Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Essen
Das radiologisch isolierte Syndrom (RIS) stellt die früheste nachweisbare präklinische Phase der Multiplen Sklerose (MS) dar. In den letzten zehn Jahren wurden in der klinischen Routine immer mehr Personen erkannt, die in der Kernspintomographie (MRT) Veränderungen im Gehirn oder Rückenmark aufweisen, die auf eine entzündliche Demyelinisierung des ZNS hindeuten, ohne dass damit neurologische Ausfälle einhergehen. Dieser Zustand wird als „radiologisch isoliertes Syndrom (RIS)“ eingestuft. Prospektive Kohortenstudien deuten darauf hin, dass ein gewisser Anteil der Menschen mit RIS ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung eines ersten akuten demyelinisierenden Ereignisses (MS-Schub) oder das Auftreten neurologischer Ausfälle mit zunehmender Behinderung haben.
In der ARISE-Studie (Assessment of Tecfidera® in radiologically isolated syndrome [RIS]) wurde untersucht, inwieweit therapeutische Maßnahmen das Auftreten erster Symptome bei Patienten mit RIS verhindern können.
Studiendesign
Die randomisierte, doppelblinde, Placebo-kontrollierte Studie wurde an zwölf MS-Zentren in den USA durchgeführt. Eingeschlossen wurden Personen ohne MS-typische klinische Symptome, aber mit zufällig entdeckten MRT-Veränderungen im Gehirn, die auf eine Demyelinisierung des ZNS hindeuten. Die Teilnehmer der Studie wurden nach dem Zufallsprinzip im Verhältnis 1 : 1 auf die Einnahme von zweimal täglich 240 mg Dimethylfumarat (DMF) oder Placebo randomisiert.
Der primäre Endpunkt war die Zeit bis zum Auftreten erster klinischer Symptome, die auf ein demyelinisierendes Ereignis im ZNS zurückzuführen waren. Die Beobachtungszeit betrug 96 Wochen.
Ergebnisse
Die Studie rekrutierte vom März 2016 bis Oktober 2019. Es wurden 44 Personen auf Dimethylfumarat und 43 auf Placebo randomisiert. Die Teilnehmer waren im Mittel 45 Jahre alt und 70 % waren Frauen.
Unter der Behandlung mit DMF war das Risiko eines ersten klinischen demyelinisierenden Ereignisses während des 96-wöchigen Studienzeitraums im nicht bereinigten Cox-Proportional-Hazard-Regressionsmodell reduziert: Es betrug 33 % in der Placebo-Gruppe und 7 % in der DMF-Gruppe (Hazard-Ratio 0,18; 95%-Konfidenzintervall 0,05–0,63; p = 0,007).
Unter DMF traten mehr mittelschwere Nebenwirkungen auf (34 Ereignisse) als unter Placebo (19 Ereignisse). Die Zahl der schwerwiegenden unerwünschten Arzneimittelwirkungen war in beiden Gruppen ähnlich (DMF = 3; Placebo = 4).
Kommentar
In der Frühphase der MS werden zwei verschiedene Szenarien unterschieden. Beim klinisch isolierten Syndrom handelt es sich meist um den ersten Schub einer MS. Beim radiologisch isolierten Syndrom finden sich in der Kernspintomographie MS-typische Veränderungen, wobei aber keine neurologischen Ausfälle bestehen.
Es gibt eine Reihe von randomisierten Studien zum Einsatz der immunmodulatorischen Therapie beim klinisch isolierten Syndrom, die eine Wirksamkeit belegt haben [1]. Die hier referierte Studie aus den Vereinigten Staaten ist die erste randomisierte Studie, die eine Wirksamkeit von DMF bei Patienten mit radiologisch isoliertem Syndrom zeigt. Es konnte nicht nur die Wahrscheinlichkeit eines ersten MS-Schubs reduziert werden. Es kam auch zu einer allerdings jeweils statistisch nicht signifikanten Reduktion neuer Demyelinisierungsherde im Gehirn und Reduktion der Bildung von kontrastmittelaufnehmenden Demyelinisierungsherden.
Die Studie hat aber eine Vielzahl von methodischen Problemen: Sie war sehr klein und 30 % der Patienten haben die Therapie vorzeitig beendet. Darüber hinaus wurden Patienten, bei denen entweder klinische Symptome auftraten oder die neue MS-Herde hatten, in der Placebo-Gruppe mit DMF behandelt und in der Verum-Gruppe auf Interferon beta umgestellt. Die Ergebnisse sollten allerdings ermutigen, jetzt eine größere Phase-III-Studie durchzuführen.
Quelle
Okuda DT, et al. Dimethyl fumarate delays multiple sclerosis in radiologically isolated syndrome. Ann Neurol 2022; doi: 10.1002/ana.26555. Online ahead of print.
Literatur
1. Förster M, et al. Drug treatment of clinically isolated syndrome. CNS Drugs 2019;33:659–76.
Psychopharmakotherapie 2023; 30(01):30-37