Von der Grundlagenwissenschaft zu zielgerichteten Therapien


Heinz Reichmann, Dresden

Foto: Privat

Die fünfte diesjährige Ausgabe der Psychopharmakotherapie widmet sich schwerpunktmäßig der Neurologie. Auch mit diesem Heft lässt sich das nicht mehr ganz junge Petitum der Neurologie belegen, wonach wir von einem diagnostischen zu einem diagnostisch-therapeutischen Fach geworden sind. Immer mehr, häufig schwerwiegende, neurologische Erkrankungen sind modernsten Therapieformen zugängig. Was mich persönlich dabei besonders fasziniert, ist die Tatsache, dass die forschende Pharmaindustrie es schafft, von den grundlagenwissenschaftlichen Erkenntnissen über die Ätiopathogenese einer Erkrankung zielgerichtete Therapien zu entwickeln. Als Paradebeispiel können, wie in diesem Heft aufgegriffen, durchaus die Myasthenie und Migräne genannt werden.

In dem vorliegenden Heft beschreiben Kropf und Möller eine der Lieblingserkrankungen der Neurologen, nämlich die Myasthenie, und erklären sehr einprägsam die Ätiopathogenese, die neu entdeckten Antikörper und führen uns dann zur medikamentösen Therapie der Myasthenie. Sehr anschaulich bebildert zeigen sie die Basis-/Dauermedikation mit Hemmstoffen der Acetylcholinesterase, die immunsuppressive Dauertherapie, Thymektomie, Plasmapherese und die neuen Antikörperoptionen sowie die Gabe von Immunglobulinen und Komplement-Inhibitoren auf. Wie bereits angedeutet, zeigt sich gerade in der Myasthenie, dass unser Medikamentenportfolio ständig wächst und wir auch bislang therapieresistenten Patienten ganz neue Optionen bieten können.

Ähnliches gilt für die Migräne, wo der Einsatz von Triptanen ein erster Durchbruch war, nachdem man festgestellt hatte, dass das serotonerge System sowie das Calcitonin Gene-related Peptide (CGRP) die entscheidenden Krankheitstreiber der Migräne darstellen. Während die Triptane die 5-HT1B/5HT1D-Serotoninrezeptoren adressieren, wirken die Ditane als Agonisten des 5HT1F Serotoninrezeptor. Die Gepante sind neue CGRP-Rezeptorantikörper und können im Gegensatz zu den Ditanen nicht nur in der Akuttherapie, sondern auch in der Prophylaxe angewandt werden. Herr Kollege Gaul aus Frankfurt am Main stellt, erneut hervorragend bebildert, die Fortschritte in der Kopfschmerztherapie, insbesondere in der Migränetherapie sehr einprägsam dar. Auch hier gilt, dass wir immer mehr bislang therapieresistenten Migränepatienten durch die neuen Möglichkeiten zum Teil erstmalig eine ausreichend gute Therapie anbieten können.

Die Beherrschung eines Status epilepticus ist meist Aufgabe von Neurologen auf der Intensivstation. Es gibt hier entsprechend den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie ein Stufenkonzept, das Willems et al. aus Frankfurt sehr einprägsam und deutlich darstellen. Auch hier sind die Tabellen von hohem klinischem Nutzen und können durchaus als Spickzettel für jeden, der auf einer neurologischen Intensivstation mit einem Status epilepticus konfrontiert wird, herangezogen werden.

Somit sind drei sehr wichtige Krankheitsfelder der Neurologie, nämlich die Epileptologie, die Kopfschmerztherapie und die Myasthenietherapie, auf modernstem Stand von besonders ausgewiesenen Referenten für unsere Leserinnen und Leser einprägsam dargestellt.

Ergänzt wird die neurologische Ausgabe der PPT durch zwei besonders lesenswerte Kommentare, zu der aus neurologischer Sicht ewigen Diskussion über die Rolle von Serotonin bei der Depression und die Therapie mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI). In einer selten klaren Sprache wird die Untersuchung der Arbeitsgruppe von J. Moncrieff zur Serotonintheorie der Depression kritisch diskutiert und letzten Endes von Möller und Kasper vonseiten des klinischen und Riederer vonseiten des neurochemischen Aspektes als nicht haltbar deutlich kritisiert.

Zusammenfassend ist es uns wieder aufgrund unserer hervorragenden Autoren gelungen, einen spannenden Band der Psychopharmakotherapie zu generieren, dessen Lektüre, aus meiner Sicht zumindest, äußerst wertvoll ist.

Psychopharmakotherapie 2022; 29(05):161-161