Anterocollis als Manifestationsform eines tardiven Syndroms unter Clozapin und Aripiprazol


Kasuistik aus dem Projekt „Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie“ e. V. (AMSP)

Jens-Uwe Peter, Oliver Zolk, Martin Heinze Rüdersdorf/Neuruppin, Renate Grohmann, München, Sermin Toto, Hannover, und Michael Schneider Rüdersdorf/Neuruppin

Antipsychotika der zweiten Generation (SGA) verursachen im Vergleich zu denen der ersten Generation (FGA) weniger extrapyramidal-motorische Symptome (EPMS) wie tardive Dyskinesien und Dystonien. Im vorliegenden Fall berichten wir von einem Patienten mit Schizophrenie, der nach mehrjähriger Behandlung mit den beiden SGA Clozapin und Aripiprazol ein ungewöhnliches tardives Syndrom in Form eines schmerzhaften Anterocollis entwickelte. Der vorliegende Fall wurde im Projekt Arzneimittelsicherheit in der Psychiatrie (AMSP) dokumentiert, welches systematisch das Auftreten neuer, schwerwiegender und ungewöhnlicher unerwünschter Arzneimittelwirkungen (UAW) von Psychopharmaka beobachtet.
Schlüsselwörter: Aripiprazol, Clozapin, Anterocollis, atypische Dyskinesie, Spätdyskinesie, AMSP
Psychopharmakotherapie 2023;30:125–30.

Kasuistik

Die stationäre Aufnahme des Mitte 50 Jahre alten Patienten mit einer vor über 30 Jahren diagnostizierten Schizophrenie (ICD 10: F20.0) erfolgte, da sich in den drei Wochen vor Aufnahme eine zunehmende Haltungsstörung gezeigt hatte. Es handelte sich dabei um eine für den Patienten quälende und schmerzhafte Anteflexion des Kopfes, sodass das Kinn auf der Brust lag und die Augen zum Boden blickten. Der Patient konnte die zervikale Anteflexion des Kopfes nicht willentlich aufheben. Die Beugemuskulatur war nicht kontrahiert oder dyston, sondern es handelte sich eher um eine Schwäche der Strecker-Muskulatur des Kopfes. Dennoch kam es aufgrund der Haltung und Muskeldehnung sekundär zu einer schmerzhaften reflexiven Verkrampfung der Strecker-Muskulatur. Die Schmerzen nahmen in einer liegenden Position ab, was der Patient als Erleichterung empfand.

Die neurologischen Untersuchungen einschließlich einer MRT-Untersuchung der Halswirbelsäule und der CT-Bildgebung des Gehirns ergaben keine Hinweise auf eine primäre neuromuskuläre Grunderkrankung. Auch die Laboruntersuchungen bei Aufnahme des Patienten waren bis auf eine milde Hyponatriämie und eine geringfügige Erhöhung des unspezifischen Entzündungsmarkers CRP (C-reaktives Protein) unauffällig.

Vor der stationären Einweisung war der Patient seit Jahren stabil auf die Antipsychotika-Kombination mit täglich 30 mg Aripiprazol und seit mindestens vier Monaten mit täglich 250 mg Clozapin eingestellt. Abbildung 1 stellt die Messwerte des therapeutischen Drug-Monitorings (TDM) in Relation zu den therapeutischen und dosisbezogenen Referenzbereichen [21] zum Zeitpunkt des Auftretens der UAW dar.

Abb. 1. 9-Felder-Tafeln für (A) die aktive Fraktion Clozapin + N-Desmethylclozapin und (B) die aktive Fraktion Aripiprazol + Dehydroaripiprazol zum Zeitpunkt des Auftretens der UAW. Der dosisbezogene Referenzbereich bezieht sich auf Tagesdosen von 250 mg Clozapin und 30 mg Aripiprazol.

Neben den beiden Antipsychotika erhielt der Patient aufgrund einer Epilepsie (ICD 10: G40.9) seit mehreren Jahren täglich 1300 mg Valproat und 2 mg Lorazepam und zur Behandlung einer essenziellen Hypertonie (ICD 10: I10.90) die Blutdrucksenker Ramipril und Torasemid mit jeweils 5 mg als Tagesdosis. Es gab im unmittelbaren Vorfeld der Symptomatik keinen Wechsel in der Medikation oder Dosierung, jedoch berichtete der Patient, seinen Zigarettenkonsum von 20 auf 12 Zigaretten pro Tag reduziert zu haben. Ein Screening des Interaktionspotenzials ergab keine kritischen pharmakokinetischen Wechselwirkungen zwischen den verordneten Arzneistoffen (Tab. 1).

Tab. 1. Übersicht über die Stoffwechselwege der Medikation des Patienten (CYP: Cytochrom P450, UGTs: UDP-Glucuronosyltransferasen) [19, 21]

Wirkstoff

CYP1A2

CYP2A6

CYP2B6

CYP2C8

CYP2C9

CYP2C19

CYP2D6

CYP3A4/5

UGTs

Clozapin

S

S

S/H

S/H

S

S/H

S/H

Aripiprazol

S

S

Valproinsäure

S/I

S

S/H

S/H

S/H

S/H

S/H

S/H

Lorazepam

S

Ramipril

S

Torasemid

S

S

Tabakrauch

S/I

S: Substrat; H: Inhibitor; I: Induktor; fett: Hauptmetabolismus

Zum Ausschluss einer Antipsychotika-Überdosierung wurde nochmals ein therapeutisches Drug-Monitoring durchgeführt, nachdem erstmals bereits ambulant bei Beginn der Symptomatik (drei Wochen vor der Aufnahme) ein TDM durchgeführt worden war. Neben den Talspiegeln von Clozapin und Aripiprazol wurden auch die Konzentrationen des jeweiligen Hauptmetaboliten bestimmt. Norclozapin (= N-Desmethylclozapin) ist der pharmakologisch aktive Hauptmetabolit von Clozapin, dessen Wirkung jedoch wesentlich geringer und von kürzerer Dauer ist. Dehydroaripiprazol, der Hauptmetabolit von Aripiprazol, hat ein pharmakologisches Profil, das bis auf eine etwas längere Eliminationshalbwertszeit mit dem der Muttersubstanz vergleichbar ist. Die Plasmakonzentrationen von Clozapin, Aripiprazol und deren Hauptmetaboliten lagen zu beiden Zeitpunkten im therapeutischen Referenzbereich.

Aripiprazol wurde als möglicher Auslöser der Symptomatik ausschleichend bis zum 10. stationären Tag abgesetzt. Außerdem wurde die Clozapin-Dosis bei stationärer Aufnahme des Patienten von 250 mg auf 200 mg pro Tag reduziert. Zudem erfolgte für 13 Tage die Gabe von täglich 4 mg des zentralwirksamen Anticholinergikums Biperiden, das zur Behandlung iatrogener extrapyramidaler Symptome indiziert ist. Zur symptomatischen Behandlung schmerzhafter Verspannungen der Nackenmuskulatur wurde das zentral wirksame Muskelrelaxans Methocarbamol in einer Tagesdosis von 750 mg für acht Tage angesetzt. In den folgenden Tagen besserte sich die Symptomatik zusehends und der Patient konnte seinen Kopf zunehmend selbstständig heben. Im Verlauf einer weiteren Woche nach Entlassung traten diese Bewegungs- und Haltungsstörungen nicht mehr auf. Abbildung 2 zeigt eine Übersicht zum Verlauf der medikamentösen Behandlung.

Abb. 2. Übersicht zum Verlauf der medikamentösen Behandlung und der unerwünschten Arzneimittelwirkung im dargestellten Fall

Diskussion

Anterocollis oder Anterocaput sind Anomalien der Kopfhaltung, die sich als unwillkürliche, nicht fixierte Anteflexion des Kopfes darstellen und die häufig, wie auch im aktuellen Fall, mit Schmerzen einhergehen [35]. Beim Anterocaput sind nur die Kopfgelenke betroffen, die Stellung der Halswirbelsäule bleibt dabei unbeeinflusst und ist normal [17]. Im Gegensatz zum Anterocaput ist die Stellung der Halswirbelsäule beim Anterocollis abnormal, wie im vorliegenden Fall. Der Anterocollis als ein Subtyp der zervikalen Dystonie wird selten, bei nur rund 7 % der Patienten mit zervikaler Dystonie beobachtet [29]. Entsprechend der Ätiologie wird zwischen primärem idiopathischem und sekundärem Anterocollis unterschieden. Die zugrunde liegenden Ursachen des sekundären Anterocollis sind vielfältig und stehen bei ungefähr jedem zehnten Patienten im Zusammenhang mit einer Antipsychotika-Therapie [16, 29].

Neben den Medikamenten-induzierten Dyskinesien und Dystonien sind zum Beispiel das Parkinson-Syndrom, die Multisystematrophie oder das Dropped-Head-Syndrom wichtige Differenzialdiagnosen des Anterocollis. Das Dropped-Head-Syndrom ist durch eine ausgeprägte Schwäche der paraspinalen Halsmuskulatur gekennzeichnet. Mögliche Ursachen des Dropped-Head-Syndroms sind typischerweise Myopathien (z. B. Myasthenia gravis oder Polymyositis) oder Neuropathien (z. B. amyotrophe Lateralsklerose) [16].

Aufgrund der klinisch-neurologischen Untersuchung zusammen mit den bildgebenden Untersuchungen wurden in diesem Fall neuromuskuläre Erkrankungen, wie Motoneuron-Erkrankungen, Neuropathien, Myopathien und die myasthenen Syndrome als Ursache des Anterocollis ausgeschlossen. Eine dissoziative Bewegungsstörung oder katatone Begleitsymptome der Schizophrenie konnten nicht sicher als Ursache der zwanghaften Anteflexion des Kopfes ausgeschlossen werden [6], sind aber in diesem Fall unwahrscheinlich, da sich keine Hinweise aus dem Krankheitsverlauf ergaben und der Patient auch keine psychotischen Symptome zeigte. Die Anterocollis-Symptomatik wurde daher als ein wahrscheinlich durch die Therapie mit Clozapin und Aripiprazol induziertes tardives Syndrom beurteilt (ICD-10: G24.0).

Tardive Syndrome

Zu den tardiven Syndromen zählen die Antipsychotika-induzierte tardive Akathisie, Dystonie und Dyskinesie. Die Antipsychotika-induzierte tardive Dyskinesie ist nach den Diagnosekriterien des DSM-5 oder den Schooler-Kane-Kriterien durch unwillkürliche choreiforme, athetoide oder rhythmische Bewegungen charakterisiert [2, 33], was auf die Symptomatik des Patienten in der dargelegten Kasuistik mit einer dauerhaften abnormen Kopfhaltung nicht zutrifft. In einer früheren AMSP-Studie über Antipsychotika-induzierte extrapyramidal-motorische Störungen wurden Fälle mit Anterocollis-Symptomatik daher als atypische Dyskinesie klassifiziert [3]. Gemäß der Definition des AMSP-Projekts tritt bei atypischen Dyskinesien entweder eine klinische EPMS-Symptomatik auf, die, wie bei Frühdyskinesien, einer akuten Dystonie ähneln kann, aber spät im zeitlichen Verlauf auftritt oder umgekehrt, oder es präsentiert sich eine ganz ungewöhnliche klinische Manifestation wie beispielweise beim Anterocollis [3].

Das Risiko für die Entwicklung tardiver Dyskinesien unterscheidet sich zwischen den Erstgenerations-Antipsychotika und den Zweitgenerations-Antipsychotika. Die Inzidenz tardiver Dyskinesien je Patientenjahr beträgt nach Daten einer Metaanalyse für Erstgenerations-Antipsychotika 6,5 % gegenüber 2,6 % für Zweitgenerations- Antipsychotika [11]. Eine weitere Metaanalyse bestätigte den Risikounterschied für tardive Dyskinesien zwischen Antipsychotika der ersten und zweiten Generation. Demnach lag die Prävalenz von Spätdyskinesien unter der Behandlung mit Antipsychotika der zweiten Generation bei 21 %, während sie bei Behandlung mit Antipsychotika der ersten Generation deutlich höher bei 30 % lag [10].

Auch die ausschließliche Behandlung mit Antipsychotika der zweiten Generation kann Spätdyskinesien induzieren, wenn auch wesentlich seltener. In der Metaanalyse lag die Prävalenz tardiver Dyskinesien bei den Patienten unter Therapie mit Antipsychotika der zweiten Generation, denen zuvor noch nie ein Antipsychotikum der ersten Generation verabreicht worden war, bei 7 % im Vergleich zu 23 % bei denen, die zuvor ein Erstgenerations-Antipsychotikum erhalten hatten [10].

Die Prävalenz der tardiven Dystonie ist mit 1 bis 4 % geringer als die der tardiven Dyskinesie [32, 39]. Die klinische Erscheinungsform der tardiven Dystonie ist durch anhaltende Muskelkontraktionen, die häufig Verdrehungen und repetitive Bewegungen oder abnormale Haltungen verursachen, charakterisiert. Die tardive Dystonie kann fokal (z. B. zervikal), segmental oder seltener generalisiert sein. Diese UAW wird in der Regel mit Antipsychotika der ersten Generation in Verbindung gebracht, obwohl sie auch bei Patienten beobachtet wurde, die mit Antipsychotika der zweiten Generation behandelt wurden.

Der beim vorliegenden Fall beobachtete Anterocollis passt zur Erscheinungsform einer tardiven Dystonie, sodass die Störung als solche klassifiziert wurde, auch wenn hier die Beugemuskulatur des Kopfes nicht kontrahiert oder dyston war, sondern eher ein Ungleichgewicht im Muskeltonus der Beuge- und Streckmuskulatur im Nacken zu beobachten war.

Neben dem klinischen Erscheinungsbild unterscheidet sich die tardive Dystonie von der Spätdyskinesie in der Reaktion auf Anticholinergika, die zu einer Besserung der tardiven Dystonie führen, die tardive Dyskinesie jedoch verschlechtern können [34]. Im vorliegenden Fall schien die kurzzeitige Biperiden-Therapie die klinische Besserung des Patienten zu unterstützen, was eher mit dem Vorliegen einer tardiven Dystonie vereinbar ist. Da jedoch auch gleichzeitig Aripiprazol abgesetzt und die Dosis vom Clozapin reduziert wurde, lässt sich nicht klar bestimmen, ob Biperiden als eine der drei Maßnahmen entscheidend zur Wirkung beigetragen hat. Unter der folgenden unveränderten Medikation ohne Aripiprazol geht es dem Patienten auch Monate nach der Entlassung weiterhin gut.

Es gibt einige Fallberichte über Antipsychotika-induzierte tardive zervikale Dystonien. In einer Fallserie von 20 Patienten mit tardiver zervikaler Dystonie manifestierte sich die dystone Bewegungsstörung bei vier Patienten als Anterocollis, entweder isoliert oder kombiniert mit einem Torticollis oder Laterocollis [18]. Die Mehrzahl der Patienten in dieser Fallserie mit zervikaler Dystonie, 70 %, klagte über Schmerzen. Alle Patienten der Fallserie waren mit einem Erstgenerations-Antipsychotikum behandelt worden, nämlich mit Haloperidol, Chlorpromazin oder einer Kombination beider Arzneistoffe [18]. Zervikale Dystonien wurden aber auch bei Patienten beobachtet, die mit Antipsychotika der zweiten Generation behandelt wurden, zum Beispiel Retrocollis unter Amisulprid [20], Anterocollis unter Risperidon [1] oder Anterocollis/Laterocollis sowie Torticollis unter Aripiprazol [25, 27].

Rauchen und tardive Syndrome

Zudem ist der hier beschriebene Patient intensiver Zigarettenraucher, was zu den jüngsten Daten passt, nach denen die Prävalenz des Rauchens bei Schizophrenie weiterhin hoch ist [14]. In der Literatur wird Rauchen häufig als Risikofaktor für das Auftreten tardiver Syndrome genannt, mit Verweis auf Studien zu Spätdyskinesien aus den 1980er-Jahren [8, 38]. Andere Studien fanden hingegen keinen Unterschied in der Prävalenz tardiver Dyskinesien zwischen Rauchern und Nichtrauchern [28, 40]. Demgegenüber fand eine systematische Übersicht und Metaanalyse, dass rauchende Patienten mit Schizophrenie weniger schwere extrapyramidale Nebenwirkungen aufwiesen als nicht rauchende Patienten [22]. Tardive Syndrome wurden in der Studie allerdings nicht gesondert untersucht.

Die beim Rauchen freigesetzten polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffe könnten jedoch die Aktivität des Enzyms Cytochrom P450-1A2 (CYP1A2) in der Leber induzieren und dadurch den Metabolismus von Clozapin, einem CYP1A2-Substrat, beschleunigen und die Clozapin-Plasmakonzentration erheblich senken. Dies wird als Ursache der beobachteten Risikoreduktion für extrapyramidal-motorische Nebenwirkungen durch Clozapin bei rauchenden Patienten mit Schizophrenie diskutiert [22]. Neue Studien weisen darauf hin, dass cholinerge Interneuronen im Striatum unter normalen physiologischen Bedingungen eine wichtige Rolle bei der synaptischen Plastizität und der motorischen Kontrolle spielen, während ihre Störung zu Bewegungsstörungen führen kann [31]. Tierexperimentelle Studien an Ratten und Mäusen deuten auf eine positive Wirkung von Nicotin und Vareniclin, einem partiellen Agonisten an einem nikotinergen Acetylcholin-Rezeptor-Subtyp, bei Spätdyskinesien hin [31]. Eine klinische Pilotstudie mit wenigen Probanden konnte jedoch die erhofften positiven Effekte von Vareniclin auf tardive Dyskinesien bisher nicht bestätigen [12].

Therapie tardiver Syndrome

Das tardive Syndrom kann irreversibel sein, insbesondere wenn die Symptome nicht frühzeitig erkannt werden; seine Therapie ist grundsätzlich schwierig. Bei einem eingetretenen tardiven Syndrom wird, soweit möglich, ein Absetzen oder eine Dosisreduktion des vermutlich auslösenden Antipsychotikums empfohlen. Die Evidenz für diesen Ansatz ist allerdings minimal und der potenzielle Nutzen muss gegen die Möglichkeit wiederkehrender Symptome oder eines Rückfalls bezüglich der Schizophrenie abgewogen werden [4]. Bei Spätdyskinesien kann sich ein Umstellen der Therapie auf das D4-Dopamin-Rezeptor selektive Clozapin positiv auswirken [37]. In dem aktuellen Fall wurde die Aripiprazol-Therapie ausschleichend beendet. Die bereits bestehende Behandlung mit Clozapin, welches bei den TDM-Kontrollen ausreichend hohe Wirkspiegel aufwies, wurde mit einer geringfügig reduzierten Dosis beibehalten. Biperiden, das in Deutschland zur spezifischen Behandlung medikamentös bedingter extrapyramidaler Symptome zugelassen ist und bei tardiven Dystonien Besserung bringen kann [9, 23, 36], wurde in diesem Fall vorübergehend zusätzlich verordnet. Im Unterschied zu tardiven Dystonien sind Anticholinergika aber bei der Behandlung von Spätdyskinesien nicht nützlich [5].

Für die fokale tardive Dystonie kann – in Analogie zur Behandlung der idiopathischen Dystonien – der Einsatz von Botulinumtoxin erwogen werden. Als weitere Behandlungsoption tardiver Syndrome kommt Tetrabenazin in Frage, das in Deutschland neben der Chorea-Huntington-Behandlung eine Zulassung speziell zur Therapie mittelschwerer bis schwerer Spätdyskinesien hat, die auf andere Therapiemaßnahmen nicht angesprochen haben. Tetrabenazin ist ein selektiver reversibler Inhibitor des hauptsächlich im zentralen Nervensystem vorkommenden vesikulären Monoamintransporters VMAT2. Durch dessen Hemmung kommt es zur einer Entleerung der Speicher von Dopamin und anderen Monoaminen im zentralen Nervensystem. Die Anwendung von Tetrabenazin ist problematisch, da es eine hohe Rate an neuropsychiatrischen Nebenwirkungen, insbesondere Depressionen mit in Einzelfällen Suizidgedanken und suizidalem Verhalten aufweist. Ein weiterer, von der U.S. Food and Drug Administration (FDA) in den USA zugelassener VMAT2-Inhibitor zur Therapie von Spätdyskinesien, Valbenazin, hat weniger neuropsychiatrische Nebenwirkungen. Die bessere Verträglichkeit scheint auch für das ebenfalls in den USA zugelassene Deutetrabenazin zuzutreffen [13], einem Abkömmling des Tetrabenazin, bei dem Wasserstoffatome durch Deuteriumatome ersetzt wurden. Das führt zu einer geringeren metabolischen Variabilität mit niedrigeren Spitzenkonzentrationen sowie einer längeren Plasmahalbwertszeit von Deutetrabenazin im Vergleich zu Tetrabenazin. VMAT2-Inhibitoren werden als einzige Arzneistoffgruppe von der American Psychiatric Association (APA) als Pharmakotherapie tardiver Syndrome, nämlich speziell der Spätdyskinesie, empfohlen (Empfehlungs-/Evidenzstärke 1B) [24].

Aripiprazol und tardive Syndrome

Aripiprazol unterschiedet sich von anderen Antipsychotika der zweiten Generation durch seine partielle Agonistenaktivität am Dopamin-D2-Rezeptor. Es wurde vermutet, dass dieses einzigartige pharmakologische Profil von Aripiprazol zu einem geringeren Auftreten extrapyramidaler Symptome führen würde. Diese Kasuistik wie auch vorangegangene Fallberichte und epidemiologische Studien zeigen, dass tardive Syndrome auch unter Aripiprazol vorkommen können [15, 18, 26, 30]. In einer Metaanalyse waren die Unterschiede in der Rate tardiver Dyskinesien innerhalb der Klasse der Nicht-Clozapin-Zweitgenerations-Antipsychotika eher gering, mit einem Vorteil für Olanzapin mit einer NNT (number needed to treat) von 100 im Vergleich zu den anderen Zweitgenerations-Antipsychotika [11]. Im Unterschied zu dem hier berichteten Fall manifestiert sich das Aripiprazol-assoziierte tardive Syndrom zumeist in einer klassischen oro-bucco-lingualen Dyskinesie, die sich nach Absetzen von Aripiprazol oft nicht spontan bessert [26, 30]. Die Fallberichte über Aripiprazol-assoziierte zervikale Dystonien hingegen zeigen eine Besserung der Symptomatik nach Absetzen des Arzneistoffs [25, 27], wie auch bei dem hier vorgestellten Fall.

Gut konzipierte, randomisiert kontrollierte Studien fehlen, um festzustellen, welche Maßnahmen und Pharmakotherapien zur Besserung tardiver Syndrome am wirksamsten sind. Entsprechend wenig evidenzbasierte Empfehlungen zur Behandlung tardiver Syndrome können die Leitlinien geben [7]. Die Behandlung mit Biperiden beispielsweise wird in der Leitlinie der American Academy of Neurology als Level-U-Empfehlung klassifiziert, das heißt, die Datenbasis ist unzureichend, um die Anwendung zu unterstützen oder abzulehnen [7]. Die Behandlung erfolgt deshalb oft probatorisch, indem verschiedene Behandlungsoptionen teilweise parallel individuell ausprobiert werden, wie in diesem Fall die Dosisreduktion des einen und das Absetzen des anderen Antipsychotikums und die zusätzliche Biperiden-Behandlung.

Zusammenfassend werten wir die beschriebene Symptomatik als atypische Dyskinesie nach langfristiger Einnahme von Aripiprazol. In diesem Fall kommt dem Absetzen von Aripiprazol der größte Stellenwert für den Erfolg der beschriebenen Maßnahmen zur Behandlung der atypischen Dyskinesie zu. Hierfür sprechen das umgehende Sistieren der Symptomatik nach dem Absetzen und auch bereits dokumentierte Fälle von atypischen Dyskinesien unter Aripiprazol [3] als auch die symptomfreie Weiterverordnung von Clozapin. Die Reduktion von Clozapin kann in dieser Konstellation ein begünstigender Faktor gewesen sein, ihr wird deshalb nur ein geringer Stellenwert zugewiesen.

Interessenkonflikte

JUP, MS, OZ, MH, RG: Keine Interessenkonflikte

ST: Vortragshonorare Janssen-Cilag GmbH, Otsuka/Lundbeck, Recordati Pharma GmbH und Servier, Advisory Board Otsuka und Janssen-Cilag GmbH

Literatur

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Anterocollis as a form of atypical dyskinesia under clozapine and aripiprazole treatment

Second-generation antipsychotics (SGAs) cause fewer extrapyramidal-motor symptoms (EPMS) such as tardive dyskinesias and dystonias compared to those of the first generation (FGAs). In the present case, we report on a patient with schizophrenia who developed an unusual tardive syndrome in the form of painful anterocollis after several years of treatment with the two SGAs clozapine and aripiprazole. The present case was documented in the Drug Safety Program in Psychiatry (AMSP), which systematically monitors the occurrence of new, severe and unusual adverse drug reactions of psychotropic drugs.

Key words: aripiprazole, clozapine, anterocollis, atypical dyskinesias, tardive dyskinesias, AMSP

Psychopharmakotherapie 2023; 30(04):125-130