L-Dopa-Pharmakotherapie bei der Behandlung des Restless-Legs-Syndroms


Leitlinienumsetzung in der Versorgungswirklichkeit*

Dagmar Drogan, Katrin Schüssel, Berlin, Klaus Berger, Münster, und Claudia Trenkwalder, Kassel

Eine kontinuierliche Behandlung des Restless-Legs-Syndroms (RLS) mit L-Dopa wird in der aktuellen AWMF-Leitlinie aufgrund des hohen Risikos einer Zunahme der Beschwerden (Augmentation) nicht mehr empfohlen. Anhand von AOK-Abrechnungsdaten wurden bei Patientinnen und Patienten mit RLS das Ausmaß, die Behandlungsdauer und -dosis sowie versorgungsrelevante Begleitfaktoren einer kontinuierlichen L-Dopa-Therapie untersucht. Im Studienzeitraum (2013–2021) wurden 143 322 kontinuierliche L-Dopa-Behandlungsepisoden identifiziert, die sich auf 86 191 der eingeschlossenen 335 463 RLS-Patientinnen und -Patienten verteilten. Die meisten L-Dopa-Verordnungen wurden von Ärztinnen und Ärzten der Allgemeinmedizin ausgestellt. Sowohl eine längere Behandlungsdauer als auch eine größere Anzahl verordnender Ärztinnen und Ärzte waren assoziiert mit einer höheren täglichen L-Dopa-Behandlungsdosis und häufigerer Komedikation mit Dopaminagonisten bzw. Opioiden. Diese Ergebnisse könnten Ausdruck einer Augmentation infolge der Langzeit-L-Dopa-Behandlung sein, die dazu führt, dass Kombinationstherapien notwendig werden oder dass der steigende L-Dopa-Bedarf aus mehreren Bezugsquellen gedeckt wird („Ärzte-Hopping“). Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, dass verstärkte Anstrengungen notwendig sind, um in Zukunft eine leitliniengerechte Pharmakotherapie des RLS zu erreichen.
Schlüsselwörter: Restless-Legs-Syndrom, L-Dopa, Augmentation
Psychopharmakotherapie 2023;30:113–9.

Das Restless Legs Syndrome (RLS) bzw. das Syndrom der „unruhigen Beine“ ist eine neurologische Erkrankung. Sie äußert sich durch einen starken Bewegungsdrang, der durch unangenehme Missempfindungen in den Beinen aus-gelöst wird. Die Beschwerden treten typischerweise in Ruhephasen, insbesondere abends oder nachts auf. Bewegung führt – zumindest für die Dauer der Bewegung – zum Rückgang der Symptome. Je nach Schweregrad führt RLS bei den Betroffenen zu einer teils erheblichen Beeinträchtigung der Schlaf- und Lebensqualität [8].

Als Therapieoption erster Wahl wurde in der 2012 veröffentlichten S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) die Behandlung mit Dopaminagonisten oder der Dopaminvorstufe Levodopa (L-Dopa) empfohlen [2]. Bereits in dieser Leitlinie wurde jedoch auf das Augmentationsrisiko unter dopaminerger Therapie hingewiesen, insbesondere unter L-Dopa-Behandlung. Unter Augmentation wird eine medikamenteninduzierte, anhaltende Verschlechterung des Schweregrades der RLS-Symptome inklusive deren zeitliche bzw. lokale Ausweitung verstanden. Einer Metaanalyse aus dem Jahr 2016 zufolge entwickelten 6 % aller mit Dopaminagonisten behandelten RLS-Patientinnen und -Patienten eine Augmentation (95 % Konfidenzintervall [KI] 4,1–8,1 %), bei Behandlung mit L-Dopa betrug die Augmentationsrate 27 % (95 % KI 12,3–49,5 %) [7]. Im September 2022 wurde eine von der DGN und der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM) überarbeitete S2k-Leitlinie zum RLS veröffentlicht. Aufgrund des hohen Augmentationsrisikos wird L-Dopa in dieser Leitlinie nicht mehr zur kontinuierlichen Behandlung des RLS empfohlen. Als akzeptabel wird eine maximale Tagesdosis von 100 mg L-Dopa eingestuft – und dies auch nur im Rahmen einer intermittierenden Therapie oder bei Bedarf in bestimmten Situationen (Flugreisen, Konferenzteilnahme, Theaterbesuche) [6].

Für Deutschland existieren bislang keine systematisch erhobenen wissenschaftlichen Daten zur medikamentösen Versorgung von RLS-Patientinnen und -Patienten. Daher lässt sich nicht beurteilen, inwiefern die Neubewertung der L-Dopa-Therapie in Konflikt mit der Versorgungsrealität steht. Mangelndes Wissen über die Augmentationsproblematik und der mit RLS einhergehende Leidensdruck könnte sowohl ärztliche Behandelnde als auch Betroffene motivieren, L-Dopa kontinuierlich einzusetzen und auf eine Zunahme der RLS-Symptome mit einer Dosissteigerung zu reagieren, obwohl dies die Beschwerden nur zeitweise lindert und langfristig sogar verstärkt. Ziel dieses Beitrages ist es daher, die Häufigkeit einer den aktuellen Leitlinien widersprechenden Behandlung des RLS mit L-Dopa zu untersuchen. Auf der Grundlage von Abrechnungsdaten aller AOK-Versicherten, bei denen in den Jahren 2013–2020 ein RLS diagnostiziert wurde, beantwortet der Beitrag die folgenden Fragen:

1. Wie häufig und wie lang sind kontinuierliche Behandlungsepisoden mit > 100 mg L-Dopa pro Tag?

2. Auf wie viele ärztliche Behandelnde und welche Facharztgruppen lassen sich die Verordnungen im Rahmen einer kontinuierlichen L-Dopa-Behandlung zurückführen?

Methodik

Die Analyse basiert auf den bundesweiten, anonymisierten Abrechnungsdaten der AOK der Jahre 2013 bis 2021. Insgesamt waren in diesen Jahren zwischen 24,3 und 27,1 Mio. Menschen bei der AOK versichert [1]. Für die Studie fanden die nach ICD-10 GM kodierten Diagnosen aus ambulanten und stationären Abrechnungsdaten (§ 295 und § 301 SGB V) sowie ambulanten Krankenhaus-Abrechnungsdaten Verwendung. Ergänzend wurden Informationen aus den Arzneiverordnungsdaten nach § 300 SGB V und den Versichertenverzeichnissen nach § 288 SGB V genutzt.

Die Studie ist eine Querschnittsanalyse aller kontinuierlichen L-Dopa-Behandlungsepisoden von Personen ohne Parkinson, die in den Jahren 2013 bis 2020 die Einschlusskriterien für ein RLS erfüllten und vor bzw. nach der RLS-Indexdiagnose für mindestens vier bzw. drei weitere Quartale bei der AOK versichert waren (Abb. 1).

Die Einschlusskriterien für ein RLS umfassten dabei:

  • mindestens eine stationäre Haupt-/Nebendiagnose ICD-10 G25.81 oder
  • in mindestens zwei von vier aufeinander folgenden Quartalen eine gesicherte ambulante Diagnose ICD-10 G25.81, wobei Diagnosen aus dem ambulanten Sektor und aus dem ambulanten Krankenhaus-Bereich als gleichwertig eingestuft wurden.

Abb. 1. Flussdiagramm zur Studienpopulation und zur Analyseeinheit

Alle Arzneiverordnungen der Wirkstoffgruppe „Dopa und Dopa-Derivate“ gemäß anatomisch-therapeutisch-chemischer Klassifikation (ATC) N04BA ab dem Quartal der Indexdiagnose wurden berücksichtigt. Die Verordnungen wurden über das Abgabedatum in der Apotheke einem Quartal zugeordnet. Für jeden Versicherten wurden Quartale mit Verordnungen über mindestens 10 000 mg L-Dopa ermittelt (entsprechend rechnerisch mehr als 100 mg L-Dopa pro Tag). Eine der aktuellen Leitlinien-Empfehlung widersprechende kontinuierliche Behandlungsepisode mit täglich mehr als 100 mg L-Dopa wurde definiert als:

  • Mindestens drei aufeinander folgende Quartale, in denen jeweils ≥ 10 000 mg L-Dopa je Quartal verordnet wurden oder
  • Mindestens zwei von drei Quartalen mit einer L-Dopa-Verordnung, wobei dem Quartal ohne L-Dopa-Verordnung ein Quartal mit ≥ 20 000 mg L-Dopa vorausgehen und ein Quartal mit ≥ 10 000 folgen muss, um halbjährliche Verordnungszyklen zu berücksichtigen.

Die Behandlungsdauer entspricht der Summe aller Quartale einer kontinuierlichen Behandlungsepisode. Je Episode wurde die durchschnittliche tägliche L-Dopa-Behandlungsdosis als Quotient aus summierter Wirkstoffmenge und Behandlungsdauer in Tagen berechnet. Aufgrund des schubweisen Krankheitsverlaufes oder temporärer Unterbrechung der medikamentösen Therapie kann eine versicherte Person mehrere kontinuierliche Behandlungsepisoden aufweisen.

Pro kontinuierliche Behandlungsepisode wurde der Anteil von Quartalen ermittelt, in denen mindestens eine Verordnung der folgenden RLS-relevanten Komedikation vorlag:

  • Dopaminagonisten: ATC-Codes N04BC04 (Ropinirol), N04BC05 (Pramipexol), N04BC09 (Rotigotin)
  • Gabapentinoide: ATC-Codes N03AX12 (Gabapentin), N03AX16 (Pregabalin)
  • Opioide: ATC-Code N02A

Für Auswertungen zur Anzahl und Fachrichtung der verordnenden Ärztinnen und Ärzte wurde die auf den Arzneiverordnungen vermerkte LANR (lebenslange Arztnummer) verwendet und darüber die folgenden Facharztgruppen definiert: Allgemeinmedizin, Neurologie, Sonstige.

Vorerkrankungen der Behandlungsfälle wurden in den vier Quartalen vor Beginn einer kontinuierlichen L-Dopa-Behandlungsepisode erfasst. Es wurden ausschließlich Vorerkrankungen berücksichtigt, für die eine stationäre Haupt-/Nebendiagnose oder eine in mindestens zwei Quartalen dokumentierte, gesicherte ambulante Diagnose vorlag.

Die Vorgaben der Leitlinie Gute Praxis Sekundärdatenanalyse (GPS) wurden für die Auswertungen des vorliegenden Beitrages beachtet [9].

Ergebnisse

Ausgewertet wurden 143 322 Fälle kontinuierlicher L-Dopa-Behandlungsepisoden von 86 191 Versicherten, die in den Jahren 2013 bis 2020 eine den Einschlusskriterien entsprechende RLS-Diagnose aufwiesen. Zum Beginn der Behandlungsepisoden lag das Alter der Betroffenen bei durchschnittlich 71,0 ± 13,4 Jahren, mit einem hohen Anteil an Vorerkrankungen. Der Anteil von Behandlungsquartalen mit Komedikation betrug im Mittel 43,9 % (Tab. 1). Durchschnittlich wurden während der kontinuierlichen Behandlungsepisoden 152,1 ± 74,8 mg L-Dopa pro Tag verordnet. Bei 12 854 Behandlungsepisoden bzw. 12 213 Versicherten gab es während der kontinuierlichen Behandlungsepisoden mindestens eine Phase von drei Quartalen, in denen die durchschnittliche L-Dopa-Dosis über 300 mg/d lag.

Tab. 1. Charakteristika der Behandlungsfälle

Behandlungsfälle mit kontinuierlicher L-Dopa-Therapie (n = 143 322)

Alter [Jahre] (MW±SD)

71,0 ± 13,4

Frauen [%]

75,6

Anteil Behandlungsquartale mit Komedikation (MW±SD)

Dopaminagonisten

12,0 ± 28,4

Gabapentinoide

16,7 ± 33,2

Opioide

27,4 ± 39,6

Komedikation insgesamt*

43,9 ± 43,7

Vorerkrankungen
(ICD-10-Code) [%]

Diabetes (E10–E14)

36,7

Schilddrüsenkrankheit (E00–E07)

34,5

Adipositas (E66)

26,4

Depression (F32, F33, F34.1, F38.1)

39,2

Polyneuropathie (G60–G64)

27,2

Multiple Sklerose (G35–G37)

1,3

Hypertonie (I10–I15)

77,0

Koronare Herzkrankheit (I20–I25)

26,7

Niereninsuffizienz (N18.4, N18.5, Z49, Z99.2)

5,1

*Dopaminagonisten oder Gapapentinoide oder Opioide; MW: Mittelwert; SD: Standardabweichung

Verordnungsdauer und durchschnittliche L-Dopa-Dosis

Etwa ein Drittel der Behandlungsepisoden dauerte maximal 4 Quartale (n = 51 693, 36,1 %), ein weiteres Drittel zwischen 5 und 8 Quartalen (n = 48 894, 34,1 %; Abb. 2). Bei Behandlungsepisoden, die mehr als 12 Quartale umfassten, lag die mittlere L-Dopa-Behandlungsdosis mit 215,2 ± 110,5 mg pro Tag signifikant über den Durchschnitten kürzerer Episoden. Mehr als 12 Quartale andauernde Behandlungsepisoden wiesen den größten Anteil an Quartalen auf, in denen ergänzend eine Verordnung für Dopaminagonisten, Gabapentinoide oder Opioide vorlag.

Abb. 2. Anzahl kontinuierlicher Behandlungsepisoden, Komedikation und mittlere Behandlungsdosis mit L-Dopa in Abhängigkeit von der Dauer der Behandlungsepisode (* Dopaminagonisten oder Gabapentinoide oder Opioide; MW: Mittelwert; SD: Standardabweichung)

Verordnende Arztgruppen und durchschnittliche L-Dopa-Dosis

Die L-Dopa-Therapie von RLS-Patientinnen und -Patienten erfolgte überwiegend über Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner. So gingen insgesamt 62,6 % aller L-Dopa-Verordnungen, die während kontinuierlicher Behandlungsepisoden ausgestellt wurden, auf diese Facharztgruppe zurück. Weitere 29,8 % der L-Dopa-Verordnungen stammten von Neurologinnen und Neurologen. In den meisten Fällen ließen sich alle L-Dopa-Verordnungen, die innerhalb einer kontinuierlichen Behandlungsepisode ausgestellt wurden, einer einzigen Facharztgruppe zuschreiben. So lagen bei 52,2 % aller kontinuierlichen Behandlungsepisoden ausschließlich L-Dopa-Verordnungen von Allgemeinmedizinerinnen und -medizinern vor (Abb. 3). Diese Behandlungsepisoden waren zugleich durch einen vergleichsweisen niedrigen Anteil an Quartalen mit zusätzlicher Verordnung von Komedikation charakterisiert. Weitere 18,8 % aller kontinuierlichen Behandlungsepisoden waren ausschließlich auf L-Dopa-Verordnungen von Neurologinnen und Neurologen zurückzuführen. Bei circa einem Viertel aller kontinuierlichen Behandlungsepisoden stammten die L-Dopa-Verordnungen von mehreren Facharztgruppen. In diesen Behandlungsepisoden ergaben die Verordnungen eine tägliche Behandlungsdosis von 184,4 ± 99,1 mg L-Dopa. Dieser Wert liegt deutlich über den Werten von Behandlungsepisoden mit nur einer verordnenden Facharztgruppe.

Abb. 3. Anzahl kontinuierlicher Behandlungsepisoden, Komedikation und mittlere tägliche Behandlungsdosis mit L-Dopa in Abhängigkeit von der verordnenden Facharztgruppe (* Dopaminagonisten oder Gabapentinoide oder Opioide; MW: Mittelwert; SD: Standardabweichung)

Anzahl Verordnender und durchschnittliche L-Dopa-Dosis

Unabhängig von der Facharztrichtung hatte die durchschnittliche Anzahl verordnender Ärztinnen und Ärzte pro Quartal einen großen Einfluss darauf, wie viel L-Dopa die Betroffenen während einer kontinuierlichen Behandlungsepisode bezogen. So betrug die mittlere Behandlungsdosis in Episoden mit mehr als zwei verordnenden Personen je Quartal 461,9 ± 281,5 mg L-Dopa pro Tag (Abb. 4). Dieser Wert ist etwa drei Mal so hoch wie der Wert in Episoden, in denen durchschnittlich nur eine Ärztin bzw. ein Arzt je Quartal die Verordnungen ausstellte. Je mehr Ärztinnen und Ärzte für die L-Dopa-Verordnungen während der Behandlungsepisode konsultiert wurden, desto höher lag auch der Anteil der Quartale mit zusätzlicher Verordnung von Dopaminagonisten oder Opioiden.

Abb. 4. Anzahl kontinuierlicher Behandlungsepisoden, Komedikation und mittlere tägliche Behandlungsdosis mit L-Dopa in Abhängigkeit von der durchschnittlichen Anzahl verordnender Ärztinnen und Ärzte je Quartal (* Dopaminagonisten oder Gabapentinoide oder Opioide; MW: Mittelwert; SD: Standardabweichung)

Diskussion

Die vorliegende Analyse von AOK-Abrechnungsdaten der Jahre 2013 bis 2021 zeigt, dass ein Viertel (86 191) der 335 463 diagnostizierten RLS-Patientinnen und -Patienten im Krankheitsverlauf mindestens eine den aktuellen Leitlinien-Empfehlungen widersprechende, kontinuierliche L-Dopa-Behandlung erhielt. Dabei wurden die L-Dopa-Verordnungen deutlich häufiger von Ärztinnen und Ärzten der Allgemeinmedizin als der Neurologie ausgestellt.

Etwa 30 % aller kontinuierlichen Behandlungsepisoden dauerten länger als zwei Jahre. Sowohl die mittlere L-Dopa-Behandlungsdosis als auch der Anteil der Behandlungsquartale mit Komedikation stiegen mit längerer Behandlungsdauer und mit der Anzahl verordnender Ärztinnen bzw. Ärzte je Quartal.

Die Daten legen nahe, dass in Deutschland die zugelassene Langzeitbehandlung der RLS-Symptome mit L-Dopa sehr verbreitet ist. Dass die Versorgungsrealität demzufolge deutlich von den 2022 veröffentlichten Leitlinien-Empfehlungen abweicht, ist nicht überraschend. Noch in der 2012 bis 2017 gültigen ersten RLS-Leitlinie wurde eine tägliche Dosis von maximal 200–300 mg L-Dopa unter Beachtung möglicher Augmentationssymptome als Therapieoption erster Wahl eingestuft [2]. Allerdings wurde auch diese Empfehlung vergleichsweise häufig überschritten. So lagen bei 12 854 Behandlungsepisoden (bzw. 12 213 Versicherten) Phasen von mindestens drei Quartalen vor, in denen die mittlere L-Dopa-Dosis 300 mg/d überschritt. Zwischen 2018 und 2022 existierte in Deutschland keine gültige Leitlinie für die Behandlung des RLS und so hätten sich die behandelnden Ärztinnen und Ärzte für eine Neubewertung der L-Dopa-Therapie mit internationalen Konsensus-Leitlinien auseinandersetzen müssen:

“Levodopa may be used for intermittent treatment at most two to three times a week, but should not be used for daily treatment, given the high risk of augmentation with this medication.” [3]

Die vorliegenden Studiendaten zeigen, dass dies nicht in ausreichendem Maße geschehen ist und dass Handlungsbedarf besteht, um die medikamentöse Therapie von RLS-Betroffenen zu verbessern.

Ein hoher Prozentsatz der mit L-Dopa behandelten RLS-Patientinnen und -Patienten entwickelt eine Augmentation [7], wobei das Augmentationsrisiko mit zunehmender Behandlungsdauer und höherer L-Dopa-Dosierung oder anderer dopaminerger Therapie steigt [4, 5]. Auf Augmentationssymptome reagieren die Betroffenen und die Behandelnden oftmals mit einer dopaminergen Dosissteigerung, die kurzzeitig Linderung bringt, langfristig jedoch zu einem Teufelskreislauf aus Dosissteigerung und medikamenteninduzierter Zunahme der RLS-Beschwerden führt. Zwar lassen sich mit Routinedaten keine Augmentationssymptome erfassen, jedoch können die Ergebnisse der vorliegenden Studie im Zusammenhang mit Augmentation interpretiert werden. So lag die durchschnittliche L-Dopa-Behandlungsdosis und der Anteil der Behandlungsquartale mit zusätzlicher Dopaminagonisten-Verordnung bei langen Behandlungsepisoden über dem Niveau kürzerer Episoden. Außerdem zeigt sich ein deutlicher positiver Zusammenhang zwischen der Anzahl verordnender Ärztinnen und Ärzte je Quartal und der durchschnittlichen L-Dopa-Behandlungsdosis bzw. dem Anteil der Behandlungsquartale mit Komedikation. Hier könnte der mit Augmentation einhergehende Leidensdruck dazu geführt haben, dass die Betroffenen weitere Ärztinnen und Ärzte konsultierten und sich die Verordnungen für L-Dopa und zusätzliche Dopaminagonisten regelmäßig aus mehreren Praxen besorgten („Ärzte-Hopping“). In diesem Fall ließe sich die Versorgungssituation für RLS durch eine koordinierte und aufeinander abgestimmte ambulante Behandlung verändern, deren Grundvoraussetzung ein Informationsfluss zwischen den behandelnden Ärztinnen und Ärzten ist (z. B. elektronische Patientenakte).

Augmentation geht bei den Betroffenen mit einem starken Leidensdruck einher [8] und verursacht durch Arbeitsausfälle und den medizinischen Behandlungsbedarf hohe, vermeidbare Kosten [10]. Eine Therapie, die das Augmentationsrisiko senkt, ist somit sowohl aus der Sicht der Betroffenen als auch aus ökonomischen Überlegungen erstrebenswert. Die aktuelle, 2022 bis 2027 gültige RLS-Leitlinie ist hierbei ein wichtiger Schritt, um die Versorgungssituation zu verbessern, da sie eine Reihe von Maßnahmen zur Prävention und Behandlung der Augmentation benennt. So sollte laut dieser Leitlinie nicht nur auf eine kontinuierliche L-Dopa-Behandlung verzichtet werden, auch dopaminerge Kombitherapien sind nicht zur Behandlung eines RLS zugelassen und eine kontinuierliche medikamentöse Therapie sollte spätestmöglich und mit der niedrigsten wirksamen Dosierung eines Dopaminagonisten begonnen werden. Für die Behandlung der Augmentation empfiehlt die Leitlinie eine Kontrolle des Eisenstoffwechsels und ggf. Eisensubstitution sowie eine Umstellung der Therapie von L-Dopa auf Dopaminagonisten, falls notwendig in Kombination mit Opioiden [6]. Durch eine konsequente Umsetzung dieser Empfehlungen ließe sich das Augmentationsrisiko bei RLS-Patientinnen und -Patienten stark reduzieren. Die Zielgruppe der aktuellen Leitlinie sind jedoch Neurologinnen und Neurologen, die laut der vorliegenden Studie nur bei 18,8 % aller kontinuierlichen L-Dopa-Behandlungsepisoden die alleinige verordnende Facharztgruppe darstellten. Nahezu drei Mal so viele Behandlungsepisoden, nämlich 52,2 %, gingen ausschließlich auf L-Dopa-Verordnungen von Allgemeinmedizinerinnen und -medizinern zurück. Sie sind somit die wichtigste Zielgruppe bei der Umsetzung einer leitliniengerechten RLS-Behandlung und müssen dementsprechend für die Augmentationsproblematik sensibilisiert werden. Neben fachgruppenspezifischer Information könnten Entscheidungsunterstützungssysteme die behandelnden Ärztinnen und Ärzte bei der Umsetzung einer leitliniengerechten Therapie unterstützen.

Diese retrospektive Sekundärdatenanalyse hat Limitationen. So stellen die in die Auswertung eingeflossenen Personen eher eine Gruppe mit höherem Symptom-Schweregrad dar, da die in Krankenkassendaten dokumentierten RLS-Diagnosen und Verschreibungen einer Inanspruchnahme des Gesundheitssystems bedürfen. Aus den Arzneiverordnungsdaten lässt sich die Menge und Stärke der Medikamente ableiten, die in der Apotheke bezogen wurden. Allerdings lassen die Arzneiverordnungsdaten keinen Rückschluss auf die verordnungsrelevante Diagnose zu. Da Morbus Parkinson als Ausschlussdiagnose definiert wurde, sind die Verordnungen für L-Dopa und Dopaminagonisten ziemlich sicher auf RLS zurückzuführen. Anders sieht es bei den Gabapentinoiden und den Opioiden aus, die in dieser Studie als Komedikation ausgewertet wurden und die neben RLS bei einer Vielzahl an Erkrankungen indiziert sein könnten. Außerdem existieren in den Arzneiverordnungsdaten keine Informationen zur ärztlich verordneten Dosis und es ist unklar, inwiefern die Medikamente regelmäßig genommen wurden. Sowohl die Behandlungsdauer als auch die Behandlungsdosis sind somit Schätzwerte, die mit entsprechender Vorsicht zu interpretieren sind. Für die vorliegende Arbeit wurde eine konservative Definition kontinuierlicher Behandlungsepisoden gewählt. Die Anforderung von mindestens drei aufeinander folgenden Quartalen mit einer Gesamtverordnung von ≥ 30 000 mg L-Dopa (durchschnittlich also ≥ 110 mg L-Dopa pro Tag) beschränkt die Studienpopulation auf Personen, die über einen längeren Zeitraum behandlungsbedürftig sind. In diesem Fall dürften die RLS-Symptome in der Regel so stark ausgeprägt sein, dass die Betroffenen ein großes Eigeninteresse an einer regelmäßigen, d. h. täglichen L-Dopa-Einnahme haben. Durch Bevorratung, Krankenhausaufenthalte und die Einnahme von exakt 100 mg L-Dopa/d könnte die Dauer kontinuierlicher Behandlungsepisoden eher unter- als überschätzt worden sein. Außerdem lässt die durchschnittliche L-Dopa-Behandlungsdosis innerhalb einer Behandlungsepisode keinen Rückschluss auf augmentationsbedingte Dosissteigerungen zu. Auch wurden die Analysen nicht auf L-Dopa-Monotherapien beschränkt – und der beobachtete Anstieg der Komedikation könnte der Grund dafür sein, dass die Behandlungsdosis mit L-Dopa trotz Augmentation über viele Quartale auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau zu bleiben scheint. Zugleich zeigen die Ergebnisse zur ansteigenden Komedikation anhand von „real world data“ die Ineffizienz der L-Dopa-Monotherapie über lange Behandlungszeiträume.

Die vorliegende Arbeit zeichnet sich durch eine sehr große zugrunde liegende RLS-Studienpopulation aus. Durch die Verknüpfung von Diagnose- und Arzneiverordnungsdaten konnten erstmals Erkenntnisse zum Ausmaß kontinuierlicher L-Dopa-Therapien in Deutschland gewonnen und im Versorgungskontext diskutiert werden. Auch international existieren keine vergleichbaren Studien. Unsere Daten zeigen, dass im AOK-Versichertenkollektiv der Jahre 2013 bis 2021 etwa 86 000 RLS-Patientinnen und -Patienten zu lange mit L-Dopa behandelt wurden und dass hier Handlungsbedarf besteht. Ausgehend von den AOK-Versichertenzahlen mit 24–27 Mio. Versicherten ergibt sich extrapoliert auf die Bevölkerung von ca. 83 Mio. Menschen in Deutschland eine Zahl von mehr als 250 000 Betroffenen. Zugleich adressiert die Studie mit L-Dopa nur einen Aspekt der leitliniengerechten Pharmakotherapie des RLS. Aufgrund zu hoch dosierter Dopaminagonisten und dopaminerger Kombinationstherapien dürfte es eine Vielzahl weiterer Behandlungsfälle geben, die unnötigerweise einem erhöhten Augmentationsrisiko ausgesetzt wurden bzw. eine Augmentation entwickelt haben. Und auch die Unterdosierung alternativ bzw. in Kombinationstherapie einsetzbarer Opioide und Gabapentinoide stellt aufgrund ungenügender Symptomkontrolle ein weiteres potenzielles Versorgungsproblem dar.

Die vorliegende Untersuchung ist ein wichtiger und erster Schritt, die tatsächliche Versorgungssituation von RLS Patientinnen und -Patienten unter Pharmakotherapie realistisch außerhalb von klinischen monotherapeutischen Studien abzubilden. Sie kann als Basis genutzt werden, um in Folgestudien zu bewerten, welchen Einfluss die neue Leitlinie auf die Versorgungsrealität hat. Erstmals wird die oft fatale Situation mit Daten belegt, die durch eine Augmentation entstehen und zu dem beschriebenen Ärzte-Hopping führen kann. Folglich müssen dringend verstärkte Anstrengungen unternommen werden, um in Zukunft eine leitliniengerechte Pharmakotherapie des RLS zum Wohl der Betroffenen zu erreichen.

Literatur

1. Bundesministerium für Gesundheit. Mitglieder und Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). URL: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/krankenversicherung/zahlen-und-fakten-zur-krankenversicherung/mitglieder-und-versicherte.html (abgerufen am 16.03.2023)

2. Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie: Restless-Legs-Syndrom (RLS) und Periodic Limb Movement Disorder (PLMD) (Entwicklungsstufe: S1). 2012.

3. Garcia-Borreguero D, Silber MH, Winkelman JW, et al. Guidelines for the first-line treatment of restless legs syndrome/Willis-Ekbom disease, prevention and treatment of dopaminergic augmentation: a combined task force of the IRLSSG, EURLSSG, and the RLS-foundation. Sleep Med 2016;21:1–11. DOI: 10.1016/j.sleep.2016.01.017

4. Heim B, Ellmerer P, Stefani A, et al. Factors associated with augmentation in patients with restless legs syndrome. Eur J Neurol 2022;29(4):1227–31. DOI: 10.1111/ene.15221

5. Hogl B, Garcia-Borreguero D, Kohnen R, et al. Progressive development of augmentation during long-term treatment with levodopa in restless legs syndrome: results of a prospective multi-center study. J Neurol 2010;257(2):230–7. DOI: 10.1007/s00415-009-5299-8.

6. Kommission Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM). Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie: Restless Legs Syndrom (Entwicklungsstufe: S2k). 2022.

7. Liu GJ, Wu L, Wang SL, et al. Incidence of augmentation in primary restless legs syndrome patients may not be that high: Evidence from a systematic review and meta-analysis. Medicine (Baltimore) 2016;95(2):e2504. DOI: 10.1097/MD.0000000000002504.

8. Sauerbier A, Sivakumar C, Klingelhoefer L, et al. Restless legs syndrome – the under-recognised non-motor burden: a questionnaire-based cohort study. Postgrad Med 2019;131(7):473–8. DOI: 10.1080/00325481.2019.1658506.

9. Swart E, Gothe H, Geyer S et al. Gute Praxis Sekundärdatenanalyse (GPS): Leitlinien und Empfehlungen. Gesundheitswesen (3. Fassung; Version 2012/2014) 2015.

10. Trenkwalder C, Tinelli M, Sakkas GK, et al. Socioeconomic impact of restless legs syndrome and inadequate restless legs syndrome management across European settings. Eur J Neurol 2021;28(2):691–706. DOI: 10.1111/ene.1458.

*Nachdruck aus: Günster C, Klauber J, Klemperer D, Nothacker M, Robra BP, Schmuker C (Hrsg.). Versorgungs-Report. Leitlinien – Evidenz für die Praxis. MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Berlin, 2023, mit freundlicher Genehmigung.

Dr. P. H. Dagmar Drogan, Wissenschaftliches Institut der AOK (WIdO), Rosenthaler Str. 31, 10832 Berlin, E-Mail: Dagmar.Drogan@wido.bv.aok.de

Dr. Katrin Schüssel, Wissenschaftliches Institut der AOK (WIdO), Rosenthaler Str. 31, 10832 Berlin

Univ.-Prof. Dr. med. Klaus Berger, MPH, M.Sc., Institut für Epidemiologie und Sozialmedizin der Universität, Albert-Schweitzer-Campus 1, Geb. D3, 48149 Münster

Prof. Dr. med. Claudia Trenkwalder, Leiterin Paracelsus Kompetenznetzwerk Parkinson und Bewegungsstörungen, ParacelsusElena-Klinik Kassel, Klinikstr. 16, 34128 Kassel

L-Dopa pharmacotherapy for the treatment of restless legs syndrome. Guideline implementation in real-world health care

Due to high risk of worsening symptoms (augmentation), the current guidelines do not recommend continous use of L-Dopa for the treatment of restless legs syndrome (RLS). Using administrative claims data of the AOK we analyzed extent, duration, treatment dose and accompanying factors during continuous L-Dopa treatment episodes. During the study period (2013–2021), we observed 143,322 such episodes in 86,191 of 335,463 eligible RLS-patients. The majority of L-Dopa prescriptions were issued by general practitioners. Both longer duration of the treatment episode and a higher number of prescribing physicians were associated with higher daily dose of L-Dopa and more co-medication with dopamine agonists and opioids, respectively. These findings may reflect augmentation due to long-term treatment with L-Dopa, possibly resulting in need for co-medication or ‚doctor shopping‘ in order to meet the higher demand for L-Dopa. The results of our study show that greater efforts are necessary to achieve guideline-adherent pharmacotherapy of RLS.

Key words: Restless legs syndrome, L-Dopa, frequency of prescription, physician category, augmentation

Psychopharmakotherapie 2023; 30(04):113-119