Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Essen
Die Elektrokrampftherapie (EKT) hat sich seit fast 80 Jahren als eine der am stärksten und schnellsten wirksamen Strategien zur Behandlung therapieresistenter schwerer Depressionen erwiesen. Aufgrund der begrenzten Verfügbarkeit und der Bedenken hinsichtlich der potenziell negativen Auswirkungen auf die kognitiven Fähigkeiten wird die EKT allerdings (zu) selten eingesetzt. Ketamin, ein N-Methyl-D-aspartat-(NMDA-)Rezeptorantagonist, ist als Sedativum, Analgetikum und Allgemeinanästhetikum zugelassen. In den letzten 20 Jahren wurde beobachtet, dass Ketamin intravenös in subanästhetischen Dosen von 0,5 mg pro Kilogramm Körpergewicht (KG) bei Patienten mit schweren depressiven Störungen und behandlungsresistenten schweren Depressionen eine rasche antidepressive Wirkung zeigt [2, 3]. Das bietet eine attraktive Alternative zur EKT, da die Behandlung keine Vollnarkose erfordert und nicht mit Gedächtnisstörungen verbunden ist. Ketamin hat jedoch ein erhebliches Abhängigkeitspotenzial. Sowohl die Elektrokrampftherapie als auch die subanästhetische intravenöse Ketamin-Behandlung werden derzeit bei therapieresistenten schweren Depressionen eingesetzt, jedoch ist die Vergleichbarkeit der Wirksamkeit der beiden Behandlungen nach wie vor unklar.
Studiendesign
Es handelte sich um eine offene, randomisierte Nichtunterlegenheitsstudie mit Patienten, die wegen einer behandlungsresistenten schweren Depression an eine Klinik überwiesen wurden, die die EKT als Therapie anbietet. Es wurden Patienten mit behandlungsresistenter schwerer Depression ohne begleitende Psychose rekrutiert und im Verhältnis 1 : 1 für die Behandlung mit Ketamin oder EKT randomisiert. Während einer anfänglichen dreiwöchigen Behandlungsphase erhielten die Patienten entweder dreimal pro Woche eine EKT oder zweimal pro Woche Ketamin in einer Dosis von 0,5 mg/kg KG über 40 Minuten.
Der primäre Endpunkt der Studie war das Ansprechen auf die Behandlung am Ende dieser dreiwöchigen Behandlungsphase. Ansprechen war definiert als eine Verringerung der Punktzahl auf dem 16 Items umfassenden Quick Inventory of Depressive Symptomatology-Self-Report um ≥ 50 % gegenüber dem Ausgangswert. Die Punktzahl dieses Instruments reicht von 0 bis 27, wobei höhere Punktzahlen eine schwerere Depression anzeigen. Die Nichtunterlegenheitsgrenze der statistischen Analyse betrug –10 Prozentpunkte (d. h., der Anteil der auf Ketamin ansprechenden Patienten sollte nicht mehr als 10 Prozentpunkte unter dem Anteil der auf EKT ansprechenden Patienten liegen). Zu den sekundären Endpunkten gehörten die Ergebnisse von Gedächtnistests und die von den Patienten angegebene Lebensqualität.
Patienten, die auf die Behandlung ansprachen, wurden für sechs Monate weiter beobachtet und erhielten in dieser Zeit EKT oder Ketamin nach Verordnung des betreuenden Arztes.
Ergebnisse
Insgesamt wurden 403 Patienten an fünf US-amerikanischen Kliniken randomisiert; 200 Patienten wurden der Ketamin-Gruppe und 203 der EKT-Gruppe zugewiesen. Nachdem sich 38 Patienten vor Beginn der zugewiesenen Behandlung zurückgezogen hatten (n = 35) oder für keine Endpunkterhebung zur Verfügung standen (n = 3), bestand die modifizierte Intention-to-treat-Kohorte aus 195 Patienten mit Ketamin-Behandlung und 170 Patienten mit EKT. Die Patienten hatten initial einen QIDS-SR-16-Score von 18 Punkten.
Insgesamt sprachen 55,4 % der Patienten in der Ketamin-Gruppe und 41,2 % der Patienten in der EKT-Gruppe auf die Behandlung an. Der Unterschied betrug 14,2 Prozentpunkte (95%-Konfidenzintervall 3,9–24,2; p < 0,001 für die Nichtunterlegenheit von Ketamin gegenüber der EKT).
Die EKT war tendenziell mit einer Verschlechterung der Gedächtnisleistung nach drei Wochen Behandlung verbunden: Die mittlere Abnahme des T-Scores für die verzögerte Erinnerung im Hopkins Verbal Learning Test-Revised betrug –0,9 ± 1,1 in der Ketamin-Gruppe und –9,7 ± 1,2 in der EKT-Gruppe mit allmählicher Erholung während der Nachbeobachtung. Die von den Patienten angegebene Verbesserung der Lebensqualität war in den beiden Studiengruppen vergleichbar. Die EKT wurde mit muskuloskelettalen Nebenwirkungen in Verbindung gebracht, während Ketamin mit dissoziativen Symptomen verbunden war.
Kommentar
Diese sehr wichtige Studie zeigt, dass Ketamin im Vergleich zu einer EKT bei Patienten mit therapierefraktärer schwerer Depression statistisch nicht unterlegen ist und tendenziell sogar besser wirksam ist, soweit diese offene Studie konfirmatorische Schlussfolgerungen erlaubt. Der große Vorteil der Gabe von Ketamin ist, dass keine Narkose notwendig ist wie bei der EKT und dass es nicht zu kognitiven Störungen kommt. Darüber hinaus kann die Ketamin-Therapie an Krankenhäusern durchgeführt werden, die keine Möglichkeit für eine EKT haben. Eine kleinere Studie in Europa hatte allerdings einen Trend dahingehend gezeigt, dass die EKT besser wirksam war als Ketamin [1]. Diese Studie mit 186 Patienten wurde aber bei Patienten durchgeführt, die stationär behandelt wurden, während für die hier referierte pragmatische Studie ganz überwiegend ambulante Patienten rekrutiert wurden. Weitere wichtige, noch zu untersuchende Fragen sind unter anderem, wie lange der Therapieeffekt anhält und ob es Unterschiede in der Rückfallrate zwischen den beiden Therapieansätzen gibt.
Quelle
Anand A, et al. Ketamine versus ECT for nonpsychotic treatment-resistant major depression. N Engl J Med 2023; May 25, DOI: 10.1056/NEJMoa2 302 399.
Literatur
1. Ekstrand J, et al. Racemic ketamine as an alternative to electroconvulsive therapy for unipolar depression: A randomized, open-label, non-inferiority trial (KetECT). Int J Neuropsychopharmacol 2022;25(5):339–49.
2. Reif A, et. al. Klinische Anwendung und Stellenwert von Esketamin im Rahmen der aktuellen Therapieoptionen. Psychopharmakotherapie 2023;(Suppl. 20):2–12.
3. Zarate CA, Jr., et al. A randomized trial of an N-methyl-D-aspartate antagonist in treatment-resistant major depression. Arch Gen Psychiatry 2006;63(8):856–64.
Psychopharmakotherapie 2023; 30(04):131-142