Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Essen
Die spinozerebellären Ataxien (SCA) sind eine Gruppe von autosomal dominant vererbten progressiven neurologischen Erkrankungen, die klinisch und genetisch heterogen sind. Derzeit sind 48 Subtypen bekannt. Im Vordergrund der Symptome stehen eine zerebelläre Ataxie (Koordinationsstörung von Bewegungsabläufen) sowie spinale Symptome wie Paresen und Sensibilitätsstörungen. Eine Untergruppe von sieben Subtypen der SCA wird genetisch durch eine pathologische Expansion eines polymorphen CAG(Cytosin, Adenin, Guanin)-Repeats verursacht und betrifft am häufigsten Erwachsene im mittleren Lebensalter. Diese sieben Subtypen sind die SCA Typ 1, 2, 3, 6, 7 und 17 und die dentatorubrale pallidolysiale Atrophie (ATN1). Pädiatrische und juvenile Formen der Krankheit können ebenfalls auftreten, insbesondere bei den SCA Typ 2 und Typ 7. Der natürliche Verlauf der Krankheit ist für die Subtypen 1, 2 und 3 gut bekannt, einschließlich der jährlichen Progressionsrate auf der Skala zur Beurteilung und Bewertung der Ataxie (SARA-Score).
Riluzol hemmt die Aktivität des exzitatorischen Neurotransmitters Glutamat am NMDA-Rezeptor und ist für die Therapie der amyotrophen Lateralsklerose zugelassen. Riluzol zeigte in kleineren offenen Studien eine mögliche Wirkung bei zerebellären Ataxien [1, 2]. Eine Wirksamkeit bei den einzelnen Subtypen der Krankheit ist jedoch aufgrund der Heterogenität der Ursachen und Krankheitsstadien der Teilnehmer nicht belegt. Ziel der Studie war es daher, Riluzol bei einer einzigen genetischen Erkrankung, der SCA Typ 2, zu untersuchen.
Studiendesign
Bei der ATRIL-Studie handelte es sich um eine randomisierte, doppelblinde, Placebo-kontrollierte, multizentrische Studie , die an acht nationalen Referenzzentren für seltene Krankheiten in Frankreich durchgeführt wurde. Teilnehmer waren Patienten mit SCA Typ 2 mit einem Alter bei Krankheitsbeginn von bis zu 50 Jahren und einem Wert auf der Skala zur Beurteilung und Bewertung der Ataxie (SARA-Score) von mindestens 5 und bis zu 26 Punkten. Die Patienten wurden 1 : 1 randomisiert und erhielten zwölf Monate lang zweimal täglich entweder Riluzol 50 mg oral oder Placebo. Bei Studienbeginn, bei zwei weiteren Untersuchungen und nach zwölf Monaten wurden klinische Parameter erfasst und eine 3T-MRT-Untersuchung des Gehirns durchgeführt. Der primäre Endpunkt war der Anteil der Patienten, deren SARA-Score sich um mindestens einen Punkt verbesserte.
Ergebnisse
Zwischen Januar 2018 und Juni 2019 wurden 45 Patienten eingeschlossen. 22 Patienten erhielten Riluzol 50 mg und 23 Placebo. Das mediane Alter betrug 42 Jahre (Interquartile Range [IQR] 36–57) in der Riluzol-Gruppe und 49 Jahre (IQR 40–56) in der Placebo-Gruppe; 23 (51 %) der Teilnehmer waren Frauen. Alle Teilnehmer wiesen ein mittleres Krankheitsstadium auf mit einem durchschnittlichen SARA-Score von 13,5 (IQR 9,5–16,5). Die Erkrankung bestand im Mittel seit elf Jahren. Der primäre Endpunkt, eine Verbesserung des SARA-Scores um mindestens einen Punkt nach zwölf Monaten, wurde bei sieben Patienten (32 %) in der mit Riluzol behandelten Gruppe gegenüber neun Patienten (39 %) in der Placebo-Gruppe beobachtet, mit einer mittleren Differenz von –10,3 % (95%-Konfidenzintervall [KI] –37,4 % bis 19,2 %; p = 0,75). Der SARA-Score zeigte einen medianen Anstieg (d. h. eine Verschlechterung) von 0,5 Punkten in der Riluzol-Gruppe gegenüber 0,3 Punkten in der Placebo-Gruppe (p = 0,70). Auch in der Kernspintomographie fanden sich keine Unterschiede für die Volumenmessung des Kleinhirns zwischen den beiden Therapiegruppen. In der mit Riluzol behandelten Gruppe wurde kein schwerwiegendes unerwünschtes Ereignis gemeldet während vier Patienten in der Placebo-Gruppe einen schwerwiegenden Zwischenfall hatten. Die Anzahl der Patienten mit unerwünschten Arzneimittelwirkungen war in beiden Gruppen ähnlich (16 [73 %] vs. 19 [83 %] der Patienten unter Riluzol bzw. Placebo; p = 0,49).
Kommentar
Es gab bisher eine Reihe von Therapiestudien mit Valproinsäure und Lithium bei SCA. Diese Substanzen waren allerdings unwirksam. Die Ergebnisse zweier kleinerer Studien deuteten aber auf einen möglichen Therapieeffekt von Riluzol hin. Bei der ersten Studie handelte es sich um eine Pilotstudie mit 40 Patienten mit genetischen Formen einer Ataxie. Dabei zeigte sich ein Rückgang um fünf Punkte auf der internationalen kooperativen Ataxie-Bewertungsskala nach vier und acht Wochen nach der Behandlung mit Riluzol (100 mg/Tag) im Vergleich zu Placebo [1]. Die zweite Studie, eine Placebo-kontrollierte, randomisierte, doppelblinde Studie, umfasste 40 Patienten mit SCA (Typ 1, 2, 6, 8 oder 10) und 20 Patienten mit Friedreich-Ataxie, die zwölf Monate lang behandelt wurden [2]. Die Autoren dieser Studie fanden ebenfalls eine positive Wirkung von Riluzol mit einem Rückgang des SARA-Scores um einen Punkt nach einem Jahr. Allerdings wurden in diese beiden Studien Patienten mit verschiedenen Ataxie-Varianten und Krankheitsstadien sowie präsymptomatische Träger eingeschlossen. Diese Heterogenität schließt eine Verallgemeinerbarkeit eines möglichen positiven Effekts auf einzelne Krankheitsuntergruppen aus. Die jetzt in Frankreich durchgeführte (genotypisch homogene) Therapiestudie bei Patienten mit SCA Typ 2 ergab allerdings keinerlei Hinweise auf eine mögliche Wirksamkeit von Riluzol. Ob dies auch für andere Unterformen der SCA gilt, kann im Moment nicht beurteilt werden.
Quelle
Coarelli G, et al. Safety and efficacy of riluzole in spinocerebellar ataxia type 2 in France (ATRIL): a multicentre, randomised, double-blind, placebo-controlled trial. Lancet Neurol 2022;21:225–33.
Literatur
1. Ristori G, et al. Riluzole in cerebellar ataxia: a randomized, double-blind, placebo-controlled pilot trial. Neurology 2010;74:839–45.
2. Romano S, et al. Riluzole in patients with hereditary cerebellar ataxia: a randomised, double-blind, placebo-controlled trial. Lancet Neurol 2015;14:985–91.
Psychopharmakotherapie 2022; 29(05):192-203