Hans-Jürgen Möller, München, und Florian Seemüller, Garmisch-Partenkirchen
Basierend auf empirischen Untersuchungen besteht allgemeine Übereinstimmung unter Experten, dass es wichtig ist, dass Ärzte sich bei der Behandlung depressiver Patienten nicht mit Besserung im Sinne von „response“ zufrieden zu geben, sondern dass Remission entsprechend definierten Depressionsskalen-Kriterien [2, 13, 16] erreicht werden sollte. Diese Empfehlung basiert auf übereinstimmenden Studienergebnissen, dass depressive Patienten, die auf die Behandlung respondiert, aber nicht Remission erreicht haben, im weiteren Verlauf eine größere psychosoziale Beeinträchtigung haben und ein höheres Risiko zeigen, ein Rezidiv zu erleiden (4, 5). Nicht-Remission und die damit zusammenhängenden Residualsymptome bedürfen also der besonderen Aufmerksamkeit in der Behandlung depressiver Patienten.
Aber auch remittierte Patienten sind meistens nicht frei von Symptomen, sondern können noch Residualsymptome aufweisen. Residualsymptome sind Depressionssymptome, die trotz der Remission noch bestehen. Sie ziehen psychosoziale Beeinträchtigung nach sich und erhöhen die Wahrscheinlichkeit eines Rezidivs. In diesem Sinne wird auch von „partieller Remission“ [6–11] gesprochen. Das bedeutet für den behandelnden Arzt, dass er auf diese Residualsymptome diagnostisch und therapeutisch achten muss, um den optimalen Zustand des Patienten zu erreichen und eine Chronifizierung der Depression zu verhindern [15].
Die ätiopathogenetischen Hintergründe für Residualsymptome bei remittierten Patienten mit Depression sind unklar. Während einige Autoren davon ausgehen, dass Residualsymptome lediglich eine weiter bestehende Krankheitsaktivität anzeigen, gehen andere davon aus, dass sie Persönlichkeitszüge mit erhöhter Vulnerabilität für Rezidive reflektieren [9].
Im Folgenden wird über Art, Häufigkeit und 1-Jahres Persistenz von Residualsymptomen bei remittierten depressiven Patienten berichtet. Es handelt sich um Ergebnisse aus einer großen naturalistischen Querschnitts- und Verlaufsstudie an in der Indexepisode stationär behandelten Patienten mit depressiver Episode [14].
Methodik und Stichprobe der Untersuchung
Eine detaillierte Beschreibung der Methodik und Stichprobe findet sich in der genannten Publikation [14], sodass hier nur wenige Details erwähnt werden. Es handelt sich um eine prospektive Querschnitts- und Verlaufsstudie mit einem aufwendigen mehrdimensionalen Messansatz an 1014 depressiven Patienten (Patienten mit depressiver Episode, ICD-10), die im Rahmen der Indexerkrankung stationär behandelt wurden. An der Studie nahmen zwölf deutsche Zentren – sieben Universitätskliniken und fünf Versorgungskliniken – im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Forschungsnetzwerks Depression teil.
Psychosoziale Charakteristika der Stichprobe: 63 % der Patienten waren weiblich. 37 % der Patienten waren älter als 51 Jahre. 41 % der Pateinten waren verheiratet. 63 % der Patienten waren berufstätig (Hausfrauen und Teilzeit-Beschäftigte eingeschlossen).
Die lange Dauer der aktuellen depressiven Episode bei einem Großteil der Patienten weist auf eine partielle Therapieresistenz hin: Vor Beginn der stationären Indexbehandlung betrug die Dauer der depressiven Episode nur bei 14 % der Patienten weniger als einen Monat. Bei 30 % betrug die Dauer weniger als 3 Monate, bei 24 % weniger als 6 Monate, bei 16 % weniger als 1 Jahr, bei 8 % weniger als 2 Jahre, bei 3 % weniger als 5 Jahre.
Die Patienten wurden gemäß der zum Zeitpunkt der Studie gültigen deutschen und internationalen Behandlungsleitlinien im Sinne einer individualisierten Therapieplanung behandelt. Neben der medikamentösen Behandlung, vorrangig mit Antidepressiva, wurden individuell auch andere neurobiologische Behandlungen (Elektrokonvulsionstherapie [EKT], transkranielle Magnetstimulation [TMS]) eingesetzt. Alle Patienten bekamen mehrfach pro Woche ärztliche psychotherapeutisch Gespräche, einige Patienten wurden nach individueller Verordnung zusätzlich von Psychologen mit kognitiver Verhaltenstherapie, meistens als Gruppentherapie, behandelt. Zum Behandlungssetting gehörte außerdem das übliche Spektrum weiterer Verfahren wie Beschäftigungstherapie, Musiktherapie und Physiotherapie.
Die zehn am häufigsten verordneten Antidepressiva waren in absteigender Häufigkeit: Venlafaxin (n = 311), Mirtazapin (n = 198), Sertralin (n = 145), Citalopram (n = 129), Trimipramin (n = 102), Amitriptylin (n = 100), Reboxetin (n = 67), Doxepin (n = 56), Paroxetin (n = 44), Tranylcypromin (n = 34). Meistens in Komedikation bekamen 365 Patienten zeitweilig Antipsychotika, 491 Patienten vorübergehend Benzodiazepine.
Im Rahmen einer Post-hoc-Analyse der Daten der Studie wurden Art, Häufigkeit und 1-Jahres-Persistenz von Residualsymptomen der bei Entlassung remittierten Patienten genauer untersucht. Dabei konnte auf die im Rahmen der stationären Behandlung prospektiv durchgeführten 2-wöchentlichen Symptomeinschätzungen mittels der 21-Item-Hamilton-Depressions-Skala (HAMD-21) sowie auf die HAMD-21-Beurteilung bei der Nachuntersuchung nach einem Jahr zurückgegriffen werden.
Trotz der bereits vor der stationären Aufnahme bestehenden partiellen Therapieresistenz bei einem Großteil der Patienten sank nach einer mittleren stationären Behandlungsdauer von 53,6 Tagen der HAMD-21-Mittelwert von 24,8 (± 6,9) bei Aufnahme auf 10,13 (± 7,7) bei Entlassung.
Ergebnisse
Remissionshäufigkeit
Von den insgesamt 1014 Patienten erreichten nach einer mittleren Behandlungsdauer von 53,6 Tagen bei Entlassung 72,3 % Response (50%ige Reduktion des HAMD-Scores bei Aufnahme) und 48,7 % Remission (HAMD-21 < 8). Ein Drittel (32,6 %) der Patienten der Ausgangsstichprobe erreichten bei Entlassung weder Remission noch Response. Die Remitter-Stichprobe bei Entlassung umfasste 469 Patienten. Bei der 1-Jahres-Nachuntersuchung waren von 469 Patienten, die bei Entlassung in Remission waren, nur 182 Patienten erreichbar und für die Analyse persistierender Residualsymptome analysierbar.
Residualsymptomatik
Residualsymptome der remittierten Patienten bei Entlassung waren sehr häufig. Von den remittierten Patienten bei Entlassung hatten nur 57 Patienten keine Residualsymptome.
87,85 % der 469 bei Entlassung remittierten Patienten hatten mindestens ein Residualsymptom, 79,1 % mindestens zwei, 64 % mindestens drei und 47 % mindestens vier Residualsymptome.
Tabelle 1 fasst die Beschreibung der Residualsymptome der remittierten Patienten zusammen. Zum Beispiel hatten 121 Patienten (25,8 % von allen Remittern bei Entlassung) eine leichte depressive Stimmung (HAMD-Item 1). Von diesen hatten 120 Patienten (99,17 %) das gleiche Symptom schon bei Aufnahme, nur ein Patient (0,89 %) entwickelte das Symptom neu während des stationären Aufenthalts.
Tab. 1. Anzahl und prozentuale Häufigkeit von Residualsymptomen bei Remittern (N = 469; *bei 1-Jahres-Nachuntersuchung N = 182)
HAMD-Item |
Pat. mit leichten Residualsymptomen bei Remission [n (%)] (N = 469) |
Pat. mit mäßigen Residualsymptomen bei Remission [n (%)] (N = 469) |
Pat. mit Symptom bei Remission, das bei Aufnahme nicht bestanden hatte [n (%)] (bezogen auf n in Spalte 1) |
Pat. mit persistierender Aufnahmesymptomatik [n (%)] (bezogen auf n in Spalte 1) |
Pat. mit Symptomen bei 1-Jahres-Follow-up [n (%)] (N = 187) |
Pat. mit persistierendem Residualsymptom von Remission (bei Entlassung) bis 1-Jahres-Follow-up* (bezogen auf n in Spalte 5) |
1-Depressive Stimmung |
121 (25,8 %) |
6 (1,28 %) |
1 (0,83 %) |
120 (99,17 %) |
81 (43,32 %) |
25 (30,86 %) |
2-Schuldgefühle |
87 (18,55 %) |
12 (2,56 %) |
9 (10,34 %) |
78 (89,66 %) |
58 (31,02 %) |
15 (25,86 %) |
3-Suizid |
10 (2,13 %) |
2 (0,43 %) |
1 (10 %) |
9 (90 %) |
30 (16,04 %) |
1 (3,3 %) |
4-Einschlafstörungen |
86 (18,34 %) |
15 (3,2 %) |
20 (23,26 %) |
66 (76,74 %) |
62 (33,16 %) |
10 (16,67 %) |
5-Durchschlafstörung |
115 (24,52 %) |
14 (2,99 %) |
14 (12,17 %) |
101 (87,83 %) |
66 (35,29 %) |
21 (31,82 %) |
6- Schlafstörung morgens |
56 (11,94 %) |
17 (3,62 %) |
13 (23,21 %) |
43 (76,79 %) |
45 (24,06 %) |
8 (17,77 %) |
7-Arbeit/Aktivitäten |
219 (46,7 %) |
26 (5,54 %) |
1 (0,46 %) |
218 (99,54 %) |
95 (50,8 %) |
47 (49,47 %) |
8-depressive Hemmung |
47 (10,02 %) |
2 (0,43 %) |
13 (27,66 %) |
34 (72,34 %) |
18 (9,63 %) |
7 (38,89 %) |
9-Erregung |
69 (14,71 %) |
11 (2,35 %) |
21 (30,43 %) |
48 (69,57 %) |
37 (19,79 %) |
10 (27,03 %) |
10-Angst psychisch |
149 (31,77 %) |
13 (2,77 %) |
14 (9,4 %) |
135 (90,6 %) |
76 (40,46 %) |
30 (39,47 %) |
11-Angst somatisch |
78 (16,63 %) |
11 (2,35 %) |
17 (21,79 %) |
61 (78,21 %) |
63 (33,69 %) |
19 (30,15 %) |
12-körperliche Symptome gastroint. |
20 (4,26 %) |
1 (0,21 %) |
3 (15 %) |
17 (85 %) |
25 (13,37 %) |
3 (12 %) |
13-körperliche Symptome allgem. |
154 (32,84 %) |
12 (2,56 %) |
11 (7,14 %) |
143 (92,86 %) |
96 (51,34 %) |
42 (43,75 %) |
14-Genitalsymptome |
170 (36,25 %) |
38 (8,1 %) |
24 (14,12 %) |
146 (85,88 %) |
78 (41,71 %) |
35 (44,87 %) |
15-Hypochondrie |
43 (9,17 %) |
1 (0,21 %) |
13 (30,23 %) |
30 (69,77 %) |
35 (18,72 %) |
8 (22,86 %) |
16A-Gewichtsverlust (anamn.) |
5 (1,07 %) |
1 (0,21 %) |
1 (20 %) |
4 (80 %) |
9 (4,81 %) |
0 |
16B-Gewichtsverlust (gewogen) |
2 (0,43 %) |
1 (0,21 %) |
2 (100 %) |
0 (0 %) |
1 (0,53 %) |
0 |
17-Krankheitseinsicht |
13 (2,77 %) |
1 (0,21 %) |
2 (15,38 %) |
11 (84,62 %) |
6 (3,21 %) |
1 (16,67 %) |
18A-Tagesschwankungen: |
61 (13,01 %) |
6 (1,28 %) |
9 (14,75 %) |
52 (85,25 %) |
56 (29,95 %) |
13 (32,21 %) |
18B-Tagesschwankungen:Ausmaß |
61 (13,01 %) |
5 (1,07 %) |
12 (19,67 %) |
49 (80,33 %) |
54 (28,88 %) |
12 (22,22 %) |
19-Depersonalisation |
6 (1,28 %) |
0 (0 %) |
3 (50 %) |
3 (50 %) |
14 (7,49 %) |
1 (7,14 %) |
20-Paranoide Symptome |
8 (1,71 %) |
0 (0 %) |
3 (37,5 %) |
5 (62,5 %) |
13 (6,95 %) |
1 (7,69 %) |
21-Zwangssymptome |
4 (0,85 %) |
0 (0 %) |
1 (25 %) |
3 (75 %) |
8 (4,28 %) |
0 |
Die zehn häufigsten mit der HAMD gemessenen Residualsymptome von Remittern bei Entlassung waren, in nach Häufigkeit geordneter absteigender Reihenfolge: Beeinträchtigung von Arbeit und sonstigen Aktivitäten (46,7 %), Genitalsymtome (36,25 %), körperliche Symptome (32,84 %), Durchschlafstörungen (24,52 %), Einschlafstörungen (18,34 %), somatische Angst (16,63 %), Erregung (14,71 %), Tagesschwankungen (13,01 %), Schlafstörungen am Morgen (11,94 %) und depressive Hemmung (10,02 %).
Der größte Teil der Remitter mit Residualsymptomen bei Entlassung hatte die gleichen Symptome bereits bei Aufnahme zur stationären Behandlung. Das trifft insbesondere zu für Einschränkung von Arbeit und Aktivitäten: 99,54 % aller Patienten mit dieser Symptomatik hatten sie bereits bei Aufnahme. Nur ein Patient entwickelte dieses Symptom während des stationären Aufenthalts. Ebenso war depressive Stimmung nahezu ausschließlich ein seit Aufnahme persistierendes Symptom (99,17 %). Dem folgen somatische Symptome (92,86 %), psychische Angst (90,6 %), Suizidgedanken (90 %), Schuldgefühle (89,66 %), nächtliches Erwachen (87,38), sexuelle Symptome (85,88 %), Tagesschwankungen (85,25 %) und Appetitverlust (85 %). Abgesehen von Gewichtsverlust und Depersonalisation, hatten mindestens zwei Drittel der Patienten mit Residualsymptomatik bei Entlassung das entsprechende Symptom bereits bei Aufnahme.
Es gibt aber Remitter bei Entlassung, die mit der HAMD-21 gemessene Symptome aufweisen, die bei Aufnahme nicht existierten (Tab. 2). Die häufigsten dieser Symptome waren: Genitalsymptome, Erregung, Schlafstörungen am Morgen, somatische Angst, Durchschlafstörungen, psychische Angst, Einschlafstörungen, depressive Hemmung, Hypochondrie und Tagesschwankungen.
Tab. 2. Die 10 zehn häufigsten Symptome bei Entlassung, die nicht bei Aufnahme vorhanden waren
HAMD-Item |
N (%) |
|
14 |
Genitalsymptome |
24 (5,12) |
9 |
Erregung |
21 (4,48) |
4 |
Einschlafstörungen |
20 (4,26) |
11 |
Angst somatisch |
17 (3,62) |
5 |
Durchschlafstörungen |
14 (2,99) |
10 |
Angst psychisch |
14 (2,99) |
6 |
Schlafstörung morgens |
13 (2,77) |
8 |
Depressive Hemmung |
13 (2,77) |
15 |
Hypochondrie |
13 (2,77) |
18B |
Tagesschwankungen (Ausmaß) |
12 (2,56) |
Die Verteilung und Häufigkeits-Rangordnung (am häufigsten, am zweithäufigsten usw.) der Residualsymptome (Abb. 1, Abb. 2) war bei Remittern und Respondern im Wesentlichen gleich. Jedoch unterschieden sich Responder und Remitter im Schweregrad und in der relativen Häufigkeit der Residualsymptome. Remitter hatten die gleichen Residualsymptome wie Responder, aber mit geringerer Häufigkeit und geringerem Schweregrad.
Abb. 1. Verteilung der HAMD-21-Residualsymptome von Respondern bei Entlassung (N = 674). Die Ausprägungsgrade der jeweiligen HAMD-21-Items sind prozentual und in Farbabstufungen (0–4) dargestellt.
Abb. 2. Verteilung der HAMD-21-Residualsymptome von Remittern bei Entlassung (N = 469). Die Ausprägungsgrade der jeweiligen HAMD-21-Items sind prozentual und in Farbabstufungen (0–4) dargestellt.
Bei der 1-Jahres-Nachuntersuchung waren von 469 Patienten, die bei Entlassung in Remission waren, nur 182 Patienten erreichbar und für die Analyse persistierender Residualsymptome bei Remittern analysierbar (Tab. 1). Bei diesen Patienten waren körperliche Symptome am häufigsten, gefolgt durch Beeinträchtigung von Arbeit und Aktivitäten, depressive Stimmung, psychische Angst, Durchschlafstörungen, somatische Angst, Schlafstörungen, Schuldgefühle und Tagesschwankungen. Interessanterweise hatten von den Patienten mit den häufigsten Residualsymptomen, je nach Symptom, rund ein Drittel oder die Hälfte der Patienten das jeweilige Symptom schon bei der Entlassung vor einem Jahr.
Diskussion
88 % aller depressiven Patienten, die bei Entlassung in Remission einer depressiven Erkrankung waren, hatten noch depressive Symptome (Residualsymptome), 48 % mindestens vier. Die meisten dieser Residualsymptome bei Entlassung bestanden bereits bei Aufnahme, waren also persistierende Symptome, die bei Aufnahme stärker ausgeprägt waren.
Das Muster der in dieser Untersuchung gefundenen Residualsymptome bei Remittern entspricht dem anderer naturalistischer Studien [10, 18]. In unserer Untersuchung gehörten zu den zehn häufigsten Residualsymptomen die folgenden HAMD-Symptome: Beeinträchtigung von Arbeit und sonstigen Aktivitäten, Genitalsymptome, körperliche Symptome, Durchschlafstörungen, Schlafstörungen am Morgen, somatische Angst, Erregung, Tagesschwankungen, Einschlafstörungen und depressive Hemmung. Diese Symptome entsprechen typischen Kernsymptomen einer leichten bis mäßigradigen Depression, und zeigen somit eine enge Beziehung zur allgemeinen Krankheitsaktivität an. Etwa die Hälfte der remittierten Patienten hatte Residualsymptome in mindestens leichtem Schweregrad.
Die häufigsten Residualsymptome bei der 1-Jahres-Nachuntersuchung waren, wie auch in anderen Untersuchungen [3, 10, 12, 18], somatische Symptome. 50 % der Patienten mit körperlichen Symptomen bei der 1-Jahres-Nachuntersuchung hatten diese auch schon bei Entlassung. Abgesehen von dieser hohen Prävalenz sind diese somatischen Symptome auch problematisch, weil sie zu häufigen Konsultationen von Ärzten anderer Fachgebiete führen, was oft entsprechende spezialisierte Untersuchungen und gegebenenfalls eine sekundäre „somatization disorder“ [17] nach sich zieht.
Die geringe Häufigkeit von Residualsymptomen remittierter Patienten, die nicht bereits bei der Aufnahme vorliegen, legt nahe, dass die aufgetretenen Residualsymptome größtenteils nicht als Nebenwirkungen der medikamentösen Behandlung anzusehen sind. Von den zehn häufigsten Symptomen, die nicht bereits bei Aufnahme vorhanden waren, scheinen lediglich sexuelle Symptome, Agitiertheit und Schlafstörungen als Nebenwirkungen interpretierbar zu sein, zumal sie bekannte Nebenwirkungen von selektiven Serotonin- und Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI und SNRI) sind, die in der Studie am meisten verordnet wurden.
Die Untersuchung beschränkte sich auf Häufigkeitsanalysen. Die Beziehung von Remission und Response zu psychosozialen Variablen und Therapiedaten wurde zu anderen Publikationen dargestellt [19, 20].
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
Residualsymptome bei Entlassung remittierter Patienten sind häufig und neigen, wie die Daten bei der 1-Jahres-Nachuntersuchung zeigen, zu weit über den Zeitpunkt der Entlassung hinausgehender längerer Persistenz. Sie zeigen offenbar eine weiter bestehende Krankheitsaktivität an und gehen, wie aus der Literatur bekannt, mit vermehrten psychosozialen Einschränkungen und erhöhter Rezidivgefahr einher [5, 6, 9]. Dies sollte in der Diagnostik und Behandlung depressiver Patienten berücksichtigt werden.
In der Behandlung von remittierten Patienten mit depressiver Residualsymptomatik sollte eine symptomreduzierende Optimierung der pharmakologischen Therapie erreicht werden. Auch eine psychotherapeutische Zusatzbehandlung ist in Erwägung zu ziehen [1, 11].
Am Deutschen Forschungsnetzwerk Depression beteiligte Untersucher und Zentren
F. Seemüller, M. Riedel, M. Obermeier, B. Goldstein-Müller, R. Schennach-Wolf, H.-J. Möller, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig Maximilians-Universität München, Nussbaumstraße 7, 80336 München
K. Kronmüller Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Heidelberg, Voßstr. 2, 69115 Heidelberg
M. Bauer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Technischen Universität Dresden, Fetscherstr. 74, 01307 Dresden
P. Brieger, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Martin-Luther Universität Halle, Julius-Kühn-Str.7, 06097 Halle
G. Laux, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie, Inn-Salzach-Klinikum, Gabersee 7, 83512 Wasserburg
W. Bender, Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie, Isar-Amper-Klinikum München Ost, Vockestr. 72, 85 540 Haar
M. Adli, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Campus Charité Mitte (CCM), Charitéplatz 1, 10117 Berlin
I. Heuser, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Campus Charité Benjamin Franklin (CFB), Eschenallee 3, 14050 Berlin
J. Zeiler, Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie, Auguste-Viktoria-Krankenhaus, Rubensstr. 125, 12157 Berlin
W. Gaebel, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Düsseldorf, Bergische Landstr. 2, 40629 Düsseldorf
Interessenkonflikterklärung
Die Autoren haben keinen Interessenkonflikt zu erklären. Die Originalstudie wurde vom BMBF gefördert.
Literatur
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20. Seemüller F, Obermeier M, Schennach R, Bauer M, et al. Stability of remission rates in a 3-year follow-up of naturalistic treated depressed inpatients. BMC Psychiatry 2016;16:153.
Prof. Dr. med. Hans-Jürgen Möller, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig Maximilians-Universität München, Nussbaumstraße 7, 80336 München, E-Mail: Hans-Juergen.Moeller@med.uni-muenchen.de
Priv.-Doz. Dr. med. Florian Seemüller, kbo-Lech-Mangfall-Klinik Garmisch-Partenkirchen
Frequency, kind and 1-year persistence of residual symptoms of remitted depressive patients: results of a huge naturalistic multicenter study
In a huge naturalistic multicenter study on N = 1014 depressive inpatients (depressive episode, ICD 10) 88 % of the N = 469 remitters at discharge had at least one residual symptom, 48 % at least four residual symptoms. Based on the HAMD-21 ratings the most frequent residual symptoms were: impairment in work and activities (46.70 %), insomnia (37.74 %), sexual symptoms (36.25 %), somatic symptoms (32.84 %), anxiety with somatic symptoms (16.63 %) agitation (14.71 %), diurnal variations (13.01 %) and retardation (10.02 %). The vast majority of residual symptoms were persistent baseline symptoms, which did not resolve during inpatient treatment. Residual symptoms in patients meeting either response or remission criteria had the same distribution of symptoms and only differed in severity. Thus, residual symptoms indicate most probably different levels of illness severity. At one year-follow-up about 30–50 % of the depressive symptoms were symptoms already present at remission at discharge. Message for the daily clinical practice: residual symptoms of remitted depressive patients should be carefully taken into account under diagnostic and therapeutic aspects, because they are associated with psychosocial impairments and a higher risk of relapse.
Key words: Residual symptom, remission, depressive episode
Psychopharmakotherapie 2023; 30(05):164-169