Prof. Dr. Jürgen Fritze, Pulheim
Zwölf Wirkstoffe aus der Zeit vor 2009 (32 Studien, n = 11 567) und drei Wirkstoffe aus der Zeit von 2009 bis 2015 (14 Studien, n = 6434) wurden ausgewertet bezüglich des primären Endpunkts der Änderung des Gesamtscores der Positive and Negative Syndrome Scale (PANSS) gegenüber der Ausgangslage (Baseline) im Vergleich zu Placebo, wobei fehlende Daten durch die Last-observation-carried-forward(LOCF)-Methode kompensiert wurden. Dabei wurde auch der Einfluss der Region, in der die Studien jeweils durchgeführt wurden, geprüft.
Der Nachweis der Überlegenheit gegenüber Placebo gelang in 57 % (8/14) der Studien in der Periode nach 2009 gegenüber 78 % (25/32) der Studien in der Periode vor 2009. Im Vergleich beider Perioden nahm die mittlere Placebo-Wirkung von −6,4 auf –10,5 PANSS-Punkte zu. Der mittlere Behandlungseffekt (Änderung des PANSS-Score unter Verum minus unter Placebo) sank von −8,6 auf −5,8 Punkte. Diese Effekte waren in Studien, die in Nordamerika durchgeführt worden waren, besonders ausgeprägt: Der Placebo-Effekt stieg hier von −4,3 (vor 2009) auf −8,5 (nach 2009), und der Behandlungseffekt sank hier von −9,0 (vor 2009) auf −3,4 (nach 2009). Bei multiregionalen Studien blieben die Änderungen demgegenüber über beide Perioden gering: Placebo-Effekt vor 2009 −10,0 und −11,3 nach 2009, Behandlungs-Effekt vor 2009 −8,1 gegenüber −6,4 nach 2009. Die PANSS-Scores bei Behandlungsbeginn (Baseline) waren in beiden Perioden unabhängig von der Region, in der die Studien durchgeführt worden waren, ähnlich. Höhere PANSS-Scores bei Behandlungsbeginn waren mit höheren Behandlungseffekten assoziiert ohne Unterschiede zwischen den Perioden und Regionen. In beiden Perioden war die Rate der Studienabbrecher (drop-outs) in nordamerikanischen Studien höher als in multiregionalen Studien (nach 2009 55 % gegenüber 33 %, vor 2009 49 % gegenüber 38 %).
Im Ergebnis mahnen die Autoren, Design und Durchführung künftiger Studien müssten Mechanismen enthalten, mit denen der Placebo-Effekt minimiert werden kann, um die Effizienz der Entwicklung von Wirkstoffen gegen Schizophrenie zu erhöhen.
Kommentar
Der Placebo-Effekt in Studien von Antipsychotika und – womöglich noch prononcierter – Antidepressiva befeuert seit Jahren die Debatte, ob die dem psychotropen Wirkstoff zuzuschreibende Effektstärke klinisch relevant sei (z. B. [1]). Placebo-kontrollierte Studien bilden das Rückgrat von Metaanalysen. Die klinische Relevanz, nach deutschem Sozialrecht die Patientenrelevanz (z. B. gemessen als minimal clinically important difference [MCID], also die Mindestdifferenz, die aus Perspektive der Patienten therapeutisch bedeutsam erscheint) sinkt formal, je größer der Placebo-Effekt ist. In Disharmonie mit der auch öffentlichen Debatte über fragliche Patientenrelevanz der Wirksamkeit von Antipsychotika und anderen Psychopharmaka wachsen die verordneten Tagesdosen von Antipsychotika – und noch ausgeprägter Antidepressiva – in Deutschland auch je Versicherten seit Jahren (z. B. [2, 8]).
Das Problem der Tendenz zunehmender Placebo-Effekte in Psychopharmaka-Studien über die Jahre wird seit langem beobachtet [9], auch von der FDA (z. B. [4]). Die Autoren zitieren die Metaanalyse von Leucht et al. [6], wonach nur die Faktoren Industrie-Sponsorship der Studie und Höhe des Placebo-Effekts die Effektstärke der Antipsychotika in den Studien signifikant modulierten. Es darf als etabliert angenommen werden, dass bei psychischen Krankheiten der Placebo-Effekt in Studien desto höher ist, je geringer die Schwere der Krankheit (z. B. [3]) in der Ausgangslage (Baseline) ist, je mehr die Randomisierung in der Studie den Verum-Arm begünstigt (also z. B. 2 : 1-Randomisierung mit höherem Placebo-Effekt als 1 : 1-Randomisierung assoziiert ist) und je jünger (Jahr der Studie oder Publikation) die Studie ist (säkularer Effekt). Die Autoren haben in ihrer Analyse den säkularen Effekt erneut repliziert, die beiden anderen Faktoren hatten keinen Einfluss. Zweifellos gibt es viele weitere Einflüsse auf Placebo-Effekt und Effektstärke [1, 7], wozu Spontanremissionen und Erwartungsdispositionen gehören. Eine wiederholt als Qualitätsdefizit von Psychopharmakastudien kritisierte unbeabsichtigte Entblindung anhand von Begleitwirkungen dürfte die säkulare Entwicklung von Placebo-Effekt und Effektstärke kaum erklären können. Die konfundierenden Einflüsse müssen durch geeignete Maßnahmen der Studienmethodik – hier gerade die Randomisierung – minimiert werden. Die Wirksamkeit dieser Maßnahmen muss in jedem Studienbericht explizit überprüft werden (Analyse des Verzerrungspotenzials).
Die Bedeutung der Erwartungsdisposition wird illustriert durch den Einfluss asymmetrischer Randomisierung. Die Erwartungsdisposition dürfte auch ein Grund für die besondere Entwicklung von Placebo-Effekt und Effektstärke in nordamerikanischen Studien sein. Hier erweist sich der begleitende Artikel von Laughren [5] als ebenso erhellend wie die Publikation von Gopalakrishnan et al. (2020) selbst – und eigentlich erschütternd. Laughren erklärt den in nordamerikanischen Studien dominanten Effekt auf Placebo-Effekt und Effektstärke über die Jahre: Die Schlussfolgerung der FDA, hohe Aufmerksamkeit für Studiendurchführung und Überprüfung von Design-Elementen sei geboten, stelle eine Verharmlosung des Problems dar. Der von der FDA berichtete Befund sei vielmehr alarmierend. Laughren stellt Zusammenhänge mit den finanziellen Anreizen der rekrutierenden Ärzte schon für die Anzahl rekrutierter Patienten und nicht für die Qualität der Selektion sowie mit der Inzentivierung der Patienten (Zitat: „fraudulent patients …“) her.
Werden Metaanalysen also grundsätzlich Sensitivitätsanalysen nach der Region, in der die Studien durchgeführt wurden, enthalten müssen, um glaubwürdig sein zu können? Ist die metaanalytisch ermittelte Effektstärke ein geeignetes Maß für einen patientenrelevanten (Zusatz-)Nutzen? Bei welchen anderen Indikationen (zweifellos bei Antidepressiva) sind solche regionalen Effekte zu gewärtigen?
Quelle
Gopalakrishnan M, et al. The trend of increasing placebo response and decreasing treatment effect in schizophrenia trials continues: an update from the US Food and Drug Administration. J Clin Psychiatry 2020;81:19r12 960.
Literatur
1. Doering BK, et al. Lessons to be learned from placebo arms in psychopharmacology trials. In: Benedetti F, Enck P, Frisaldi E, Schedlowski M (Hrsg.). Placebo. Handbook of Experimental Pharmacology. Heidelberg, New York: Springer-Verlag, 2014: 225.
2. Fritze J. Verordnung von Neuro-Psychopharmaka. Psychopharmakotherapie 2021;28:72–5.
3. Furukawa TA, et al. Initial severity of schizophrenia and efficacy of antipsychotics participant-level meta-analysis of 6 placebo-controlled studies. JAMA Psychiatry 2015;72:14–21.
4. Khin NA, et al. Exploratory analyses of efficacy data from schizophrenia trials in support of new drug applications submitted to the US Food and Drug Administration. J Clin Psychiatry 2012;73:856–64.
5. Laughren TP. A growing crisis in schizophrenia drug development: failing signal detection at North American and other clinical trial sites. J Clin Psychiatry 2020;81:19com13110.
6. Leucht S, et al. Sixty years of placebo-controlled antipsychotic drug trials in acute schizophrenia: systematic review, Bayesian meta-analysis, and meta-regression of efficacy predictors. Am J Psychiatry 2017;174:927–42.
7. Möller HJ. Das Problem der Heterogenität zwischen in den USA und nicht in den USA durchgeführten Antidepressiva-Studien. Psychopharmakotherapie 2014;21:211–8.
8. Schwabe U, Ludwig W-D (Hrsg.). Arzneiverordnungsreport 2020. Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag, 2020.
9. Weimer K, et al. Placebo eff ects in psychiatry: mediators and moderators. Lancet Psychiatry 2015;2:246–57.
Psychopharmakotherapie 2021; 28(02):86-91