Prof. Dr. Jürgen Fritze, Pulheim
Phase-II-Studie
In einer doppelblinden, randomisierten, Placebo-kontrollierten, 5-wöchigen Studie untersuchten Brannan et al. (2021) die Wirkung einer Kombination von Xanomelin und Trospium bei 83 bzw. 87 (Placebo) hospitalisierten, überwiegend farbigen akut schizophren Kranken mit einem PANSS(Positive and negative syndrome scale)-Gesamtscore von fast 100 (97,7 vs. 96,6) [2]. Die Verum-Patienten erhielten zweimal täglich Xanomelin in flexibler Dosierung bis maximal 125 mg und Trospium in flexibler Dosierung bis 30 mg. In Woche 5 war der PANSS-Gesamtscore in der Verum-Gruppe um 17,4 Punkte und in der Placebo-Gruppe um 5,9 Punkte gesunken. Die mittlere Placebo-Verum-Differenz belief sich damit auf −11,6 Punkte (95%-Konfidenzintervall [KI] −16,1 bis −7,1; p < 0,001) zugunsten der Xanomelin-Trospium-Kombination. Auch die Effekte auf die PANSS-Subskalen für positive bzw. negative Symptome waren signifikant mit einer mittleren Placebo-Verum-Differenz von −3,2 Punkten (95%-KI −4,8 bis −1,7; p < 0,001) bzw. −2,3 Punkten (95%-KI −3,5 bis −1,1; p < 0,001). Für die globale Schwere der Krankheit (CGI-S) ergaben sich keine Placebo-Verum-Unterschiede. Kognitive Funktionen wurden nicht untersucht. Die Abbruchrate lag bei 20 % vs. 21 % und hatte keinen Bezug zu anti-/cholinergen Nebenwirkungen. Bis auf Akathisie (3 % unter Verum, spontan remittierend) wurden extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen nicht beobachtet. Die Autoren stellen zutreffend fest, es bedürfe angesichts des meist lebenslangen Leidens Schizophrenie weiterer, längerer Studien an weniger selektierten (bzgl. Ethnie und Hospitalisierung) Kollektiven. Eine Erklärung für die Diskrepanz zwischen den Befunden auf Ebene der PANSS gegenüber dem CGI-S versuchen die Autoren nicht.
Kommentar
Wenn sich die positiven Befunde in künftigen Studien bestätigen, dann wäre erstmals seit der Entdeckung von Chlorpromazin als erstem Antipsychotikum, also seit fast 70 Jahren, ein antipsychotisches Wirkprinzip gefunden, das nicht mit einem Dopamin-Rezeptor-Antagonismus verbunden ist. Das wäre schon beachtlich, bleibt aber abzuwarten. Ähnlich interessant ist die Historie, die dieser Studie zugrunde liegt.
Werfen wir zunächst einen Blick auf Clozapin: Clozapin ist auch nach 60 Jahren in der antipsychotischen Wirksamkeit unübertroffen und womöglich unerreicht. Sein Einsatz wird begrenzt durch das Agranulozytose-Risiko und zahlreiche weitere und häufige Nebenwirkungen. Zu den typischen Nebenwirkungen gehört die zumindest störende und stigmatisierende Hypersalivation. Clozapin hat ein vielfältiges Rezeptorbindungsprofil. Immer wieder wurde die Frage gestellt, wie sich der schwache Antagonismus von Clozapin an Dopaminrezeptoren mit der herausragenden antipsychotischen Wirkung vereinbaren lassen kann. Die Hypersalivation ist dem Agonismus an M1- und M4-muskarinischen Acetylcholinrezeptoren in den Speicheldrüsen zuzuschreiben und lässt sich durch vorzugsweise nur peripher wirkende Anticholinergika wie den M1- und M4-muskarinischen Antagonisten Pirenzepin lindern [3, 7].
Lange Jahre wurde dem M1- und M4-muskarinischen Agonismus von Clozapin keine Bedeutung für die gewünschte antipsychotische Wirkung beigemessen. Immerhin gibt es aber schon seit Jahrzehnten Hinweise, dass die cholinerge Neurotransmission pathophysiologisch an der Schizophrenie beteiligt ist [6]. Zu diesen Hinweisen gehört, dass hirngängige Anticholinergika – wohlmeinend zur Linderung oder gar zur Prophylaxe extrapyramidaler Nebenwirkungen verordnet – kognitive Leistungen mindern und Halluzinationen auslösen können und insofern der antipsychotischen Wirkung von Dopaminantagonisten entgegenwirken können.
Xanomelin wurde in den 90er Jahren auf Basis der Acetylcholinhypothese der Alzheimer-Demenz entwickelt [8]. Die Wirkung auf kognitive Defizite war begrenzt und cholinomimetische Nebenwirkungen begrenzten die Dosierung und führten zu hohen Abbruchraten, weshalb die Entwicklung als Antidementivum aufgegeben wurde. Auffällig war eine ausgeprägt günstige Wirkung auf Verhaltenssymptome der Alzheimer-Demenz [1], woraus auf mögliche antipsychotische Wirkungen bei Schizophrenien geschlossen wurde [5]. Tatsächlich ergab eine randomisierte kleine (2-mal 10 Patienten) Pilotstudie günstige Resultate bei Schizophrenie [9]. Diese Studie gab Anlass zu einem nahezu euphorischen Editorial von Lieberman et al. [4].
Wenn denn also künftige Studien die Ergebnisse von Brannan et al. (2021) bestätigen, dann stünde ein innovativer – von Dopaminrezeptorblockade unabhängiger – Therapieansatz zur Verfügung, der die Entwicklung der pathophysiologischen Theoriebildung und Forschung auf neue Wege lenken würde. Dabei wäre zu berücksichtigen, dass Xanomelin nicht nur M1- und M4-Agonist ist, sondern auch potenter M5-Antagonist und Agonist an 5-HT1A- und 5-HT1B-Serotoninrezeptoren und Antagonist an 5-HT2-Serotoninrezeptoren [4].
Aber was würden diese Studienergebnisse bedeuten? Xanomelin und Trospium genießen als Wirkstoffe keinen Patentschutz mehr. Anwendungspatente dürften von Karuna Therapeutics, dem Sponsor der Studie, gesichert worden sein. Karuna Therapeutics hat der Geschäftswelt für 2021 den Start weiterer Studien im EMERGENT-Programm angekündigt [10].
Eine arzneimittelrechtliche Zulassung könnte für eine fixe Kombination von Xanomelin und Trospium erfolgen, oder nur für Xanomelin in obligater Kombination mit irgendeinem – auch generischen – Trospium. In beiden Szenarien – Xanomelin hat bisher keine arzneimittelrechtliche Zulassung, Trospium würde im zweiten Szenario als Off-Label-Use eingesetzt – müsste die sog. frühe Nutzenbewertung (§ 35a SGB V) durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) bewältigt werden. Hier müsste sich Xanomelin in Kombination mit Trospium gegen zumindest eines der etablierten Antipsychotika vergleichen. Eine dafür geeignete Studie ist im Entwicklungsprogramm derzeit nicht erkennbar. Bliebe die Option des indirekten Vergleichs. Die indirekten Vergleiche sind im Rahmen der frühen Nutzenbewertung weit überwiegend gescheitert, typischerweise wegen Heterogenität der untersuchten Kollektive. Dann hätten wir also ein weiteres Beispiel einer Innovation ohne ökonomischen Mehrwert. Jedoch: wie „schön“ wäre ein neues Antipsychotikum ohne Dopaminrezeptorblockade nach fast 70 Jahren? Zumal man bei einer lebenslangen Krankheit kaum erwarten kann, den „wahren“ Nutzen schon anhand der Zulassungsstudien erkennen zu können?
Literatur
1. Bodick NC, et al. The selective muscarinic agonist xanomeline improves both the cognitive deficits and behavioral symptoms of Alzheimer disease. Alzheimer Dis Assoc Disord 1997;11(Suppl 4):S16–22.
2. Brannan SK, et al. Muscarinic cholinergic receptor agonist and peripheral antagonist for schizophrenia. N Engl J Med 2021;384:717–26. doi: 10.1056/NEJMoa2017015.
3. Fritze J, Elliger T. Pirenzepine for clozapine-induced hypersalivation. Lancet 1995;346:1034.
4. Lieberman JA, et al. Cholinergic agonists as novel treatments for schizophrenia: the promise of rational drug development for psychiatry. Am J Psychiatry. 2008;165:931–6. doi: 10.1176/appi.ajp.2008.08050769.
5. Mirza NR, et al. Xanomeline and the antipsychotic potential of muscarinic receptor subtype selective agonists. CNS Drug Rev 2003;9:159–86. doi: 10.1111/j.1527-3458.2003.tb00247.x.
6. Raedler TJ, et al. Towards a muscarinic hypothesis of schizophrenia. Mol Psychiatry 2007;12:232–46. doi: 10.1038/sj.mp.4001924.
7. Schneider B, et al. Reduction of clozapine-induced hypersalivation by pirenzepine is safe. Pharmacopsychiatry 2004;37:43–5.
8. Shannon HE, et al. Xanomeline: a novel muscarinic receptor agonist with functional selectivity for M1 receptors. J Pharmacol Exp Ther 1994;269:271–81.
9. Shekhar A, et al. Selective muscarinic receptor agonist xanomeline as a novel treatment approach for schizophrenia. Am J Psychiatry 2008;165:1033–9. doi: 10.1176/appi.ajp.2008.06091591.
10. https://www.businesswire.com/news/home/20210225005314/en/Karuna-Therapeutics-Reports-Fourth-Quarter-and-Year-End-2020-Financial-Results-and-Provides-General-Business-Update (Zugriff am 14.04.2021).
Psychopharmakotherapie 2021; 28(03):131-143