Prof. Hans-Christoph Diener, Essen
Die amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine rasch progrediente, neurodegenerative Erkrankung mit Verlust des ersten und zweiten Motoneurons und zunehmenden Paresen und Muskelatrophien. Die Erkrankung führt innerhalb von zwei bis fünf Jahren zum Tod. Die einzige derzeit verfügbare Therapie, die den Krankheitsverlauf etwas verlangsamt, ist die Gabe von Riluzol. Über 50 randomisierte und Placebo-kontrollierte Studien zu anderen Therapieoptionen sind bisher negativ verlaufen.
Eine neue Methode, um potenzielle medikamentöse Therapien zu identifizieren, stützt sich auf pharmakoepidemiologische Analysen. Dafür werden große Datenbanken herangezogen, in denen Diagnosen und verschriebene Arzneimittel dokumentiert sind. Es wird untersucht, ob es einen möglichen Einfluss von bestimmten Arzneimittelgruppen auf das Auftreten einer Erkrankung gibt oder Arzneimittel, die möglicherweise das Fortschreiten einer Erkrankung verlangsamen. Die so identifizierten Arzneimittel(gruppen) werden dann in präklinischen Modellen untersucht. Dieser Ansatz („bedside to bench“) wurde in der hier durchgeführten Studie in den Vereinigten Staaten gewählt.
Methodik
Ziel der Studie war es, mithilfe eines neuartigen kombinierten pharmakoepidemiologischen Ansatzes und der Verwendung eines ALS-Mausmodells Arzneistoffe zu identifizieren, die möglicherweise einen protektiven Effekt auf Motoneurone haben. Es handelte sich um eine große, bevölkerungsbezogene Fall-Kontroll-Studie zur Untersuchung von Motoneuronerkrankungen (MND) im US-amerikanischen Medicare-Versicherungssystem.
Unter Patienten, die im Jahr 2009 ein Alter von 66 bis 90 Jahren hatten, wurden 1128 Fälle identifiziert, bei denen im Jahr 2009 eine MND-Diagnose gestellt wurde. Ihnen wurden 56 400 nach Alter, Geschlecht und ethnischer Zugehörigkeit übereinstimmende Kontrollen zugeordnet. Die Autoren berechneten das relative MND-Risiko für > 1000 Arzneimittel, die in den Jahren 2006 bis 2007 eingenommen wurden. Es musste mindestens ein Jahr zwischen der Arzneimitteleinnahme und der Diagnose einer MND bestehen.
Nachdem einige vielversprechende Substanzen identifiziert worden waren, wurden diese an SOD1G93A-Mäusen, einem Tiermodell der ALS untersucht (Kasten). Es handelte sich um Sulfasalazin, Telmisartan und Lovastatin. Die Mäuse wurden vor dem Auftreten von Paresen mit einer dem Menschen äquivalenten Dosis des Arzneistoffs oder Placebo über eine subkutane osmotische Pumpe behandelt. Anschließend wurden im Verlauf Gewicht, Gangbild und das Überleben erfasst. Außerdem wurden histologische Untersuchungen durchgeführt.
SOD1G93A-Mausmodell
Aufgrund einer Mutation ist bei SOD1G93A-transgenen Mäusen im Superoxiddismutase-1(SOD1)-Protein das Glycin an Position 93 durch Alanin ersetzt. Die Mäuse entwickeln einen Phänotyp, der dem Krankheitsbild der humanen ALS sehr ähnlich ist, und werden deshalb schon lange als Tiermodell in der ALS-Forschung eingesetzt.
[Julien JP, Kriz J. Transgenic mouse models of amyotrophic lateral sclerosis. Biochim Biophys Acta 2006;1762:1013–24.]
Ergebnisse
Von den rund 1000 ermittelten Arzneimitteln blieben 72 übrig, für die ein Zusammenhang zwischen dem Auftreten einer Motoneuronerkrankung und der Einnahme des entsprechenden Arzneimittels plausibel erschien. Dabei zeigte sich ein Trend für ein geringeres Risiko einer Motoneuronerkrankung bei der Einnahme von Statinen, das bei der Einnahme von Fibraten und Ezetimib nicht beobachtet wurde. Am ausgeprägtesten war der Effekt bei der Einnahme von 40 mg Lovastatin. Dieser Effekt erreichte eine statistische Signifikanz bei Patienten, die zusätzlich unter einer ischämischen Herzerkrankung und Diabetes mellitus litten (relatives Risiko (0,65; 95%-Konfidenzintervall 0,44–0,96)
Bei den SOD1G93A-Mausstudien hatten Sulfasalazin und Telmisartan keinen protektiven Effekt, während die Behandlung mit Lovastatin den Ausbruch der Krankheitssymptome verzögerte und das Überleben verlängerte. Mit Lovastatin behandelte Mäuse wiesen auch eine geringere Mikrogliose, weniger fehlgefaltete Superoxid-Dismutase und einen geringeren Verlust an spinalen Motoneuronen im Ventralhorn auf.
Kommentar
Die referierte Studie verfolgt ein relativ neuen Ansatz zur Identifikation von Arzneimitteln, die bei neurologischen Erkrankungen möglicherweise wirksam sind. In einem ersten Schritt wird in großen Datenbanken bei möglichst vielen Arzneimitteln überprüft, ob diese potenziell einen Einfluss auf das Auftreten einer neurologischen Erkrankung haben, wenn die Therapie mehr als ein Jahr vor Erkrankungsbeginn begonnen wurde. Anschließend werden die so identifizierten Substanzen in Tiermodellen der entsprechenden Krankheit untersucht. Die Autoren haben diesen Ansatz bei der amyotrophen Lateralsklerose gewählt. Sie fanden einen nicht signifikanten Trend dahingehend, dass unter Einnahme von Statinen das Risiko, an einer amyotrophe Lateralsklerose zu erkranken, durchschnittlich um 10 % reduziert war. Die Behauptung im Titel der Arbeit, dass Lovastatin bei der ALS protektiv wirksam sein könnte, kann allerdings nicht nachvollzogen werden, da die entsprechenden Risikoreduktionen mit Ausnahme einer Untergruppe von Patienten statistisch nicht signifikant waren. Die Ergebnisse sollten aber zumindest dazu ermutigen, eine Therapiestudie bei Patienten im frühen Stadium der ALS durchzuführen.
Quelle
Kreple CJ, et al. Protective effects of lovastatin in a population-based ALS study and mouse model. Ann Neurol 2023;Jan 10 (Online ahead of print). DOI 10.1002/ana.26600.
Psychopharmakotherapie 2023; 30(02):63-69