Prof. Jürgen Fritze, Pulheim
Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 26. Februar 2020 entschieden, das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) umfasse als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Diese Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasse auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen. Das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung gemäß § 217 StGB sei also nichtig. Niemand könne aber verpflichtet werden, Suizidhilfe zu leisten. Ausdrücklich – und formallogisch nachvollziehbar – beschränkt das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, und hierfür Hilfe in Anspruch zu nehmen, nicht auf somatisch terminal Kranke; vielmehr stehe sie auch psychisch Kranken zu.
Infolge des BVerfG-Urteils „konkurrieren“ nun – erneut – Palliativmedizin und Hospizversorgung mit der Suizidhilfe. Der Gesetzgeber quält sich seither, sich auf neue, verfassungskonforme Regelungen zu verständigen; auf die bisherigen drei interfraktionellen Gesetzentwürfe sei verwiesen. Solche neue Regelung muss zwingend unter Würdigung der Verhältnismäßigkeit – die meint auch Zumutbarkeit – zwar Suizidhilfe ermöglichen, aber gleichzeitig systematische Suizidprävention implementieren, zumal das BVerfG zurecht die Pflicht des Staates zum Schutz des Lebens herausgestellt hat. Nur eine strukturell etablierte Suizidprävention kann den Betroffenen ermöglichen, frei zwischen Suizidhilfe einerseits und palliativmedizinischer und Hospizversorgung zu wählen. Die Finanzierung der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung ist in § 37b SGB V geregelt (wobei zweifellos insbesondere Allgemeinärzte Stützen der Palliativbehandlung terminal Kranker darstellen), die der stationären und ambulanten Hospizleistungen in § 39a SGB V. Demgegenüber fehlt eine systematische Finanzierung einer expliziten Suizidprävention. Die Suizidprävention bleibt bisher dem – bewundernswerten – ehrenamtlichen Engagement überlassen. Diese Diskrepanz hat der Gesetzgeber aufzulösen. Denkbar wäre ein entsprechender gesetzlicher Auftrag an die Nationale Präventionskonferenz nach § 20e SGB V oder eine spezifische Regelung analog §§ 37b bzw. 39a SGB V.
Schwartz, Batzler & Neukirchen schildern im vorliegenden Heft, was Psychopharmaka zur Linderung des Leids in der Palliativversorgung terminal Kranker leisten können.
Banal zu sagen: Mit langjährigem Leid und Leiden ist die multiple Sklerose (MS) verbunden. Heilung kann bisher nicht verheißen werden. Aber inzwischen finden sich die Neurologen in der angeblich komfortablen – so in ihrer umfassenden Übersicht – Situation vielfältiger Therapieoptionen einschließlich krankheitsmodifizierender Ansätze, mit denen sich also die Progression der Behinderung verzögern lässt. Das ist Linderung von Leid und Leiden.
Grundlage ärztlichen Handelns ist wohl, seit der Beruf des Arztes erfunden wurde, dass der Nutzen der Therapie deren Risiken in vernünftigem Maße übersteigen muss. Leid darf nicht durch unverhältnismäßiges Leiden vermeintlich gemindert werden – primum nihil nocere. Dabbert et al. setzen sich akribisch damit auseinander, dass Antipsychotika infolge Prolactin-Erhöhung das ohnehin bei Schizophrenie schon erhöhte Risiko eines Mammakarzinoms weiter erhöhen. Und sie geben Hinweise, wie sich diese Risikoerhöhung lindern lassen könnte. Frauen, die langjährig mit Antipsychotika behandelt werden, sollten ermutigt werden, das gesetzliche Mammographie-Screening als präventive Maßnahme in Anspruch zu nehmen.
Diener beschreibt und kommentiert das mögliche Repurposing des Lipidsenkers Lovastatin zur Progressionsverzögerung der amyotrophen Lateralsklerose (ALS).
Anscheinend kein neues Leid: Wie Diener berichtet, ist das Risiko fötaler Komplikationen unter Behandlung der MS mit Interferon beta, Glatirameracetat, Dimethylfumarat (DMF) oder Natalizumab nicht erhöht.
Schade, keine Linderung des Leids: Erhöhter Eisengehalt in nigrostriatalen Neuronen könnte mit erhöhtem Risiko der Parkinson-Krankheit in Verbindung stehen. Diener berichtet, dass der Eisenchelator Deferipron in einer Placebo-kontrollierten Studie leider keine protektive Wirkung entfaltete.
Schmerzlinderung ist seit Menschengedenken hehreste ärztliche Aufgabe und Mission. Diener berichtet und kommentiert einen Review von Metaanalysen, bei welchen chronischen Schmerzen welche Antidepressiva welchen Nutzen liefern.
Intensivmedizinische Behandlung ist mit beträchtlichem Risiko eines Delirs assoziiert. Häufig wird hier Haloperidol eingesetzt, wobei in den letzten Jahren der Nutzen debattiert wird. Diener berichtet und kommentiert eine neue Placebo-kontrollierte Studie.
Zikeli referiert eine Kohortenstudie, die der Frage nachging, inwieweit Leitlinien-konform Antipsychotika nach Abklingen eines Delirs im Kontext schwerer Infektion abgesetzt werden. Die verzeichnete Persistenz dürfte kein ausschließlich US-amerikanisches Problem darstellen.
Unnötig zu sagen: Prävention stärken, ärztlich verursachten Schaden vermeiden …
Psychopharmakotherapie 2023; 30(02):39-39