Gerd Laux, Waldkraiburg/München
„Volkskrankheit“ Depression – depressive Störungen stehen in Deutschland an der Spitze von Krankschreibungen und Frühberentung mit gravierenden sozioökonomischen Folgen [9, 39]. Aktuell stehen Depressionen und „Burnout“ auch im Fokus der Gesundheits- und Berufspolitik. Für die Psychotherapie dieser Störungen werden hohe Summen ausgegeben.
Depressive Störungen sind die häufigste psychische Erkrankung in der ambulanten Versorgung, bei niedergelassenen Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie/Nervenärzten liegen die Diagnosen <depressive Störungen> (ICD-10 F3) bei weitem an der Spitze. Fast immer werden unisono „Depressive Episoden“, also majore Depressionen verschlüsselt, die in ICD-10 dominieren. In ICD-9 wurde noch zwischen den „endogenen Depressionen“ als Kerngruppe und den am häufigsten verschlüsselten „neurotischen Depressionen“ unterschieden. Letzteren entspricht heute in ICD-10 „Dysthymie“, was aber kaum verschlüsselt wird! Aktuelle Routinedaten der gesetzlichen Krankenversicherung gaben Hinweise auf bestehende Defizite in der Versorgung von Patienten mit Depression, insbesondere bei der Stellung der Diagnose und bei der Beurteilung des Schweregrads [33].
Breites, heterogenes Syndrombild
Es ist darauf hinzuweisen, dass ICD- und DSM-Diagnosen keine Krankheitsentitäten sind, sondern Experten-Übereinkünfte. Das Depressions-Spektrum umfasst ein breites, heterogenes Syndrombild, was zum Beispiel von Demyttenaere beim EPA-Vortrag 2017 so formuliert wurde: „Depression is a complex disorder with multiple dimensions.“ Feldstudien zeigten, dass die Reliabilität der DSM-5-Diagnose „Major Depressive Disorder“ „questionable“ ist – die Diagnose-Übereinstimmung zwischen zwei Klinikern war mit kappa = 0,3 nur mäßig und somit fraglich [26]. Zurecht wird in der Neufassung der Nationalen VersorgungsLeitlinie (NVL) die Diagnostik auch nach Kriterien der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) mit Beispielfragen für niedergelassene Ärzte empfohlen [9]. Die Erfassung von funktionalen, psychosozialen Faktoren ist für diagnostische Einordnung und individuelle Therapieplanung wichtig.
In der Versorgungspraxis werden Fachärzte mit der Schwierigkeit konfrontiert, in der knappen zur Verfügung stehenden Zeit zu differenzieren zwischen „Befindlichkeitsstörungen“, „stressinduzierten Störungen“, „Anpassungsstörungen“, „Verbitterungsstörungen“, Angststörungen, Somatisierungsstörungen, organisch affektiven Störungen, majoren Depressionen und Dysthmien. Nicht selten besteht auch eine Komorbidität (z. B. <Angst und Depression gemischt>, <Abhängigkeit und Depression>).
Als Folge einer Ausweitung des Depressionsbegriffs (leichtgradige, minore, subsyndromale, kurze wiederkehrende Depression; Burn-out) ist die Abgrenzung zu „normalen Stimmungsschwankungen, Befindlichkeitsstörungen, Alltagskrisen“ auf dem Hintergrund von Zeitgeist-entsprechender Selbstoptimierung, Hedonismus und Narzissmus zuweilen schwierig. Nicht selten erfolgt heute eine Diagnosestellung nur aufgrund subjektiver Beschwerden – dies entspricht nicht einer adäquaten Krankheitsdefinition.
Da neben der psychischen auch die Körpersymptomatik zum Krankheitsbild gehört und eine hohe somatische Komorbidität besteht, sollte dies und die organisch affektive Störung mehr Beachtung finden [5, 11].
Missverständnisse und Fehleinschätzungen
Das „Deutschland-Barometer Depression“ und die Deutsche Depressions Hilfe veröffentlichten Ergebnisse von Bevölkerungsbefragungen, die sich wie folgt zusammenfassen lassen: Für die Entstehung einer Depression seien Schicksalsschläge, Überforderung/Stress, Belastungen/Konflikte am Arbeitsplatz, Beziehungsprobleme/Trennung und Einsamkeit hauptsächlich relevant – weniger Vererbung, Stoffwechselstörung im Gehirn oder falsche Lebensführung. „Stress“ und äußere Faktoren werden also als Hauptursachen angesehen, kaum eine genetische Anlage. Als geeignete Behandlung wird demzufolge Psychotherapie präferiert, aber auch autogenes Training und in den Urlaub fahren – deutlich vor einer medikamentösen Behandlung. 72 bis 78 % der Befragten glauben, Antidepressiva würden süchtig machen bzw. den Charakter verändern. Trotz Aufklärungskampagnen (u. a. „Bündnis Depression“) werden also Antidepressiva mit Abhängigkeit und Persönlichkeitsveränderungen assoziiert. Bemerkenswert, dass Patienten mit eigener Medikationserfahrung dies anders sehen.
Dessen ungeachtet sind Antidepressiva laut Arzneiversorgungsreport seit Jahren mit Abstand die meistverordneten Psychopharmaka (s. jährliche Zusammenfassungen in der PPT).
In den letzten Jahren hat sich eine Publikationswelle hinsichtlich Wirksamkeit, Risiken und Nebenwirkungen von Antidepressiva ausgebreitet. Typischerweise werden von Bio-Statistikern und nicht klinisch tätigen/erfahrenen, praxisfernen Autoren mittels Metaanalysen in Fachjournalen negative Berichte publiziert, die in den Medien entsprechende Resonanz finden. So konstatierten die Autoren einer großen Metaanalyse jüngst, dass Antidepressiva einen ausgeprägten Placebo-Effekt aufwiesen und von einem klaren Nutzen weit entfernt seien; von ihrer spezifischen Wirkung würden am ehesten Patienten mit schwerer Depression profitieren, wie schon vor Jahren publiziert worden sei [34]. Eine andere aktuelle Studie arabischer Autoren kam nach Analyse einer US-amerikanischen Datenbank zu dem Ergebnis, dass Antidepressiva die Lebensqualität depressiver Patienten nicht verbessern. Dieser Befund wurde in der PPT als methodologisch inadäquat zurückgewiesen [27]. Die prinzipiellen großen methodischen Probleme und Limitationen dieser Metaanalysen sind weiter unten zusammengefasst.
Im Verordnungsalltag hat dies dazu geführt, dass Patienten in erhöhtem Maße skeptisch und ängstlich hinsichtlich der Einnahme von Antidepressiva sind. Adhärenz und Compliance erfordern umfangreiche Aufklärungs- und Informationsgespräche mit den nicht selten durch „Dr. Google“ vor-/desinformierten Patienten. Argumentativ muss neben der Placebo-Überlegenheit nun das Nocebo-Problem, also die Relativierung von unerwünschten Arzneimittelwirkungen, ins Zentrum gerückt werden [16].
Hinsichtlich Wirksamkeit einer Psychotherapie werden demgegenüber die (vergleichsweise wenigen) kontrollierten Studien seltener in Populär- und Fachliteratur referiert. Die Ergebnisse sind ernüchternd: In einer neueren Metaanalyse respondierten mehr als die Hälfte der Patienten nicht auf Psychotherapie [4], eine randomisierte kontrollierte Studie (RCT) mit praxisnaher zeitlimitierter kognitiver Verhaltenstherapie (KVT) und psychodynamischer Psychotherapie zeigte nur eine Remissionsrate von 23 % [6], eine Metaanalyse nichtrandomisierter Effektivitätsstudien geringere Depressionsverbesserung als RCT-Patienten bei einer Drop-out-Rate von 25 % [8]. Fast provokant mutet eine neue randomisierte, kontrollierte Studie an, die zeigte, dass eine „Behavioural Activation“-Therapie trainierter Laien nach 20 Sitzungen im Vergleich zur professionellen Psychotherapie gleich effektiv war [29]. Evidenzbasierte digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) wie deprexis zeigten ihre Wirksamkeit in randomisierten Studien und waren zum Teil so effektiv wie eine Face-to-Face-Behandlung (echte Therapeuten) [36].
Zusammengefasst ergaben Metaanalysen zum Vergleich von Psychotherapie und Antidepressiva keine signifikanten Effektivitätsunterschiede (Effektstärke ca. 0,3) [5, 9]). Dies gilt ebenso für eine neuere Netzwerk-Metaanalyse von 101 Studien mit 11 910 depressiven Patienten; hier fand sich aber eine größere Effektivität der Kombinationstherapie [5].
Die Einstellungen und Erwartungen des Patienten sind maßgeblich für den Therapieerfolg: Patienten mit (häufiger) Präferenz von Psychotherapie respondieren auf eine Pharmakotherapie signifikant schlechter und umgekehrt [1, 19].
Die Aufklärung über Medikation erfolgt in der Praxis aufgrund juristischer Vorgaben in der Regel ausführlich, über Psychotherapie ist sie nach eigenen Erfahrungen und Berichten eher gering (u. a. Hinweis auf Wirklatenz von in der Regel 12 Wochen, Gefahr von Regression, Abhängigkeit vom Therapeuten, Suizidalität u.Ä.). Auch in Leitlinien werden Risiken und Nebenwirkungen der Psychotherapie deutlich knapper dargestellt als die von Psychopharmaka.
Nachfolgend wird eine empirische Zusammenfassung von Patientendaten aus einer niedergelassenen Facharztpraxis (MVZ), repräsentativ für drei oberbayerische Landkreise, vorgestellt.
Eigene Daten
Im Zentrum für Neuropsychiatrie des MVZ Mühldorf/Waldkraiburg wurden von Januar 2021 bis Dezember 2022 N = 751 ambulante Patienten (95 % GKV, 5 % privatversichert) mit der Diagnose Depressive Episode behandelt. N = 488 waren Erstdiagnosen (ICD-10 F32), N = 263 rezidivierende depressive Störungen (F33). Weitere Patientencharakteristika sind in Tabelle 1 zusammengefasst.
Tab. 1. Merkmale der berichteten Patientenkohorte
Geschlechts- und Altersverteilung |
Gesamt N = 751 321 Männer, Durchschnittsalter 49,7 Jahre 430 Frauen, Durchschnittsalter 51,5 Jahre |
Symptomschweregrad initial |
BDI 29 Punkte HAMD17 23 Punkte |
Komorbidität |
Arterielle Hypertonie, Diabetes bei 55 % der Patienten, eingestellt auf Blutdrucksenker, Antidiabetika |
Vorbehandlung |
Ein Drittel der Patienten durch Hausarzt Opipramol, Johanniskraut; ein Viertel mit OTC-Selbstmedikation (z. B. mit „neurexan“) |
BDI: Beck Depression Inventory; HAMD17: Hamilton Depression Rating Scale (17 Items)
Die Diagnose „major depression“ wurde stringent gestellt, die häufig vorliegenden „Burn-out-Symptome/Befindlichkeitsstörungen“ wurden als Anpassungsstörung/Adjustment disorder/stressinduzierte Störung (in einigen Fällen auch als „AU- und Rentenbegehren“) klassifiziert, nicht medikamentös behandelt und nicht in die pragmatische Praxisstudie aufgenommen. Auch organisch affektive Störungen (F06.3) wie Post-Stroke- oder Parkinson-Depressionen wurden nicht eingeschlossen, da für diese separate Therapiekonzepte bestehen.
In allen Fällen erfolgte eine fundierte Psychoedukation, die Anleitung zum Entspannungsverfahren Progressive Muskelrelaxation (PMR) und die Empfehlung von Ratgeberliteratur.
Die Patienten erhielten nach einfacher, nicht-kontrollierter Randomisierung eine antidepressive Monotherapie mit Escitalopram (5–20 mg/Tag; n = 260), Sertralin (25–150 mg/Tag; n = 240) oder Venlafaxin (75–225 mg/Tag; n = 251) jeweils nach Aufdosierungsschema. Als Komedikation bei schweren Schlafstörungen wurden Zopiclon oder Zolpidem oder Pipamperon für höchstens 20 Tage (N1 = 20 Stück) verordnet.
Nach 4- bis 6-wöchiger Antidepressiva-Therapie betrug der durchschnittliche BDI-Score 14 Punkte und der HAMD17-Score 11 Punkte. Die mittelschweren Depressionen nach HAMD-Skalenrating respondierten (definiert als mindestens 50%ige Reduktion in HAMD- oder BDI-Skala) in einem Prozentsatz von 78 % binnen vier bis sechs Wochen.
Die Drop-out-/Abbruchrate inkl. No shows lag bei 1 %. Ein therapeutisches Drug-Monitoring wurde bei 152 Patienten durchgeführt; der Wirkstoffspiegel lag bei 80 % der Tests im therapeutischen Bereich.
Diskussion
Diese eigenen Daten aus repräsentativer Facharzt-Praxis zeigen, dass mittelschwere Depressionen mit Antidepressiva erfolgreich behandelt werden können. Die relativ hohe Responserate korrespondiert mit den Daten aus RCTs: Für SSRIs und SNRIs (z. B. Citalopram, Escitalopram, Paroxetin, Sertralin, Venlafaxin, Milnacipran) lagen diese zwischen 62 % und 83 % [3, 7, 17, 18, 23, 25, 28, 35; Übersicht: 14].
Neuere Analysen kommen nun wie oben skizziert zu weniger günstigen Ergebnissen in Relation zu Placebo. Bekanntlich weisen Metaanalysen aber große methodische Schwächen auf [21, 22]. Sie beinhalten Synthesen heterogener Daten, die Ergebnisse können aber nur so valide sein, wie die Qualität der in die Analyse einbezogenen einzelnen Studien. Bei Netzwerk-Metaanalysen kommt das Problem der indirekten Vergleiche hinzu.
Zulassungsbehörden akzeptieren in der Regel nur RCTs, die aber vor allem wegen hoher Patientenselektion (Ein- und Ausschlusskriterien, u. a. keine multimorbiden Patienten) problematisch sind [22]. Man schätzt, dass weniger als 30 % der Patienten in der Routineversorgung die Aufnahmekriterien für eine RCT erfüllen [37]. Den Leitlinien werden zum Teil Metaanalysen-Daten zugrunde gelegt, was, wie bei [21, 22] nachzulesen, problematisch ist. Auch das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) empfiehlt daher die Durchführung randomisierter pragmatischer Studien (RPT). Hierbei handelt es sich um klinische Studien mit weiter gefassten Ein- und Ausschlusskriterien, bei denen Patienten randomisiert unterschiedlichen Behandlungen zugewiesen werden [30]. „Real world“-Studien in Form von randomisierten Vergleichsstudien, pragmatischen prospektiven Studien und nichtinterventionellen Studien (NIS, „Anwendungsbeobachtungen“) sind von hoher klinischer Relevanz, Letztere werden aber vor allem wegen Sponsoring-Bias nicht akzeptiert. Gerade NIS haben bei hohen Fallzahlen sehr hohe Response- und Remissionsraten gezeigt: So wurde unter naturalistischen ambulanten Behandlungsbedingungen bei N = 11 760 Patienten, die über acht Wochen mit Escitalopram behandelt wurden, eine Responserate von 70 % [20] erzielt, analog zeigte eine NIS von 9601 ambulanten Praxispatienten mit Agomelatin eine Responserate von 79 % [13, 15]. Große nicht gesponserte naturalistische Studien wie die des deutschen Kompetenznetzwerks Depression und das Munich Antidepressant Response Signature (MARS) Projekt zeigten Responseraten von 69 % bzw. 81 % bei stationär behandelten Patienten [10, 31]. Die vielzitierte US-amerikanische „real world“-Studie STAR*D ergab demgegenüber enttäuschend-ungünstige Ergebnisse, verzerrt aber das Bild, da keine repräsentative Stichprobe sondern überwiegend refraktäre, chronische Patienten eingeschlossen wurden [38]. Zurecht wird also vorgeschlagen, pragmatische klinische Studien durchzuführen und zu akzeptieren [30]. Die vorgelegte Studie könnte hierfür ein Beispiel sein.
Für das Prozedere in der Facharztpraxis sollten unbedingt folgende Gesichtspunkte Berücksichtigung finden:
- Patientenpräferenz und Erwartungen thematisieren und ggf. bearbeiten
- Persönlichkeitsaspekte eruieren. Klinisch relevant sind vor allem komorbide Persönlichkeitsstörungen, da dies mit schlechterem Outcome assoziiert ist (Odds-Ratio 2,16 [24]) und zusätzliche Therapieplanung impliziert
- Aufklärung und Information zu Psychotherapie: Fundiert-seriöse wissenschaftlich belegte Daten zu Effizienz und Effektivität (Wirklatenz, Response- und Abbruchraten, Risiken und Nebenwirkungen [4]) sollten dem Patienten kompakt mitgeteilt werden. Je nach Patienten-Differenzierung auch kritischer Hinweis, dass die Wirksamkeitsfaktoren (u. a. Therapeutenvariable, Methodikwahl, Setting, erforderliche Therapiedauer/-Intensität/-Frequenz) unklar sind. (Weitere Aspekte s. Kasten).
- Therapiekonzept mittels „shared decision making“
- Sequenziell, d. h. initial Pharmakotherapie, anschließend Psychotherapie
- Falls versorgungstechnisch möglich primäre Kombinationstherapie (Psychotherapieplatz; evtl. auch Online-/Internet-Therapieprogramm)
- Besprechung Therapiedauer – Langzeittherapie/Rezidivprophylaxe
- „Begleittherapien“ vermitteln/empfehlen: Körpertherapie, Entspannungsverfahren, aktive Hobbies
- Bei „Therapieresistenz“ neue Ansätze aufzeigen
Psychotherapie „real world“
Hier sei eine Analyse der beantragten Psychotherapie-Stundenkontingente erwähnt, die jüngst keine Anhaltspunkte dafür ergab, dass Psychotherapeuten diese anhand des Schweregrads der Depression festlegen: Leichtgradige Depressionen erhielten gleiche oder tendenziell sogar höhere als schwer Depressive [32].
Praxisrelevant ist natürlich auch die Frage der Psychotherapie-Eignung des Patienten (Introspektion, Motivation, Änderungspotenzial) sowie vor allem die Versorgungsrealität (Therapieplätze, Wartelisten).
Letzteres wird jetzt auch medial thematisiert: In dem Artikel „Kummer verdrängt Depression“ moniert die FAZ am 28. Januar 2023 die hohe Psychotherapie-Selektion – leicht psychisch Kranke würden schwer psychisch Kranken die Therapieplätze wegnehmen. Die Indikation sei stringenter zu stellen, ein Teil der Therapieplätze wäre für Schwerkranke frei zu halten und die nahtlose Weiterbehandlung nach stationärer (psychosomatischer) Therapie, wie zumeist empfohlen, zu sichern. Von 2013 bis 2021 sei die Zahl der Psychotherapeuten laut GKV um 54,6 %, die Inanspruchnahme um 63 % gestiegen. In zehn Jahren hätten sich die Kosten verdoppelt, Psychotherapeuten seien nach den Hausärzten die zweitgrößte Arztgruppe. Immer noch mehr Psychotherapeutinnen würden das Problem nicht lösen. Nicht jede Befindlichkeitsstörung brauche einen Therapeuten …
Unstrittig ist seit Jahren, dass Patienten über 65 Jahre deutlich weniger psychotherapeutisch behandelt werden (Barmer Arztreport 2022).
Fazit
Für die Facharztpraxis wird folgendes Vorgehen empfohlen:
- Diagnostische Zuordnung, Differenzialdiagnosen; evtl. somatische Kollegen einbeziehen
- Psychoedukation mit Aufzeigen der Behandlungsmöglichkeiten und -alternativen
- Basistherapie mit Aufklärung, Ratgeberliteratur, Lifestyle-Empfehlungen (körperliche Aktivitäten), Entspannungsverfahren (PMR-Übungs-CD). Anleitung Verhaltenstherapie-Elemente wie kognitive Umstrukturierung. Aktivierung. <Affektabfuhr versus Entspannung>
- Verordnung eines Antidepressivums – Auswahl nach Wirkprofil (sedierend, aktivierend) und Nebenwirkungsprofil (gastrointestinale UAWs, Gewichtszunahme, kardiovaskuläre Risikofaktoren, sexuelle Dysfunktion); bei internistisch-somatischer Komedikation Interaktions-Check (z. B. psiac). Medikamentenplan aushändigen
- Evtl. Vermittlung Ergotherapie (kreatives, kognitives Training)
- Evtl. Vermittlung Physiotherapie
- Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, solange HAMD ca. > 12, MADRS ca. > 15, BDI > ca. 16; berufliche Wiedereingliederung besprechen (Muster 52)
- DiGA Online-/Internet-Therapieprogramm (z. B. deprexis) (sofort verfügbar über Rp ohne Kosten für Patient) zur Ergänzung oder Überbrückung von Wartezeit – 12 Wochen
- Evtl. Anmeldung für störungsspezifische Psychotherapie (vor allem KVT) mittels PTV11-Antrag
- Verlaufskontrollen; Pharmakotherapie für neun bis zwölf Monate bei Ersterkrankung, Indikation für Langzeittherapie stellen
- Bei Non-Response algorithmisch Einsatz von Lithium-/Antipsychotikum-Augmentation, Kombination mit störungsspezifischer Psychotherapie; Umstellung z. B. auf Monoaminoxidasehemmer Tranylcypromin; Esketamin; Elektrokonvulsionstherapie [9, 39]
Die konkrete Umsetzung von Pharmakotherapie und/oder Psychotherapie (seriell oder simultan) wird maßgeblich von der Verfügbarkeit therapeutischer Angebote vor Ort bestimmt, praktische Aspekte finden sich in der Literatur u. a. bei [12, 37, 39].
Interessenkonflikterklärung
Keine Interessenkonflikte
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Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Gerd Laux, Zentrum für Neuropsychiatrie des MVZ Mühldorf/Waldkraiburg, Prager Str. 10, 84479 Waldkraiburg, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität, Nußbaumstr. 7, 80336 München, E-Mail: ipm@ipm-laux.de
Therapy with antidepressants in the “real world”. Practice experience
Depressive disorders are the most common mental illness in outpatient care. However, the diagnosis and differentiation from milder disorders is sometimes difficult, also as a result of a broadening of the definition of depression. Therapy is complicated by the fact that the value of antidepressants as an effective treatment option has recently been questioned on various occasions, which is why patients are more sceptical and anxious about taking antidepressants. Here, misunderstandings must be cleared up. Our own data from a representative specialist practice show that moderate depression can be successfully treated with antidepressants. After 4 to 6 weeks 78 % of the patients responded to the therapy. Comprehensive recommendations are given for therapy management in the specialist practice.
Key words: Depression, antidepressants, psychotherapy, therapy concept, shared decision making
Psychopharmakotherapie 2023; 30(04):120-124