Hans-Jürgen Möller, München
Evidenzbasierte Leitlinien, auch die deutschen S3-Leitlinien, sehen die aus Metaanalysen abgeleitete Evidenz als besonders hochrangig an. Bei klassischen Metaanalysen wird nur die „direkte Evidenz“ ermittelt, also zum Beispiel aus allen randomisierten Studien, in denen Medikament A mit Medikament B bzw. Medikament A mit Medikament C in einer bestimmten Indikation verglichen wurde. Stehen aber viele Medikamente für diese Indikation zur Verfügung, gibt es meistens nicht für alle Medikamentenpaarungen solche direkten Vergleiche.
Die seit etwa einem Jahrzehnt in der Psychopharmakologie eingeführten Netzwerk-Metaanalysen schließen diese Lücke, indem sie die „indirekte Evidenz“ für zwei nicht direkt in empirischen Studien verglichene Medikamente B vs. C. aus Studien ableiten, in denen A vs. B und A vs.C verglichen wurden. Während für die Antidepressiva-Therapie der Depression bereits Netzwerk-Metaanalysen publiziert wurden, wurde jetzt erstmals eine Netzwerk-Metaanalyse der medikamentösen Behandlungsansätze zur Therapie der Panikstörung veröffentlicht (Chawla N. et al. Drug treatment for panic disorder with or without agoraphobia.systematic review and network meta-analysis of randomized controlled trials. BMJ 2022;376:e066084).
Netzwerk-Metaanalysen – Vor- und Nachteile
Der Vorteil der Netzwerk-Metaanalyse besteht darin, dass die gesamte Evidenz zu einer Fragestellung aus den verfügbaren Studien ermittelt werden kann und dass entsprechende Wirksamkeits-Hierarchien aufgestellt werden können. Der Nachteil besteht darin, dass das Heranziehen „indirekter Evidenz“ eine zusätzliche Annahme erfordert, nämlich dass die „indirekte Evidenz“ valide ist. Es ist zu berücksichtigen, dass diese Methode noch stör-/bias-anfälliger ist als übliche Metaanalysen, deren methodologische Problematik immer wieder thematisiert wurde. So spielen zum Beispiel zeitbezogene Unterschiede hinsichtlich der Studienergebnisse eine Rolle, wenn man die Daten aus einer 1995 durchgeführten Vergleichsstudie Imipramin vs. Placebo mit einer 2009 durchgeführten Vergleichsstudie Venlafaxin vs. Placebo in Beziehung setzt. Allein die über die Jahre geänderten Placebo-Ansprechraten können zu einer schwer kontrollierbaren Ergebnisbeeinflussung führen. Zwar gibt es in den komplexen methodischen Arsenalen der Metaanalysen und Netzwerk-Metaanalysen statistische Korrekturmöglichkeiten und Sensitivitätsanalysen, die speziell auf Einflussfaktoren wie Placeboresponse, Dosierung, Studiendauer, Einnahmefrequenz u. a. abzielen; es bleibt aber ein zumindest für den mit diesen methodischen Raffinessen nicht vertrauten Kliniker letztlich ein schwer durchschaubares Verfahren.
Wichtig ist, sich immer wieder vor Augen zu halten, dass Metaanalysen – auch Netzwerk-Metaanalysen – keinen höheren Grad der Erkenntnis darstellen, sondern lediglich als eine statistische Zusammenfassung von Daten hinsichtlich einfacher Kenngrößen („Effektstärke“) anzusehen sind. Deshalb können sie auch nicht etwas finden, was nicht in den Daten implizit vorhanden ist. Sie können aber sinnvolle und prüfbare Hypothesen für die empirische Forschung begründen und haben insofern neben der synthetischen auch eine heuristische Funktion. Auch kann das Ergebnis mit dem Ergebnis früherer Metaanalysen hinsichtlich Konsistenz sowie hinsichtlich Übereinstimmung mit allgemeiner klinischer Erfahrung verglichen werden.
Therapie der Panikstörung
Die Ergebnisse (in der PPT in diesem Heft unter „Referiert und kommentiert“ dargestellt) der Netzwerk-Metaanalyse zur medikamentösen Behandlung der Panikstörung sind nicht überraschend – u. a. Überlegenheit der bekannten Wirksubstanzen gegenüber Placebo sowie Priorisierung der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) unter Wirksamkeits- und Verträglichkeitsaspekten – und entsprechen mehr oder weniger dem Wissensstand und den Leitlinienempfehlungen. Die Erwartung einer weitergehenden Subdifferenzierung auf der Basis des großen Datenpools und der sophistizierten Methodik wird nur annähernd erfüllt. Selbst mit dem hohen methodischen Aufwand der Netzwerk-Metaanalyse lässt sich offenbar eine weitergehende Differenzierung kaum darstellen oder aber sie ist im riesigen Datenpool der Ergebnisse randomisierter Studien nicht vorhanden. Diese summarische Bemerkung soll keinesfalls den Verdienst der Forschergruppe schmälern.
Als Kliniker ist man froh, dass die Ergebnisse nicht mit der eigenen klinischen Erfahrung oder mit den Leitlinienempfehlungen kontrastieren. In diesem Fall hätte man prüfen müssen, ob die eigene klinische Erfahrung falsch ist oder ob gegebenenfalls die für den Leser kaum überprüfbare komplizierte Methodik zu falschen Ergebnissen geführt hat. Bei der Lektüre fallen an mehreren Stellen des sehr technisch-mechanistisch wirkenden Berichts Sachverhalte auf, die die Validität einzuschränken scheinen.
Nach dem PRISMA-Suchverfahren wurden 87 einschließbare Studien (mit 12 800 Studienteilnehmern) identifziert. Aber nur 50 dieser Studien berichteten Remissionsdaten (das Hauptuntersuchungskriterium der Metaanalyse), nur 75 Drop-out-Daten, 41 Informationen über Angstsymptome, 54 über unerwünschte Ereignisse. Infolgedessen bezieht sich die Netzwerk-Metaanalyse nicht auf 87 Studien, sondern die Metaanalyse zur Wirksamkeit bezieht sich auf nur 50 Studien, die Netzwerk-Metaanalyse zu Drop-outs auf nur 72 Studien.
70 % der Studien wurde ein „risk of bias“ attestiert, bezogen auf Mängel bei der Darstellung der Randomisierung bzw. der Haupt-„outcome“-Kriterien in der jeweiligen Publikation.
Sertralin und Escitalopram zeigten die beste Relation zwischen Nutzen (Remission) und Risiko („adverse events“); allerdings lag bei Escitalopram nur eine Studie für diese Schlussfolgerung vor.
In dem sehr dicht gedrängten Text verbergen sich diese einschränkenden Details. Seitens der Autoren werden sie zwar aufzählend erwähnt, aber ohne jegliche kritische Kommentierung oder Erklärung. Eine sehr genaue Lektüre ist erforderlich, um den Wert, aber auch die Probleme der Untersuchung zu erkennen.
Prof. Dr. med. Hans-Jürgen Möller, Psychiatrische Klinik und Poliklinik der LMU, Nussbaumstraße 7, 80336 München, E-Mail: Hans-Juergen.Moeller@med.uni-muenchen.de
Psychopharmakotherapie 2022; 29(03):110-111