai 2017 und Februar 2020 259 Teilnehmer eingeschlossen, von denen

  • 128 (49 %) ihre Medikation weiter einnahmen (Einnahmegruppe) und
  • 131 (51 %) ihre Therapie absetzten (Absetzgruppe).

Fünf Teilnehmer konnten nicht nachbeobachtet werden (Einnahmegruppe n = 1, Absetzgruppe n = 4). Sechs (4,7 %) von 128 Teilnehmern in der Einnahmegruppe und 16 (12,2 %) von 131 Teilnehmern in der Absetzgruppe erlitten innerhalb von 2 Jahren einen Rückfall oder eine neue oder sich ausdehnende MRT-Läsion im Gehirn. Der Unterschied in den Ereignisraten betrug 7,5 Prozentpunkte (95%-Konfidenzintervall [KI] 0,6–15,0). Daher konnte die Nullhypothese, dass das Absetzen der Therapie dem Fortführen der Therapie unterlegen war, nicht verworfen werden.

Sicherheit

Eine ähnliche Anzahl an Teilnehmern in beiden Gruppen hatte unerwünschte Ereignisse (109 Teilnehmer [85 %] in der Einnahmegruppe vs. 104 Teilnehmer [79 %] in der Absetzgruppe). Allerdings war die Anzahl an unerwünschten (UE) und schwerwiegenden unerwünschten Ereignissen (SUE) in der Absetzgruppe höher als in der Einnahmegruppe (UE 422 vs. 347 Fälle, SUE 40 vs. 30 Fälle). Die häufigsten UE waren Infektionen der oberen Atemwege (20 Ereignisse bei 19 [15 %] Teilnehmern [Einnahmegruppe] und 37 Fälle bei 30 [23 %] Teilnehmern [Absetzgruppe]). Drei Teilnehmer in der Einnahmegruppe und vier in der Absetzgruppe hatten unerwünschte Ereignisse, die als therapiebedingt eingestuft wurden. In beiden Gruppen gab es je einen schwerwiegenden Rückfall, der eine Krankenhauseinweisung erforderlich machte. Ein Teilnehmer der Einnahme- und zwei Teilnehmer der Absetzgruppe starben, wobei die Todesfälle nicht mit der Behandlung in Zusammenhang gebracht werden konnten.

Limitationen

Da die Rückfallquote gering war, war es nicht möglich, nach anderen möglichen Altersgrenzen zu stratifizieren. Andere Einschlusskriterien, die möglicherweise ebenfalls eine Differenzierung zwischen Hochrisiko- und Niedrigrisikopatienten eines Rückfalls ermöglichen könnten, konnten aufgrund der geringen Anzahl an Teilnehmern nicht untersucht werden. Die meisten Patienten verwendeten ältere MS-Injektionsmedikationen. Es ist daher nicht möglich, die hier vorliegenden Ergebnisse auf neuere MS-Therapien zu extrapolieren.

Fazit der Studienautoren

In dieser Nichtunterlegenheitsstudie konnte die Nullhypothese nicht verworfen werden, d. h., es könnte sein, dass das Absetzen der Therapie bei über 55-jährigen Patienten hinsichtlich des primären Endpunkts „MS-Rückfall“ 8 % oder mehr dem Fortführen der Therapie unterlegen ist. Das Absetzen der krankheitsmodifizierenden Therapie kann eine sinnvolle Option bei Patienten über 55 Jahren mit stabiler MS sein, könnte aber mit einem leicht erhöhten Risiko einer neuen MRT-Aktivität einhergehen.

Quelle

Corboy JR, et al. Risk of new disease activity in patients with multiple sclerosis who continue or discontinue disease-modifying therapies (DISCOMS): a multicentre, randomised, single-blind, phase 4, non-inferiority trial. Lancet Neurol 2023;22:568–77.

Psychopharmakotherapie 2023; 30(05):174-181