Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Essen
Es gibt verschiedene Ansätze einer Migränetherapie über den CGRP(Calcitonin gene-related peptide)-Rezeptor oder das CGRP-Molekül. Die monoklonalen Antikörper gegen CGRP wurden zur Migräneprophylaxe entwickelt. Direkte CGRP-Rezeptorantagonisten wie Rimegepant und Ubrogepant wurden für die Therapie akuter Migräneattacken entwickelt und Rimegepant auch in der Migräneprophylaxe untersucht [3]. Atogepant ist ein oraler, niedermolekularer CGRP-Rezeptor-Antagonist, der in den USA für die Prophylaxe der Migräne zugelassen ist.
Die Wirksamkeit, Sicherheit und Verträglichkeit von Atogepant zur Prophylaxe bei episodischer Migräne wurde in einer Dosisfindungsstudie [4] und einer Phase-III-Studie (ADVANCE) [1] belegt. In der vorliegenden Studie sollten die Wirksamkeit, Sicherheit und Verträglichkeit von Atogepant in der Prophylaxe der chronischen Migräne untersucht werden. Die chronische Migräne ist definiert als 15 oder mehr Kopfschmerztage im Monat, von denen acht die Kriterien für eine Migräne erfüllen.
Patienten und Methodik
Es handelte sich um eine randomisierte, doppelblinde, Placebo-kontrollierte Phase-III-Studie an 142 Kopfschmerzzentren in den USA, Kanada sowie 14 Ländern in Europa und Asien. Erwachsene im Alter von 18 bis 80 Jahren, die seit mindestens einem Jahr an chronischer Migräne litten, wurden nach dem Zufallsprinzip im Verhältnis 1 : 1 : 1 der Behandlung mit zweimal täglich 30 mg Atogepant, einmal täglich 60 mg Atogepant oder Placebo zugewiesen.
Der primäre Endpunkt der Studie war die Veränderung der durchschnittlichen monatlichen Migränetage (MMD) über den 12-wöchigen Behandlungszeitraum. Die primäre Analyse wurde in der modifizierten Intention-to-treat-Population durchgeführt und umfasste alle randomisierten Teilnehmer, die mindestens eine Dosis der Studienintervention erhielten und Daten für einen auswertbaren 4-Wochen-Zeitraum während der doppelblinden Phase lieferten. Die Sicherheitspopulation bestand aus allen Teilnehmern, die mindestens eine Dosis der Studienintervention erhielten.
Ergebnisse
Zwischen März 2019 und Januar 2022 wurden 1489 Teilnehmer auf ihre Eignung geprüft, 711 wurden ausgeschlossen, und 778 Teilnehmer wurden für die Studienteilnahme randomisiert. Die Teilnehmer der Sicherheitspopulation (n = 773) waren zwischen 18 und 74 Jahre alt (Mittelwert 42 Jahre) und zum überwiegenden Anteil (n = 677 [88 %]) weiblich. 84 Teilnehmer brachen die Behandlung während der Studie ab. Die modifizierte Intention-to-treat-Population umfasste 755 Patienten mit Atogepant 30 mg zweimal täglich (n = 253), Atogepant 60 mg einmal täglich (n = 256) und Placebo (n = 246).
Die durchschnittliche Anzahl der Migränetage pro Monat betrug bei Studienbeginn rund 19 Tage. Sie verringerte sich über 12 Wochen um 7,5 Tage mit Atogepant 30 mg zweimal täglich, um 6,9 mit Atogepant 60 mg einmal täglich und um 5,1 mit Placebo. Die mittlere Differenz zu Placebo war für beide Atogepant-Regime statistisch signifikant (Tab. 1). Die 50%-Responderrate, das heißt der Anteil der Patienten mit einer Reduktion der Migränetage um 50 % oder mehr über drei Monate, betrug 26 % in der Placebo-Gruppe, 43 % bei Atogepant 30 mg zweimal täglich und 41 % bei Atogepant 60 mg einmal täglich. Signifikante Ergebnisse zugunsten von Atogepant fanden sich auch für die Lebensqualitätsparameter, die mithilfe des AIM-D (Activity impairment in migraine diary) und des MSQ v2.1 (Migraine specific quality of life questionnaire, Version 2.1) ermittelt wurden.
Tab. 1. Ergebnisse der PROGRESS-Studie (primärer Endpunkt; modifizierte Intention-to-treat-Analyse) [Pozo-Rosich et al., 2023]
Parameter |
Placebo (n = 246) |
Atogepant 30 mg 2-mal täglich (n = 253) |
Atogepant 60 mg 1-mal täglich (n = 256) |
MMD [Tage] |
|||
|
18,9 |
18,6 |
19,2 |
|
–5,1 |
–7,5 |
–6,9 |
|
–2,4 (–3,5; –1,3) p < 0,0001 |
–1,8 (–2,9; –0,8) p = 0,0009 |
MMD: durchschnittliche monatliche Migränetage; 95%-KI: 95%-Konfidenzintervall
Die häufigsten unerwünschten Ereignisse bei Atogepant waren Verstopfung (10,9 % mit 30 mg zweimal täglich, 10 % mit 60 mg einmal täglich und 3 % mit Placebo) sowie Übelkeit (8 %, 10 % bzw. 4 %). Therapieabbrüche wegen Nebenwirkungen wurden bei 4 % in der Placebo-Gruppe und 4 % unter Atogepant beobachtet.
Kommentar
Diese Studie zeigt eine eindeutige und gute Wirksamkeit des oralen Wirkstoffs Atogepant für die Migräneprophylaxe bei Patienten mit chronischer Migräne. Für die Behandlung der chronischen Migräne könnte damit neben den monoklonalen Antikörpern gegen CGRP oder den CGRP-Rezeptor und weiteren Therapieoptionen wie OnabotulinumtoxinA und Topiramat [2] zukünftig eine weitere Therapieoption zur Verfügung stehen. In indirekten Vergleichen ist die Wirksamkeit von Atogepant mit denen der monoklonalen Antikörper vergleichbar. Atogepant würde sich insbesonders für Patienten eignen, die eine Spritzenphobie haben oder bei denen Lokalreaktionen nach der subkutanen Gabe eines monoklonalen Antikörper gegen CGRP auftreten. Derzeit (August 2023) ist Atogepant allerdings in Deutschland noch nicht zur Migräneprophylaxe zugelassen. Die Studie zeigt auch das sehr gute Verträglichkeitsprofil von Atogepant mit den einzig relevanten Nebenwirkungen Obstipation und Übelkeit.
Quelle
Pozo-Rosich P, et al. Atogepant for the preventive treatment of chronic migraine (PROGRESS): a randomised, double-blind, placebo-controlled, phase 3 trial. Lancet 2023, https://doi.org/10.1016/S0140-6736(23)01049-8 (Zugriff am 07.08.2023).
Literatur
1. Ailani J, et al. Atogepant for the preventive treatment of migraine. New Engl J Med 2021;385:695–706.
2. Croop R, et al. Oral rimegepant for preventive treatment of migraine: a phase 2/3, randomised, double-blind, placebo-controlled trial. Lancet 2021;397:51–60.
3. Diener HC, et al. Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne, S1-Leitlinie, DGN und DMKG. In: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.). https://dgn.org/leitlinien2022.
4. Goadsby PJ, et al. Safety, tolerability, and efficacy of orally administered atogepant for the prevention of episodic migraine in adults: a double-blind, randomised phase 2b/3 trial. Lancet Neurol 2020;19:727–37.
Psychopharmakotherapie 2023; 30(05):174-181