Angemessene Psychopharmakotherapie? Behinderte Psychopharmakotherapie?


Prof. Dr. Jürgen Fritze, Pulheim

Willkommen. Im Rahmen des Vorschlagsverfahrens des BfArM wurden ab 2023 in das alphabetische Verzeichnis der ICD-10-GM für Pregabalin (und Gabapentin) Verweise auf die Codes F13.1 (Konsumstörung, Abusus) bzw. F13.2 (Abhängigkeit) aufgenommen. Das mag banal wirken, signalisiert aber, dass beiden Wirkstoffen besondere Aufmerksamkeit bezüglich „Psychischer und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen“ gebührt. Gemäß Daten des Arzneiverordnungsreports entfielen zuletzt (2021) 28 % der verordneten Tagesdosen (DDD) von Antikonvulsiva auf Pregabalin (10 % auf Gabapentin) bei seit Jahren anhaltendem Wachstum [3]. Zwei Drittel der Verordnungen gelten dem weiblichen Geschlecht. Verordnungsmaxima finden sich in der 7. bis 9. Lebensdekade. Nur etwa 12 % der Verordnungen von Pregabalin gelten der generalisierten Angststörung, nur etwa 14 % den Epilepsien, mehr als 70 % neuropathischen Schmerzen (zulassungskonform) bzw. bei 40 % als Off-Label-Use anderen, insbesondere Rückenschmerzen [4]. Das verdient Aufmerksamkeit. Es ist also Zeit, dass Julia Lenz et al. eine Übersicht geben.

Gemäß Arzneiverordnungsreport steigen seit Jahren die Verordnungen der Parkinsonmittel [3] und hier sowohl absolut als auch relativ die des eigentlich doch recht betagten Levodopa mit 2021 47 % [3]. Dazu trägt als Indikation das Restless-Legs-Syndrom bei. Dagmar Drogan (WidO) et al. weisen anhand der Abrechnungsdaten der AOK beachtliche Inkompatibilitäten der Verordnungspraxis mit den Leitlinienempfehlungen nach.

Gerd Laux berichtet über den Nutzen der Antidepressiva in einer „repräsentativen“ Praxis (MVZ), eben seiner Praxis: Respekt. Berücksichtigt man die wissenschaftlich etablierte Bedeutung der „Therapeutenvariable“, so darf sich G.L. die Erfolge – auch – selbst zuschreiben – Repräsentativität also fraglich? Und Gerd Laux argumentiert engagiert für die wissenschaftliche Evidenz, die ihm und seinen Patienten diese Erfolge ermöglichen. Jedoch: Die brauchen nicht nur das Rezept, sondern viel mehr, u. a. Hilfen zur Bewältigung der „zweiten Krankheit“ – des Stigmas –, wie sie Asmus Finzen [1] beschrieben hat.

Haben Sie bitte Nachsicht. Eigentlich mag es inzwischen zermürbend langweilig sein. Zum Beispiel erlag selbst der heutige Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach 2020 der Versuchung, im Kontext der Hygiene bei der Fußball-Bundesliga das Wort „schizophren“ zu instrumentalisieren mit dem Ziel, verächtlich zu machen („Zu Hause müssen sie die Wäsche selbst waschen, auf dem Platz können sie dann in den Vollkontakt gehen und möglicherweise sich oder andere infizieren. Das kriegt keiner getrennt, das ist eine schizophrene Position.“ [5]). Zweifellos nur unüberlegt. Aber Ausdruck verinnerlichter Stigmatisierung psychischer Krankheit, unter der die Kranken als „zweite Krankheit“ leiden und woraus Widerstände gegen Psychopharmakotherapie resultieren, mit denen Gerd Laux mittels Psychoedukation zu ringen hat. Im Jahr 2000 warb die damals noch lebende Deutsche British Airways u. a. im SPIEGEL mit dem Slogan „Bin ich schizophren?“. In meiner damaligen Rolle als Geschäftsführer der DGPPN habe ich bei der SPIEGEL-Redaktion interveniert und die Werbekampagne endete prompt. Im Jahr 2003 instrumentalisierte der damalige Bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber im Bundestag die Schizophrenie in der Auseinandersetzung mit der Bundesregierung; in Reaktion auf meine Kritik entschuldigte sich die Bayerische Staatskanzlei und gelobte Besserung. Aber: Das Stigma verharrt bis heute in den Köpfen, obwohl es Wurzel von Zwangssterilisierung und Euthanasie war [2]. Grund genug, die Förderung der Entstigmatisierung und Autonomie zur Mission des Ulrike-Fritze-Lindenthal-Preises der DGPPN zu machen. Das Stigma muss doch aus den Köpfen zu kriegen sein.

Jens-Uwe Peter et al. schildern die besondere Kasuistik eines Anterocollis unter Clozapin und Aripiprazol, die im AMSP aufgefallen ist. So selten dieses tardive Syndrom auftritt, so hilfreich ist die Intervention: Absetzen bzw. Dosisreduktion. Und lehrreich ist die detaillierte dargelegte Analyse.

Hans-Christoph Diener erweist sich als berechtigt begeistert über den ersten therapeutischen Ansatz am Tau-Protein zur Behandlung der Alzheimer-Demenz.

Die zerebrale Mikroangiopathie ist häufig Ursache für lakunäre Schlaganfälle und Demenz, bisher nicht wirklich behandelbar. Hans-Christoph Diener schildert die vielversprechende, randomisierte, wenn auch unverblindete Studie von Isosorbidmononitrat und Cilostazol versus Placebo.

Esketamin durchläuft derzeit erneut das Verfahren der frühen Nutzenbewertung für Erwachsene mit therapieresistenter Major Depression, die in der aktuellen mittelgradigen bis schweren depressiven Episode auf mindestens zwei unterschiedliche antidepressive Therapien nicht angesprochen haben. Der G-BA hat als zweckmäßige Vergleichstherapien Augmentation mit Lithium oder Quetiapin retard (als Add-on zu der zuletzt gegebenen antidepressiven Monotherapie) oder Kombination zweier Antidepressiva oder elektrokonvulsive Therapie (EKT) festgelegt. Grundlage der erneuten Nutzenbewertung ist jetzt eine Vergleichsstudie gegen Augmentation mit Quetiapin. Hans-Christoph Diener kommentiert einen jüngsten unverblindeten RCT, in dem sich subanästhetisches, intravenöses, razemisches Ketamin als der EKT nicht unterlegen erwies. Dieser Befund ist nicht ohne Weiteres auf intranasales Esketamin generalisierbar.

In einer Registerstudie war Ocrelizumab der Therapie mit Rituximab bei schubförmig-remittierender multipler Sklerose (RRMS) überlegen, wie Jasmine Naun referiert.

Seit 2006 steht Alglucosidase alfa als Enzymersatztherapie bei Morbus Pompe (Glykogen-Speicherkrankheit Typ II) zur Verfügung. Avalglucosidase alfa, die besser in die Zielzellen aufgenommen wird, erwies sich als überlegen, wie Sonja Zikeli referiert.

Der Inhibitor der Catechol-O-Methyltransferase (COMT) Opicapon scheint Entacapon zugunsten längerer On-Zeiten bei Parkinson-Krankheit überlegen zu sein. Erstmals wird sublingual zu applizierendes Apomorphin zur Bedarfstherapie von Off-Phasen der Parkinson-Krankheit verfügbar sein, wie Kirsten Westphal berichtet.

Sabine Rüdesheim berichtet über eine neue orodispersible Darreichungsform von Riluzol, die die Behandlung der amyotrophen Lateralsklerose erleichtern könnte. Die Vorteile können sich wegen der rechtlichen Vorgaben zur Nutzenbewertung nicht in einem Zusatznutzen niederschlagen.

Valbenazin ist nach Tetrabenazin und Deutetrabenazin ein weiterer Inhibitor des vesikulären Monoamintransporters 2, in den USA zugelassen gegen tardive Dyskinesie, und zeigte in einer Studie positive Effekte bei Chorea Huntington, wie Hans-Christoph Diener berichtet. Es ist derzeit nicht erkennbar, ob und ggf. wann eine Zulassung in Europa erfolgen wird.

Unter der Therapie der Migräne mit monoklonalen Antikörpern gegen CGRP (Calcitonin Gene-Related Peptide) oder seinen Rezeptor korreliert der Abfall der Serum-Alpha-CGRP-Konzentration mit dem klinischen Erfolg, was die pathophysiologische Relevanz von Alpha-CGRP unterstützt, wie Hans-Christoph Diener berichtet.

Literatur

1. Finzen A. Stigma psychische Krankheit. Köln: Psychiatrie Verlag, 2013.

2. Fritze J. Rezension: Zwischen NS-„Euthanasie“ und Reformaufbruch – Die psychiatrischen Fachgesellschaften im geteilten Deutschland. Fortschr Neurol Psychiatr 2022;90:260–4.

3. Fritze J. Verordnung von Neuro-Psychopharmaka. Psychopharmakotherapie 2023;30:96–9.

4. Fritze J, Riedel C, Escherich A, Beinlich P, Broich K, Sudhop T. Antikonvulsiva: Spektrum der Verordnung und Morbidität. Psychopharmakotherapie 2018;25:177–94.

5. https://www.ran.de/fussball/bundesliga/news/spd-politiker-lauterbach-kritisiert-schizophrene-verhaltensregeln-fuer-fussballprofis-148761 (Zugriff am 12.07.2023).

Psychopharmakotherapie 2023; 30(04):107-108