Schmerztherapie

Wirksamkeit von Antidepressiva zur Therapie chronischer Schmerzen bei Erwachsenen


Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Essen

Mit einem Kommentar des Autors
In einer Auswertung von systematischen Übersichtsarbeiten fanden sich Belege für die Wirksamkeit von Antidepressiva bei chronischen Schmerzen bei elf der 42 Vergleiche. Sieben der elf Vergleiche galten der Wirksamkeit von Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern. Bei den anderen 31 Vergleichen waren die Antidepressiva entweder unwirksam oder die Belege für die Wirksamkeit waren nicht schlüssig. Die Ergebnisse legen nahe, dass ein differenzierterer Ansatz bei der Verschreibung von Antidepressiva bei Schmerzzuständen notwendig ist.

Bei einer Vielzahl von chronischen Schmerzerkrankungen werden Antidepressiva entweder als Monotherapie oder in Kombination mit Analgetika therapeutisch eingesetzt. Allerdings ist die Datenlage bezogen auf große Placebo-kontrollierte Studien schlecht. Die Autoren wollten daher die Wirksamkeit von Antidepressiva bei 22 unterschiedlichen Schmerzzuständen untersuchen.

Studiendesign

Es wurden systematische Übersichten zur Therapie chronischer Schmerzen in PubMed, Embase, PsycINFO und im Cochrane Central Register of Controlled Trials bis Juni 2022 gesucht und ausgewertet. Kriterium für die Auswahl der Studien waren systematische Übersichtsarbeiten zum Vergleich eines bestimmten Antidepressivums mit Placebo bei 22 chronischen Schmerzerkrankungen bei Erwachsenen. Zwei Gutachter extrahierten unabhängig voneinander die Daten. Der wichtigste Endpunkt war die Schmerzintensität. Bei Kopfschmerzerkrankungen war der primäre Endpunkt die Häufigkeit der Kopfschmerzen. Die Ergebnisse der Studien wurden in eine Skala von 0 (keine Schmerzen) bis 100 (stärkste Schmerzen) umgerechnet und in der Regel als Mittelwertdifferenzen (mit 95%-Konfidenzintervall [95%-KI]) zwischen Verum und Placebo dargestellt. Wenn für einen Endpunkt Ergebnisse von mehreren Zeitpunkten angegeben waren, wurden die Daten zu dem Zeitpunkt extrahiert, der dem Ende der Behandlung am nächsten lag. Die Ergebnisse wurden bei jedem Vergleich als wirksam, nicht wirksam oder nicht schlüssig bewertet.

Ergebnisse

In die Analyse wurden 26 Übersichtsarbeiten mit 156 einzelnen Studien und > 25 000 Teilnehmern eingeschlossen. Die Übersichten berichteten über die Wirksamkeit von acht Antidepressivaklassen bei 22 Schmerzdiagnosen mit 42 verschiedenen Vergleichen.

Es wurden elf Vergleiche und neun Erkrankungen gefunden, bei denen Antidepressiva bei chronischen Schmerzen wirksam waren. Keine der Übersichtsarbeiten lieferte Hinweise mit hohem Evidenzgrad auf die Wirksamkeit von Antidepressiva. In vier Vergleichen gab es Hinweise mit mäßiger Evidenz, nämlich für Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) bei

  • Rückenschmerzen (mittlere Differenz –5,3 Punkte, 95%-KI –7,3 bis –3,3),
  • postoperativen Schmerzen (–7,3; KI –12,9 bis –1,7),
  • neuropathischen Schmerzen (–6,8; KI –8,7 bis –4,8) und
  • Fibromyalgie (Risikoverhältnis 1,4; 95%-KI 1,3–1,6).

Nur eine niedrige Evidenz ergab sich für: SNRI für die Indikationen Kniegelenksarthrose, Aromatasehemmertherapie-bedingte Schmerzen bei Brustkrebs und komorbide Schmerzen bei Depression; selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) für komorbide Schmerzen bei Depression; Trizyklika für die Indikationen Reizdarmsyndrom, neuropathische Schmerzen und chronischer Spannungskopfschmerz.

Bei den anderen 31 Vergleiche waren die Antidepressiva entweder nicht wirksam (fünf Vergleiche) oder die Daten waren bei 26 Vergleichen nicht schlüssig.

Kommentar

Diese Zusammenfassung von Übersichtsarbeiten zum Einsatz von Antidepressiva bei chronischen Schmerzen bei Erwachsenen wirkt auf den ersten Blick ernüchternd. Die Publikation suggeriert, dass für die meisten chronischen Schmerzzustände Antidepressiva nicht oder nur gering wirksam sind. Zugegebenermaßen ist für viele chronische Schmerzen die Datenlage nicht besonders gut. In der Neurologie gibt es aber zumindest starke Hinweise dafür, dass Antidepressiva bei der Migräne, beim chronischen Spannungskopfschmerz, bei chronisch neuropathischen Schmerzen sowie bei Rückenschmerzen wirksam sind. Im Einzelfall wird es immer darauf ankommen, entweder ein trizyklisches Antidepressivum oder SNRI einzusetzen und die Behandlungsdauer davon abhängig zu machen, ob die Therapie wirksam ist und ob sie toleriert wird.

Ein weiterer Aspekt wurde nicht adressiert, nämlich die mögliche Wirkung von Antidepressiva in der Kombination mit anderen Ansätzen der medikamentösen Schmerztherapie.

Die Übersichtsarbeit zeigt aber auch, wie wichtig es wäre, weitere große und hochwertige Placebo-kontrollierte Studien bei chronischen Schmerzen durchzuführen.

Quelle

Ferreira GE, et al. Efficacy, safety, and tolerability of antidepressants for pain in adults: overview of systematic reviews. BMJ 2023;380:e072415.

Psychopharmakotherapie 2023; 30(02):63-69