Jürgen Fritze, Pulheim, und Lutz Frölich, Mannheim
Die Alzheimer-Krankheit ist eine der großen Volkskrankheiten, bisher mit allein symptomatischen Therapieoptionen. Neue Erkenntnisse zur molekularen Neurobiologie mit einer sehr langen präklinischen und frühsymptomatischen Krankheitsphase sowie daraus abgeleitete molekulare Therapiestrategien eröffnen eine Vielzahl neuer diagnostischer (zur Übersicht siehe [26]) und therapeutischer Strategien (zur Übersicht siehe [10]). Die zentrale Stellung des Dysmetabolismus des Amyloid-Präkursor-Proteins mit letztlicher Ablagerung von amyloiden Plaques in der Pathogenese der Alzheimer-Krankheit ist durch viele experimentelle, pathologische, genetische und Biomarker-Studien belegt. Die Amyloid-Kaskaden-Hypothese integriert diese Befunde in ein komplexes Modell der Ätiopathogenese [12, 22]. Trotzdem ist die Pathophysiologie der Alzheimer-Krankheit nur unvollständig verstanden und wird auch immer wieder kritisch hinterfragt [16]. Parallel zu therapeutischen Strategien sind aus der Amyloid-Kaskaden-Hypothese diagnostische Biomarker der Alzheimer-Krankheit abgeleitet worden, die auch bereits in der Praxis von Gedächtnisambulanzen Anwendung finden [24, 25]. Im Jahr 2018 wurde ein diagnostisches Rahmenkonzept vorgeschlagen, die Alzheimer-Krankheit anhand des Nachweises eines Biomarker-Musters zu diagnostizieren, weitgehend ohne klinische Manifestationen zu berücksichtigen [14]. Eine Alzheimer-Krankheit kann also diagnostiziert werden, ohne dass oder bevor eine Alzheimer-Demenz sich klinisch durch Symptome und Zeichen manifestiert hat. Mitte 2021 wurde der Anti-Amyloid-Antikörper Aducanumab in den USA als krankheitsmodifizierende Therapie bei Alzheimer Krankheit zugelassen [5]. Aducanumab greift in die Pathophysiologie der Alzheimer-Krankheit ein, was auf Ebene dieser Biomarker nachgewiesen werden kann. Allerdings haben die FDA (U.S. Food and Drug Administration) und EMA (European Medicines Agency) aufgrund unterschiedlicher Bewertungen der biologischen und klinischen Wirksamkeitsbelege divergente Zulassungsentscheidungen getroffen. Die japanische Zulassungsbehörde hat derzeit noch keine Entscheidung getroffen, sondern fordert weitere Daten an [9].
FDA-Zulassung
Am 7. Juli 2021 hat die FDA Aduhelm® (Aducanumab) zur Behandlung der Alzheimer-Krankheit im Wege des „accelerated approval pathway“ zugelassen. Aducanumab ist ein gegen Beta-Amyloid gerichteter Antikörper der sogenannten zweiten Generation. Es reduziert bei wiederholter intravenöser Gabe in monatlichem Abstand dosisabhängig Amyloid-Ablagerungen im Gehirn. Das beschleunigte Zulassungsverfahren erlaubt bei schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten die Zulassung auf Basis von Surrogat-Endpunkten – wenn dieser Endpunkt mit vernünftiger Wahrscheinlichkeit einen klinischen Nutzen vorhersagt. Hier wurde von der FDA erstmals für die Alzheimer-Krankheit die Reduktion der Beta-Amyloid-Ablagerungen im Gehirn, quantifiziert durch Positronenemissionstomographie (PET, Amyloid-Scan) als Surrogat-Parameter anerkannt. Die Zulassung erfolgte mit der Auflage, in weiteren Studien den klinischen Nutzen nachzuweisen.
Als Indikation nennt die amerikanische Fachinformation („prescribing information“): „ADUHELM is indicated for the treatment of Alzheimer’s disease.“ Sie enthält keine Vorschriften, anhand welcher Biomarker die Alzheimer-Krankheit diagnostiziert worden sein soll. In die Zulassungsstudien, die in der Fachinformation detailliert dargelegt werden, wurden alle Patienten anhand des Nachweises von Beta-Amyloid mittels Amyloid-PET-Scan eingeschlossen. Die amerikanische Fachinformation enthielt zunächst keine Vorschriften, in welchen Stadien der Alzheimer-Krankheit Aducanumab einzusetzen sei. In die Zulassungsstudien waren nur Patienten im Stadium der leichten kognitiven Störung (mild cognitive impairment, MCI) und der leichtgradigen Demenz eingeschlossen worden. Nach öffentlicher Debatte hat die FDA die Fachinformation ergänzt: „Treatment with ADUHELM should be initiated in patients with mild cognitive impairment or mild dementia stage of disease, the population in which treatment was initiated in clinical trials. There are no safety or effectiveness data on initiating treatment at earlier or later stages of the disease than were studied“.
Nach öffentlicher Debatte sind für Aducanumab von klinischen Experten „Appropriate Use Recommendations“ vorgeschlagen worden [4], wonach diagnostisch insbesondere „amyloid positive PET or CSF findings consistent with AD“ und ein Baseline-Magnetresonanztomogramm (MRT) vorauszusetzen seien.
EMA-Votum
Am 16. Dezember 2021 hat die EMA empfohlen, die Zulassung von Aducanumab abzulehnen. Der Zulassungsantrag der Firma Biogen gilt der Indikation Alzheimer-Krankheit im Stadium der leichten kognitiven Störung (mild cognitive impairment, MCI) und der leichtgradigen Demenz. Die Ablehnung wurde damit begründet, dass Aducanumab zwar Beta-Amyloid-Ablagerungen im Gehirn reduziere, aber ein Zusammenhang zwischen diesem biochemischen Effekt und einer klinischen Besserung nicht belegt sei. Die beiden Zulassungsstudien hätten zu widersprüchlichen Ergebnissen geführt. Außerdem bestünden Sicherheitsbedenken, indem sich bei einigen Patienten im MRT Hirnschwellungen und Blutungen gezeigt hätten, sodass der mögliche Nutzen mögliche Risiken nicht aufwiegen könne.
Es ist zu erwarten, dass die Europäische Kommission der Empfehlung der EMA folgen wird.
Während die FDA den Beta-Amyloid-Ablagerungen pathophysiologische Bedeutung bei der Alzheimer-Krankheit beimisst sowie deren prädiktiven Wert für den klinischen Outcome anerkennt, weshalb das spezifische Verfahrenskonstrukt des „accelerated approval pathway“ angewendet werden kann, lehnt die EMA dieses Vorgehen ab, auch wenn ihr vergleichbare Instrumente („accelerated assessment“ bzw. „conditional marketing authorisation“) zur Verfügung stehen. Allerdings setzt „conditional marketing authorisation“ gemäß Verordnung (EG) Nr. 507/2006 der Europäischen Kommission vom 29. März 2006 den Nachweis eines die Risiken aufwiegenden klinischen Nutzens, also mehr als einen Biomarker-Effekt, voraus.
Konsequenzen
Im Folgenden soll es nicht darum gehen, sich mit den zugrunde liegenden Studienergebnissen auseinander zu setzen oder die Relevanz der Reduktion von Beta-Amyloid-Ablagerungen im Gehirn als Surrogat-Parameter für klinische Wirksamkeit kritisch zu diskutieren [1, 7, 8, 11, 15, 16, 18, 23]. Vielmehr stellt sich die Frage, was die Zulassungsentscheidungen für betroffene Patienten in Deutschland bedeuten.
Indem Aducanumab vorerst in Deutschland nicht zugelassen ist, hat es nicht das Verfahren der frühen Nutzenbewertung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) nach § 35a SGB V zu absolvieren und folglich gibt es keinen zwischen GKV-Spitzenverband und Hersteller ausgehandelten Preis. In den USA ist von Jahrestherapiekosten in Höhe von etwa 28 200 US-Dollar zuzüglich der Kosten für die Diagnostik, insbesondere Amyloid-Scan, und die MRT-Sicherheitsuntersuchungen vor jeder Dosiserhöhung und dann halbjährlich auszugehen, was unter anderem von großen Kostenträgern in den USA als inakzeptabel angesehen wird [19, 20, 21].
Es ist zumindest denkbar, dass einzelne Patienten die Behandlung mit Aducanumab trotz versagter Zulassung wünschen. Welche Optionen gibt es?
Einzeleinfuhr von Arzneimitteln („named patient use“)
Gemäß § 73(1) Arzneimittelgesetz (AMG) dürfen Arzneimittel, die der Pflicht zur Zulassung [...] unterliegen, nur nach Deutschland importiert („in den Geltungsbereich dieses Gesetzes verbracht“) werden, wenn sie („zum Verkehr im Geltungsbereich dieses Gesetzes“) zugelassen sind. Gemäß § 73(3) AMG aber dürfen Fertigarzneimittel, die zur Anwendung bei Menschen bestimmt sind und nicht [...] zugelassen [...] sind, grundsätzlich importiert werden, „wenn
- sie von Apotheken auf vorliegende Bestellung einzelner Personen in geringer Menge bestellt und von diesen Apotheken im Rahmen der bestehenden Apothekenbetriebserlaubnis abgegeben werden,
- sie in dem Staat rechtmäßig in Verkehr gebracht werden dürfen, aus dem sie in den Geltungsbereich dieses Gesetzes verbracht werden, und
- für sie hinsichtlich des Wirkstoffs identische und hinsichtlich der Wirkstärke vergleichbare Arzneimittel für das betreffende Anwendungsgebiet im Geltungsbereich des Gesetzes nicht zur Verfügung stehen“.
Folglich kann Aducanumab jedenfalls grundsätzlich unter den Voraussetzungen des § 73(3) AMG beispielsweise aus den USA importiert werden, wenn eine patientenindividuelle Verordnung eines Arztes vorliegt. Rechtlich ungeregelt ist, ob diese Erlaubnis auch für Arzneimittel gilt, denen die Zulassung ausdrücklich versagt wurde. Implizit bedeutet das Versagen der Zulassung das Verbot, das Arzneimittel in den Verkehr zu bringen; formal würde Aducanumab durch den Import in den Verkehr gebracht, wenn auch patientenindividuell. Der Patient und der verordnende Arzt könnten sich darauf berufen, dass „vergleichbare Arzneimittel [...] nicht zur Verfügung stehen“. Denn Aducanumab wäre der erste den Verlauf der frühen Alzheimer-Krankheit modifizierende Wirkstoff („disease modifying drug“, DMD), sofern die Hypothese einer Progressionsverlangsamung, die der Zulassung durch die FDA zugrunde liegt, zutrifft.
Indem Aducanumab nicht zugelassen ist, hätte der verordnende Arzt dieselben umfassenden Aufklärungspflichten wie in einer klinischen Prüfung. Eine Gefährdungshaftung des pharmazeutischen Unternehmers (pU) nach deutschem Recht bestünde nicht, nur nach dem Recht des Staates, aus dem importiert wird. Diese würde nur greifen, wenn der verordnende Arzt in seiner Diagnostik und beim Monitoring der Behandlung strikt der „prescribing information for aduhelm“ der FDA folgt. Im Übrigen bleiben die Haftungsrisiken beim verordnenden Arzt.
Jedenfalls aus Haftungsgründen wäre ein Arzt in Deutschland gut beraten, Aducanumab ausschließlich bei Patienten einsetzen, die die in den Zulassungsstudien vorausgesetzten Einschlusskriterien erfüllen, bei denen also insbesondere Amyloid-Ablagerungen mittels Amyloid-PET-Scan nachgewiesen sind. Ob ersatzweise „CSF findings consistent with AD“, wie von Cummings et al. [4] empfohlen, ausreichen können, bedarf angesichts uneindeutiger Datenlage [3, 6, 17] weiterer wissenschaftlicher Debatte und Konkretisierung.
Als Jahrestherapiekosten allein des Wirkstoffs Aducanumab werden vom Hersteller derzeit etwa 28 200 US-Dollar eingefordert. Das dürfte sich kaum ein Patient leisten können, und es ist auch unklar, ob diese Forderung in den USA als Preis zu realisieren ist. Für gesetzlich Versicherte in Deutschland bleibt, für solche individualisierte Pharmakotherapie mit einem importierten Arzneimittel vorab eine Kostenübernahme bei der zuständigen GKV zu beantragen. Allerdings hat das Bundessozialgericht (BSG) am 17. März 2005 unter anderem geurteilt (Az.: B 3 KR 2/05 R), dass Importarzneimittel, denen die EMA die Zulassung versagt hat, nicht zur Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung gehören, weil sie nicht verkehrsfähig sind.
Im Urteil des BSG heißt es insbesondere: Wenn ein Medikament, das „zwar im Ausland zugelassen ist, nicht aber in Deutschland oder in der EU, dies aber nicht auf einer abgelehnten, entzogenen oder ruhenden Zulassung beruht, sondern darauf, dass die Zulassung in der EU oder in Deutschland nicht beantragt oder das Zulassungsverfahren noch nicht beendet worden ist“, importiert werden soll, „greift die Ausnahmeregelung des § 73 Abs. 3 AMG ein. Diese bezieht sich schon nach ihrem Wortlaut ausdrücklich nur auf § 73 Abs. 1 AMG (Erlaubnis des Imports nur für hier zugelassene Medikamente), nicht aber auf § 30 Abs. 4 AMG (Verbot des Imports hier nicht mehr zugelassener Medikamente), lässt also nur Raum für den Import bereits im Ausland zugelassener, im Inland mangels Durchführung bzw. Abschluss eines Zulassungsverfahrens noch nicht zugelassener Medikamente. Es darf also bei § 73 Abs. 3 AMG keine negative Zulassungsentscheidung (Rücknahme, Widerruf, Ruhen der Zulassung) vorliegen; ist diese vorhanden, bleibt es beim allgemeinen Importverbot nach § 30 Abs. 4 AMG. Nur diese Regelung trägt den nach innerstaatlichem Maßstab zu beurteilenden Sicherheitsanforderungen Rechnung. Das in § 73 Abs. 1 Satz 1 AMG normierte Verbringungsverbot soll sicherstellen, dass in Deutschland auch nur dort zugelassene Fertigarzneimittel in den Verkehr gelangen. Die Vorschrift entspricht der Zulassungspflicht in § 21 Abs. 1 Satz 1 AMG für inländische Arzneimittel und dient dem Zweck, grundsätzlich bereits die Einfuhr von in Deutschland nicht zugelassenen Arzneimitteln zu verhindern [...] Die Ausnahmeregelung des § 73 Abs. 3 Satz 1 AMG zielt nicht darauf ab, einem Apotheker bei jedem nicht zugelassenen Arzneimittel eine Einzeleinfuhr zu ermöglichen. Ansonsten könnte [...] das für nicht zugelassene Arzneimittel bestehende Verkehrs- und Verbringungsverbot über den Weg der Apothekeneinfuhr umgangen werden mit der Folge, dass die arzneimittelrechtliche Zulassungspflicht ins Leere ginge.“
Das trifft auf Aduhelm® zu. Folglich ist zu erwarten, dass gesetzliche Krankenversicherungen (GKV) die Übernahme der Kosten des importierten Arzneimittels Aduhelm® ablehnen werden. Indem die MRT-Kontrollen allein aus dem Einsatz von Aduhelm® resultieren, kann die GKV auch für deren Kosten nicht leistungspflichtig sein.
Mit der vom BSG dargelegten Argumentation dürfte auch die private Krankenversicherung (PKV) die Kostenerstattung erfolgreich ablehnen können, wobei es dazu keine spezifischen Präzedenz-Urteile von Zivilgerichten zu geben scheint. Etabliert ist der Anspruch auf Kostenerstattung für nach § 73(3) AMG importierte Arzneimittel, solange kein Zulassungsantrag bei der EMA gestellt oder der Antrag noch nicht beschieden wurde: Im Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 9. Mai 2018 (Az. VIII ZR 135/17) wurde nicht die Leistungspflicht für nach § 73(3) AMG importierte Arzneimittel infrage gestellt, sondern die Anwendbarkeit der Arzneimittelpreisverordung, die der BGH ablehnte.
Es mag erstaunen, dass vor einer Zulassungsentscheidung Leistungspflicht der GKV und PKV unter den Bedingungen des § 73(3) AMG für Importarzneimittel besteht, die mit einer späteren negativen Zulassungsentscheidung erlischt, obwohl mit einer gegebenenfalls späteren positiven Zulassungsentscheidung wieder Leistungspflicht von GKV und PKV eintritt. Die dahinter stehende Logik liegt in einem Grundsatz zur allgemeinen Rechtssicherheit, wonach der Leistungsanspruch immer auf dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis zum Zeitpunkt der Behandlung eines Patienten zu beruhen hat (Urteile des BGH vom 10.07.1996, Az.: IV ZR 133/95, und vom 30.10.2013, Az.: IV ZR 307/12), hier definiert durch die Entscheidungen der Zulassungsbehörde.
Einschluss in eine klinische Studie
Sofern für die von der FDA geforderte weitere Wirksamkeitsstudie auch in Deutschland Patienten rekrutiert werden, steht Betroffenen frei, sich in die Studie einschließen zu lassen. Diese weitere Wirksamkeitsstudie bleibt vom Versagen der Zulassung unberührt, abgesehen davon, dass die Aufklärung der Patienten den Hinweis auf das Versagen der Zulassung und dessen Motive zu enthalten hat. Sämtliche Kosten sind vom Sponsor der Studie zu tragen.
Aktuell (Zugriff am 30.12.2021) findet sich bei https://clinicaltrials.gov/ keine rekrutierende Wirksamkeitsstudie zu Aducanumab. Laut einer Pressemitteilung hat der Hersteller Biogen eine solche konfirmatorische Wirksamkeitsstudie (Phase IV) mit Aducanumab mit 18 Monaten Behandlungszeitraum für den Mai 2022 angekündigt, und beabsichtigt, diese innerhalb von vier Jahren abzuschließen [2].
Härtefallregelung („compassionate use“)
Gemäß § 21 Abs. 2 Nr. 6 AMG bedarf es keiner Zulassung für Arzneimittel, die […] „unter den in Artikel 83 der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 genannten Voraussetzungen kostenlos für eine Anwendung bei Patienten zur Verfügung gestellt werden, die an einer zu einer schweren Behinderung führenden Erkrankung leiden oder deren Krankheit lebensbedrohend ist, und die mit einem zugelassenen Arzneimittel nicht zufriedenstellend behandelt werden können“. Die Rechtsverordnung (Arzneimittel-Härtefall-Verordnung – AMHV) nach § 80 AMG des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) regelt die Details der Anzeige des Härtefallprogramms beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Die Anzeige (anhand des Formulars des BfArM bei https://www.bfarm.de/DE/Arzneimittel/Klinische-Pruefung/Compassionate-Use/_node.html) hat insbesondere darzulegen, inwiefern die Voraussetzungen nach § 21 Abs. 2 Nr. 6 AMG erfüllt sind, Kriterien für die Auswahl der Patienten zu benennen, und zu begründen, warum die Patienten nicht in eine laufende klinische Prüfung einbezogen werden können, wobei aber ICH-GCP(International Conference on Harmonisation-Good Clinical Practice)-konforme klinische Prüfungen in dieser Indikation in einem Drittstaat laufen müssen. Der pU hat Anforderungen an die ärztlichen Einrichtungen und an die Qualifikation der teilnehmenden Ärztinnen und Ärzte, also zu erfüllende Voraussetzungen der Infrastruktur, zu definieren. Hierzu würde für Aducanumab die Gewährleistung des Amyloid-Scan und der MRT-Kontrollen gehören.
Sofern das BfArM die Anzeige bestätigt hat, können Patienten vom pharmazeutischen Unternehmen kostenlos mit dem Arzneimittel versorgt werden. Falls in Deutschland eine klinische Prüfung rekrutiert, muss das BfArM der Anzeige widersprechen, sodass der „compassionate use“ unmöglich ist.
Voraussetzung für eine Behandlung im Wege des „compassionate use“ ist also, dass der pU ein Härtefallprogramm aufgelegt und angezeigt und das BfArM dies bestätigt hat. Der pU ist frei, ein Härtefallprogramm aufzulegen oder nicht. Die frühe Alzheimer-Krankheit dürfte die Kriterien des § 21 Abs. 2 Nr. 6 AMG („zu einer schweren Behinderung führend“ oder „lebensbedrohend“) erfüllen. Das Härtefallprogramm kann nicht als Studie mit dem Ziel des Erkenntnisgewinns angelegt sein, abgesehen vom obligaten Erfassen von Daten zur Arzneimittelsicherheit. Das Härtefallprogramm ist immer befristet, kann aber verlängert werden. Die Gefährdungshaftung des pU gemäß § 84 AMG ist bei „compassionate use“ gewährleistet.
Zweck des Härtefallprogramms ist, Betroffenen frühzeitig kostenlosen Zugang zu einer bisher nicht zugelassenen Behandlungsoption in einer Indikation mit hohem, bisher unbefriedigtem medizinischen Bedarf zu ermöglichen. Der Gesetzgeber verfolgt damit also ein therapeutisches Interesse. Indem § 21 Abs. 2 Nr. 6 AMG die kostenlose Abgabe nur des Arzneimittels und das Vorliegen „einer zu einer schweren Behinderung führenden“ oder „lebensbedrohenden“ Krankheit, „die mit einem zugelassenen Arzneimittel nicht zufriedenstellend behandelt werden“ kann, voraussetzt, erkennt der Gesetzgeber den Einsatz und alle damit verbundenen medizinischen Maßnahmen implizit als medizinisch notwendig an. Folglich sind die weiteren mit dem Einsatz des Arzneimittels verbundenen Kosten für die Diagnostik und gegebenenfalls notwendigen Sicherheitsuntersuchungen – bei Aducanumab wären dies insbesondere Amyloid-Scan und die MRT-Kontrollen – von der gesetzlichen oder privaten Krankenversicherung zu tragen.
Aktuell (Zugriff am 30.12.2021) findet sich in der 19 Wirkstoffe umfassenden Liste des BfArM und in der neun Wirkstoffe umfassenden Liste des Paul-Ehrlich-Instituts kein Härtefallprogramm für Aducanumab.
Was geschieht danach?
Die Alzheimer-Krankheit verläuft chronisch-progredient. Das der Aducanumab-Anwendung zugrunde liegende therapeutische Konzept postuliert, die Ablagerungen von Beta-Amyloid trügen ursächlich zur klinischen Progression bei. Aducanumab müsste nach diesem Konzept also die klinische Progression jedenfalls verlangsamen, wenn nicht zum Stillstand bringen. Dieser Nachweis ist bisher nicht widerspruchsfrei erbracht, woraus die diskrepanten Bewertungen durch FDA und EMA resultierten. Die beiden der FDA-Zulassung zugrunde liegenden, pivotalen Studien waren auf eine Behandlungsdauer von 78 Wochen der frühen Alzheimer-Krankheit angelegt. Die von der FDA geforderte weitere Studie dürfte also eine Behandlungsdauer von mindestens 78 Wochen beanspruchen.
Vor 2024 dürften also für Aducanumab keine neuen Zulassungsentscheidungen anstehen. Scheiterte der Nachweis des klinischen Nutzens in der geforderten weiteren Studie, dann würde die FDA die Zulassung widerrufen. Ab dann würde Aducanumab nicht mehr aus den USA importiert werden können. Würde Biogen dann die Entwicklung von Aducanumab einstellen, wäre kein „compassionate use“ mehr möglich.
Münden aber die Ergebnisse weiterer Wirksamkeitsstudien in eine definitive Zulassung durch die FDA und eine Zulassung durch die EMA/EC, so würden die heute auf Basis der skizzierten Ausnahmeregelungen erfolgenden Behandlungen in der Regelversorgung zulasten der GKV bzw. PKV fortgeführt werden können. Im ersten Jahr ab dem Zeitpunkt des Inverkehrbringens gilt der vom pU frei festzulegende Preis. Binnen dieses Jahres sind die frühe Nutzenbewertung nach § 35a SGB V und – basierend auf deren Ergebnissen – die Preisverhandlungen nach § 130b SGB V abzuschließen.
Zweckmäßige Vergleichstherapie und Nutzenbewertung
Bleibt es im Zulassungsverfahren sinngemäß bei der aktuell gültigen Formulierung des Anwendungsgebiets „Alzheimer-Krankheit im Stadium der leichten kognitive Störung (mild cognitive impairment, MCI) und der leichtgradigen Demenz“, dann dürfte sich der pU Biogen mit Problemen bei den vom G-BA festzulegenden zweckmäßigen Vergleichstherapien konfrontiert sehen. Die Kosten der zweckmäßigen Vergleichstherapien bilden die Grundlage für die Preisverhandlungen.
Für MCI gibt es keine etablierten Therapieverfahren, weder zugelassene Arzneimittel noch andere spezifisch einzusetzende Verfahren. Empfohlen werden Maßnahmen gegen die vielfältigen Risikofaktoren, zu denen unter anderem mangelnde körperliche und geistige Aktivität, und kardiovaskuläre Risiken (z. B. Hypertonie, Diabetes mellitus, Übergewicht, Alkohol- und Nikotinkonsum), also insbesondere Änderungen des Lebensstils, gehören. Zweckmäßige Vergleichstherapie für MCI wäre also am ehesten, was schlussendlich „best supportive care“ genannt zu werden pflegt.
Für die „Alzheimer-Krankheit im Stadium der leichtgradigen Demenz“ wären die – generisch verfügbaren – Cholinesterasehemmer Donepezil, Galantamin und Rivastigmin sowie Ginkgo-biloba-Extrakte zweckmäßige Vergleichstherapien.
Das bisherige Entwicklungsprogramm für Aducanumab enthält keine Studien, in denen Aducanumab explizit mit „best supportive care“ oder gar mit einem Cholinesterasehemmer oder Ginkgo-biloba-Extrakten verglichen worden wäre. Folglich könnte das Ergebnis der Nutzenbewertung nur lauten: Mangels Daten Zusatznutzen nicht belegt. In einer solchen Konstellation erlaubt das Gesetz grundsätzlich keinen Arzneimittelpreis, der die Jahrestherapiekosten der zweckmäßigen Vergleichstherapien überschreitet (§ 130b Abs. 3 SGB V).
Opt-out
In diesem Szenario wären Jahrestherapiekosten von Aducanumab entsprechend derzeit 28 200 US-Dollar vermutlich unerreichbar, dies auch im Falle der Schiedsstellenentscheidung nach § 130b Abs. 4 SGB V nach Scheitern der Preisverhandlungen. Käme es dazu, so würde der pU Biogen vermutlich den Vertrieb in Deutschland einstellen („opt-out“). Dann stünde Aducanumab in Deutschland nicht mehr zur Verfügung. Aducanumab könnte nur noch im Wege des Imports („named patient use“) eingesetzt werden, sofern Aducanumab in anderen Ländern weiterhin zugelassen und verfügbar sein wird. Wie „das System“ damit umgehen würde, lässt sich nicht eindeutig antizipieren. Wenn die zuständige GKV dem Antrag auf Kostenübernahme nicht als Einzelfallentscheidung entspricht und/oder der pU kein Versorgungsprogramm auflegt, wäre das Arzneimittel – hier also gegebenenfalls Aducanumab – im Fall des Imports vom Patienten selbst zu bezahlen.
Wortlaut des Anwendungsgebietes: Progressionsverzögerung?
Würde aber das Anwendungsgebiet sinngemäß formuliert wie „Zur Verlangsamung der Progression der Alzheimer-Krankheit im Stadium der leichten kognitive Störung (mild cognitive impairment, MCI) oder der leichtgradigen Demenz“, also im Sinne eines krankheitsmodifizierenden Arzneistoffs, dann wäre eine andere zweckmäßige Vergleichstherapie als Placebo im Sinne des Gesetzes (§ 35a SGB V i. V. m. der Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung) schwerlich definierbar. Placebo war die Vergleichstherapie in den Zulassungsstudien von Aducanumab. Zielgröße für die Nutzenbewertung wäre dann das Ausmaß der Verzögerung der Krankheitsprogression.
Das Design der bisherigen Zulassungsstudien für Aducanumab erlaubt nicht, den Nachweis einer Progressionsverzögerung zweifelsfrei zu erbringen. Ob der zusätzliche Nachweis von „downstream“-Biomarker-Veränderungen (Phospho-Tau-Reduktionen im Plasma durch Aducanumab [3, 13]) dazu ausreichen, ist noch Gegenstand wissenschaftlicher Diskussion. Aus klinischer Sicht bedürfte es zum Beispiel einer randomisierten Placebo-kontrollierten Absetzstudie, die zeigen müsste, dass der zuvor mit Aducanumab im Vergleich zu Placebo gewonnene Gewinn über den Zeitpunkt des Absetzens hinaus fortbesteht, selbst wenn es nach Absetzen zu einer neuen – weiteren – Progression kommen sollte. Denkbar wäre auch eine – ethisch möglicherweise besser vertretbare – randomisierte Placebo-kontrollierte Studie, in der Aducanumab in einem dritten Studien-Arm verzögert eingesetzt würde; gegebenenfalls bessere Outcomes bei früherem Therapiebeginn würden eine Progressionsverzögerung stützen.
Alzheimer-Register – anwendungsbegleitende Datenerhebungen?
Angenommen, der pU Biogen wird sich den Herausforderungen der frühen Nutzenbewertung (§ 35a SGB V) stellen wollen und den Vertrieb in Deutschland nicht einstellen (kein „opt-out“), dann würde er Vergleichsstudien zum Beispiel gegen einen Cholinesterasehemmer in Aussicht stellen können. Der G-BA würde dann vermutlich seine Nutzenbewertungsentscheidung befristen auf den Zeitpunkt, für den entsprechende Studienergebnisse zu erwarten wären. Explizite Vergleichsstudien durchzuführen, bleibt der freien Entscheidung des pU überlassen. Der G-BA aber könnte angesichts des Datenmangels „anwendungsbegleitende Datenerhebungen“ (§ 35a Abs. 3b SGB V) verlangen. Das sind typischerweise Registerstudien. In Erwartung einer solchen Auflage könnte der pU bereits jetzt in Abstimmung mit G-BA und BfArM ein Alzheimer-Register etablieren, in das dann Daten zu Alzheimer-Patienten des infrage stehenden Schweregrads ohne und mit jedweder Therapie aufgenommen werden könnten. Die Kosten eines solchen Registers wären vom pU zu tragen.
Fazit
Nach und trotz Versagen der Zulassung durch die EC können betroffene Patienten die neue, von der FDA zugelassene Therapieoption Aducanumab bei früher Alzheimer-Krankheit nutzen wollen. Voraussetzung ist eine umfassende Aufklärung über die Optionen Einzeleinfuhr von Arzneimitteln („named patient use“), Einschluss in klinische Studien und gegebenenfalls Härtefallregelung („compassionate use“) und die damit jeweils – wie skizziert – verbundenen Kosten. Von den Ergebnissen der von der FDA geforderten weiteren Wirksamkeitsstudie und der gegebenenfalls folgenden Nutzenbewertung des G-BA wird abhängen, unter welchen Bedingungen und zu welchen Kosten Aducanumab dann zugänglich sein wird.
Interessenkonflikterklärung
J. Fritze erhielt in den letzten fünf Jahren Honorare für Beratertätigkeit von Amgen, Lundbeck, Nestlé, Teva, St. Jude Medical, Sanvartis, Vertex, Verband der privaten Krankenversicherung e. V.
L. Frölich erhielt in den letzten fünf Jahren Honorare für Berater- oder Vortragstätigkeit von Abbott, Allergan, Avanir, Axon Neuroscience, Biogen, Eisai, Forschungszentrum Jülich, InfectoPharm, Merck Sharp & Dohme, Neuroscios, Novo Nordisk, Novartis, Pharmatropix, Roche, Schwabe.
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Prof. Dr. med. Jürgen Fritze, Asternweg 65, 50259 Pulheim, E-Mail: juergen.fritze@dgn.de
Prof. Dr. Lutz Frölich, Abteilung für Gerontopsychiatrie, Zentralinstitut für seelische Gesundheit, Medizinische Fakultät Mannheim, Universität Heidelberg, Postfach 122120, 68072 Mannheim
Aducanumab – Aduhelm®: Utilization after the negative vote of EMA?
Deposits of beta-amyloid are thought to be relevant in the pathophysiology of Alzheimer‘s disease. The monoclonal antibody aducanumab has proven to clear these deposits and thus might represent the first disease modifying treatment approach. The U.S. Food and Drug Administration (FDA) has recently approved aducanumab under conditions while the European Medicines Agency (EMA) has recommended to refuse approval. Affected patients might, nevertheless, be interested in utilizing aducanumab. If there is no recruiting clinical trial available the German drug trafficking legislation offers the options of named patient use of the imported drug, where the patient probably will have no chance of reimbursement, and of free of charge compassionate use, if the manufacturer decides to establish an appropriate program. If EMA/European Commission (EC) will approve aducanumab based on positive results of future trials the label will prove relevant in the context of benefit assessment by the Federal Joint Committee (G-BA): If the label will not include the claim for slowing disease progression then aducanumab might not be granted an added benefit versus appropriate comparator treatments including best supportive care and cholinesterase inhibitors. This might result in the withdrawal of aducanumab from the German market („opt-out“).
Key words: Alzheimer, Aducanumab, named patient use, compassionate use, benefit assessment
Psychopharmakotherapie 2022; 29(02):64-70