Prof. Dr. Walter E. Müller, Worms/Frankfurt am Main
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Der deutsche Markt für Psychopharmaka ist seit einigen Jahren durch die restriktive Haltung des gemeinsamen Bundesauschusses von den zugegebenermaßen relativ wenigen neuen Entwicklungen weitgehend abgeschnitten. Verordnet werden billigste Generika, hergestellt in China oder Indien. In Verbindung damit ist leider auch das Interesse an den Grundlagen zur therapeutischen Anwendung von Psychopharmaka zurückgegangen, mit häufig beklagten Wissensdefiziten junger Psychiater oder von jungen Ärzten in psychiatrischer Ausbildung. Umso erfreulicher sind die Beiträge des vorliegenden Heftes, die gute Beispiele für die Bedeutung von präklinischen Daten für die optimale Anwendung von Psychopharmaka darstellen.
Die Entwicklung von Orexin-Rezeptorantagonisten als neuartige Schlafmittel war vor einigen Jahren mit großen Hoffnungen verbunden, da die relativ kleine Zahl von Orexin-haltigen Nervenzellen im Gehirn eine wichtige Rolle in der Regulation des physiologischen Schlafes spielt. Ein Antagonist für beide Rezeptortypen (Suvorexant) ist schon länger in verschiedenen Ländern in die Therapie eingeführt, war aber nur begrenzt erfolgreich, unter anderem wegen unerwünschter Wirkungen wie Tagesmüdigkeit. Daridorexant ist ein neuer dualer Orexin-Rezeptorantagonist, der nach den USA Ende des Jahres auch in der EU verfügbar sein soll. Die relevanten präklinischen und klinischen Daten zu Daridorexant werden von Steiger referiert und lassen auf ein neues Schlafmittel mit guter Wirksamkeit und guter Verträglichkeit, auch in Bezug auf Tagesmüdigkeit, hoffen. Negative Effekte auf Kognition und Probleme mit Abhängigkeitsentwicklungen scheinen deutlich weniger aufzutreten als bei Benzodiazepinen oder Z-Substanzen.
Einen Überblick über die Möglichkeiten der Pharmakotherapie von Angsterkrankungen gibt der Beitrag von Zwanzger und Singewald. Die Autoren heben hier hervor, dass viele unterschiedliche pharmakologische Konzepte bei Angst mit Erfolg eingesetzt werden können, mit sehr unterschiedlicher Datenlage für die einzelnen Erkrankungsbilder. Ausführlich setzen sich die Autoren mit dem aktuellen Kenntnisstand über alternative Wirkungsmechanismen bzw. alternative Substanzen auseinander, z. B. das glutamaterge System und Ketamin, Cannabis-Inhaltsstoffe, verschiedene Neuropeptide, einige Pflanzenextrakte und ganz aktuell verschiedene Psychedelika.
Die Pharmakokinetik des ADHS-Therapeutikums Methylphenidat nimmt innerhalb der Psychopharmaka eine Sonderstellung ein, weil eine hervorragende Korrelation zwischen dem Plasmaspiegel und dem Effekt auf die klinische Symptomatik besteht. Damit kann der Patient sehr exakt bedarfsgerecht therapiert werden. Wie gut dies für die bei uns im Markt erhältlichen Methylphenidat-Retardpräparate umgesetzt werden kann, zeigt der Artikel von Uebel-von Sandersleben. Die Präparate zeigen entweder höhere Blutspiegelwerte in den ersten Stunden nach Einnahme oder erst mehrere Stunden danach bzw. eher gleichmäßige Werte über die ganze Zeit nach Einnahme. Es liegt auf der Hand, dass z. B. ein Patient, der ein Retard-Präparat benötigt, das noch ausreichende Plasmaspiegel am Nachmittag erreicht, mit einem Präparat mit besonders hohen Werten am Morgen kurz nach Einnahme nicht optimal eingestellt wird. Genau dieses Problem wird aber offensichtlich durch verschiedene Rabattverträge ausgelöst. Dies zeigt, eine wie geringe Rolle pharmakologischer Sachverstand und optimierte Therapie der Patienten bei der Erstellung von Rabattverträgen spielen.
In guter Tradition wird in diesem Heft der neue Arzneiverordnungsreport (2021) im Beitrag von Fritze kritisch bewertet, wobei die Zahlen sich im Vergleich zum Vorjahr wenig verändert haben. Antidepressiva sind weiterhin mit Abstand die am häufigsten verordneten Psychopharmaka. Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) dominieren mit fast 50 %, gefolgt von immer noch 15 % Verordnungen für die alten Trizyklika, allerdings weiterhin mit abnehmender Tendenz. Die Verordnungen von Antipsychotika haben weiter leicht zugenommen, vermutlich durch die zunehmende Verschreibung bei bipolaren Erkrankungen. Die „atypischen“ Substanzen machen inzwischen über 60 % aus. Die Verordnung von Tranquillanzien und Schlafmitteln hat weiterhin leicht abgenommen. Fritze beklagt erneut, dass durch konzeptuelle Probleme des Arzneiverordnungsreports eine detaillierte pharmakoepidemiologische Bewertung der Verordnungen erschwert wird.
Aus der Rubrik „Referiert & kommentiert“ sollen die Berichte über zwei aktuelle Publikationen zu Psychopharmaka speziell erwähnt werden: Dauvilliers et al. berichteten in Lancet Neurology über positive Effekte von Natriumoxybat bei Patienten mit idiopathischer Insomnie. Die Substanz ist sonst zugelassen gegen Kataplexie oder übermäßiger Tagesschläfrigkeit bei Patienten mit Narkolepsie. Henssler et al. berichteten in JAMA Psychiatry über einen metaanalytischen Vergleich (40 Studien) von antidepressiver Monotherapie gegen Kombination von mindestens zwei Antidepressiva. Besonders die Kombination von einem Antidepressivum aus der Gruppe der Monoamin-Wiederaufnahmehemmstoffe mit Mirtazapin erwies sich der Monotherapie überlegen, auch bei Nonrespondern und beim First-Line Einsatz – ein wichtiger Befund, da Kombinationen mit Mirtazapin sehr häufig in der Praxis eingesetzt werden.
Insgesamt zeigt das vorliegende Heft der PPT, dass die Forschung auch heute noch praxisrelevante wichtige neue Daten liefern kann, wenn auch oft in kleinen Schritten.
Psychopharmakotherapie 2022; 29(04):121-121