Multiple Sklerose

Etablierte und neue Strategien bei der schubförmigen MS


Dr. Alexander Kretzschmar, München

Die Behandlung der multiplen Sklerose (MS) entwickelt sich weiterhin dynamisch. Dabei weitet sich auch die therapeutische Perspektive, wie in einem von Sanofi Genzyme organisierten Symposium bei der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie deutlich wurde. Es wird absehbar, dass etablierte Therapiekonzepte durch neue ZNS-gängige Wirkstoffe ergänzt werden. Hoffnungsträger sind die oralen Inhibitoren der Bruton-Tyrosinkinase (BTK), die zurzeit in einem Phase-II/III-Studienprogramm bei verschiedenen Autoimmunerkrankungen wie der MS untersucht werden.

Die zur Progression führenden Mechanismen werden schon früh im Krankheitsverlauf aktiviert [2]. Die neuroaxonale Schädigung erfolgt vor allem durch fokale Entmarkungsprozesse und eine diffuse Neurodegeneration. Das Ausmaß der akuten axonalen Schädigung korreliert dabei mit der Infiltration von Zellen des adaptiven und angeborenen Immunsystems. Ein wesentlicher Teil des neuronalen Axonverlusts tritt unabhängig von fokaler Entmarkung auf [4, 9]. Am deutlichsten wird der Zusammenhang zwischen axonaler Schädigung, Neurodegeneration und der Läsionsentwicklung bei den sogenannten aktiven „schwelenden“ Läsionen (smoldering lesions), vorwiegend in der weißen Substanz. Diese chronisch-diffusen Entzündungsprozesse besitzen scharf begrenzte Entmarkungsherde mit einem Makrophagen-/Mikroglia-Saum und einem charakteristischen paramagnetischen Ringsaum von mit Eisen beladenen Phagozyten („Rim“). Bei den aktivierten Makrophagen/Mikroglia handelt es sich überwiegend um den neurotoxischen M1-Phänotyp. Die M2-Makrophagen/Mikroglia produzieren demgegenüber antiinflammatorische Substanzen wie Interleukin 10 (IL-10), Transforming Growth Factor beta (TGF-β), Fibronektin und Scavenger-Rezeptoren [4, 9]. In den smoldering lesions finden also gleichzeitig neurodegenerative und neuroreparative Prozesse statt.

Die klinische Relevanz dieser hirnatrophischen Prozesse wird im klinischen Alltag oft unterschätzt. Die Hirnatrophie korreliert mit der individuellen Prognose und hat große prädiktive Bedeutung für die Vorhersage der Behinderungsprogression [3, 6]. In der Phase-III-Studie TEMSO reduzierte Teriflunomid (Aubagio®) nach 12 bzw. 24 Monaten die prozentuale Änderung des Hirnvolumens signifikant um 36,9 % (p = 0,0001) bzw. 30,6 % (p = 0,0001) [7]. Hier müssen sich Basistherapien wie Teriflunomid auch nicht hinter hochwirksamen krankheitsmodifizierenden Therapien (DMT) verstecken. So wurde beispielsweise in den Phase-III-Studien ASCLEPIOS I und II zwischen Teriflunomid und dem Anti-CD20-Antikörper Ofatumumab kein signifikanter Unterschied bei der Reduktion der jährlichen Atrophierate nach 12 und 24 Monaten gefunden [5].

Neue Targets und Therapien

Eine Option zur Weiterentwicklung der MS-Therapie ist die Beeinflussung der zentralen Inflammation, die im Verlauf der Erkrankung zunehmend kompartimentalisiert abläuft, also durch die Blut-Hirn-Schranke von peripheren Entzündungsmechanismen abgesondert wird. Ein therapeutischer Angriffspunkt ist die Bruton-Tyrosinkinase (BTK). Die BTK spielt bei den intrazellulären Signalwegen zur Aktivierung und Proliferation von B-Zellen, aber auch von Mikrogliazellen als wichtigen ortsständigen Immunzellen eine große Rolle. Von den ZNS-gängigen BTK-Inhibitoren (BTKI) erhofft man sich nicht nur eine Hemmung der fokalen Degeneration, sondern auch der diffusen Neuroinflammation. BTK+-Immunzellen finden sich auch gehäuft in dem Makrophagen-/Mikroglia-Saum der smoldering lesions [1].

Gegenwärtig werden mehrere BTKI bei verschiedenen Autoimmunerkrankungen – systemischer Lupus erythematodes (SLE), rheumatoide Arthritis (RA) und MS – in einem Phase-II/III-Studienprogramm untersucht. In einer Phase-IIb-Studie zur MS-Therapie erreichte der BTKI Tolebrutinib (SAR442 168) den primären Endpunkt zur Reduktion Gadolinium-anreichernder (Gd+) T1-Läsionen und zeigte ein günstiges Sicherheitsprofil [8]. Tolebrutinib wird derzeit in vier Phase-III-Studien bei der schubförmigen MS (RRMS und SPMS mit Schüben) als auch den progredienten Verlaufsformen (PPMS und SPMS ohne aufgesetzte Schübe) geprüft.

Quelle

Prof. Dr. Luisa Klotz, Münster, Prof. Dr. Christine Stadelmann-Nessler, Göttingen, Prof. Dr. Mike P. Wattjes, Hannover, Prof. Dr. Martin Berghoff, Gießen/Marburg; Satellitensymposium „Den Bogen spannen: Neurodegeneration – Progression – zentrale Therapieansätze in der MS“, veranstaltet von Sanofi Genzyme im Rahmen der virtuellen Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) e. V., 3. November 2021.

Literatur

1. Absinta M, et al. Persistent 7-tesla phase rim predicts poor outcome in new multiple sclerosis patient lesions. J Clin Invest 2016;126:2597–609.

2. Dendrou CA, et al. Immunopathology of multiple sclerosis. Nat Rev Immunol 2015;15:545–58.

3. Filippi M, et al. Gray matter damage predicts the accumulation of disability 13 years later in MS. Neurology 2013;81:1759–67.

4. Frischer JM, et al. The relation between inflammation and neurodegeneration in multiple sclerosis brains. Brain 2009;132:1175–89.

5. Hauser SL, et al. Ofatumumab versus teriflunomide in multiple sclerosis. N Engl J Med 2020;383:546–55.

6. Popescu V, et al. Brain atrophy and lesion load predict long term disability in multiple sclerosis. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2013;84:1082–91.

7. Radue EW, et al. Teriflunomide slows BVL in relapsing MS: A reanalysis of the TEMSO MRI data set using SIENA. Neurol Neuroimmunol Neuroinflamm 2017;4:e390.

8. Reich D, et al. Efficacy and safety outcomes in patients with relapsing forms of MS treated with the CNS-Penetrating BTK inhibitor SAR442168: results from the phase 2b trial. EAN 2020; Abstract O4010.

9. Stadelmann C, et al. Myelin in the central nervous system: structure, function, and pathology. Physiol Rev 2019;99:1381–431.

Psychopharmakotherapie 2022; 29(01):33-39