Dr. Maja M. Christ, Stuttgart
Die Diagnose „multiple Sklerose“ (MS) trifft vor allem Frauen im Alter von 20 bis 40 Jahren. In der Anfangsphase der Erkrankung steht die Behandlung der Entzündungsreaktion im Vordergrund. Schreitet die Erkrankung fort, ist ein rechtzeitiger Therapiewechsel angezeigt. Mit hocheffektiven Arzneimitteln konnte der Anteil der Patienten mit Progression nach 10 Jahren von 40 % ohne Therapie auf unter 20 % gedrückt werden, erläuterte Ralf Linker, Regensburg.
Früh und effektiv behandeln – Axonschäden minimieren
„Time is brain“. Diese Aussage gilt Tjalf Ziemssen, Dresden, zufolge nicht nur für Schlaganfallpatienten, sondern bei allen neurologischen Erkrankungen und damit auch für die MS. Im gängigen EDSS (Expanded disability status scale) fehlen allerdings Parameter wie Kognition oder Fatigue. Oft sind es jedoch neurodegenerative Parameter, die dazu führen, dass ein MS-Patient berufsunfähig wird. Als wichtiger Parameter im Studienalltag, der gut mit der Neurodegeneration korreliert, hat sich inzwischen die Hirnatrophie und hier vor allem das Thalamusvolumen erwiesen.
Heute sind die Therapieziele deutlich anspruchsvoller geworden. Doch keine der verfügbaren Therapieoptionen erfüllt alle Anforderungen an ein modernes Arzneimittel: Sie wirken zwar besser, bringen aber auch neue Nebenwirkungen mit sich – wie etwa die progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML). Daher ist es wichtig, bestehende Therapiekonzepte weiter zu verfeinern.
Ozanimod: Spezifität senkt Nebenwirkungen
Ozanimod (Zeposia®) ist ein oral verfügbarer S1P-Rezeptor-Modulator. Er bindet spezifisch an die Rezeptor-Subtypen S1P1 und S1P5 und hat keine klinisch relevante Affinität zu S1P2, 3 oder 4. Das minimiert Off-Target-Effekte im Vergleich zu dem unspezifisch bindenden S1P-Rezeptor-Modulator Fingolimod. Mittels Aufdosierung von 0,23 mg/Tag über 0,46 mg/Tag auf 0,92 mg/Tag ab Tag 8 wird das Risiko einer therapieinduzierten Bradykardie minimiert.
Umfangreiches Studienprogramm
Die Wirksamkeit und Sicherheit von Ozanimod wurden in den Studien RADIANCE, SUNBEAM und der Open-Label-Extension DAYBREAK untersucht. In die Studien waren insgesamt 2659 Patienten eingeschlossen, die eingangs 1 : 1 : 1 randomisiert 0,46 mg bzw. 0,92 mg Ozanimod oder Interferon (IFN) beta-1a über einen Zeitraum von 12 bis 30 Monaten erhielten (Tab. 1). Die Studienteilnehmer waren im Mittel 35 Jahre alt, etwa zwei Drittel waren weiblich. Der mittlere EDSS lag bei 2,6.
Tab. 1. Studiendesign RADIANCE B [1] und SUNBEAM [2]
SUNBEAM |
RADIANCE Teil B |
|
Erkrankung |
Schubförmig remittierende multiple Sklerose |
|
Studienziel |
Wirksamkeit und Sicherheit des S1P-Rezeptor-Modulators Ozanimod |
|
Studiendesign |
Interventionell, Phase III, randomisiert, multizentrisch, doppelblind, aktiv kontrollierte Doppel-Dummy-Studie |
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Patienten |
1346 |
1313 |
Intervention nach Aufdosierung über 7 Tage |
Behandlung, bis letzter Patient 12 Monate in Studie |
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Primärer Endpunkt |
Jährliche Schubrate (ARR) nach 12 bis 30 Monaten |
ARR nach 24 Monaten |
Sponsor |
Celgene |
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Studienregister-Nr. |
NCT02294058 (ClinicalTrials.gov) |
NCT02047734 (ClinicalTrials.gov) |
Im Studienzeitraum erlitten 681 der 2659 Patienten mindestens einen bestätigten Schub (Ozanimod 0,92 mg: 21 %; Ozanimod 0,46 mg: 24 %; IFN beta-1a: 32 %). Unter Ozanimod war die adjustierte jährliche Schubrate (ARR) signifikant gegenüber Interferon reduziert (in der gepoolten Analyse mit 0,46 bzw. 0,92 mg um 26 % bzw. 42 % vs. IFN beta-1a). Auch in sekundären Endpunkten zeigte sich ein Vorteil von Ozanimod: Sowohl die Anzahl an neuen oder sich vergrößernden T2-Läsionen als auch von Gadolinium-anreichernden T1-Läsionen war gegenüber Interferon deutlich reduziert (Tab. 2). Gleiches galt für die Hirnatrophie. Die Reduktion des Hirnvolumens betrug in SUNBEAM 0,39 % versus 0,57 % und in RADIANCE 0,69 % versus 0,94 % (jeweils 0,92 mg Ozanimod vs. IFN beta-1a; p < 0,0001). Der Anteil der Patienten mit bestätigter Behinderungsprogression nach drei Monaten war gering, erreichte allerdings keine statistische Signifikanz im Vergleich zu IFN beta-1a (Tab. 2).
Tab. 2. Studienergebnisse SUNBEAM und RADIANCE Teil B [1–3]
SUNBEAM |
RADIANCE Teil B |
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Ozanimod 0,92 mg (n = 447) |
IFN beta -1a i. m. 30 μg (n = 448) |
Ozanimod 0,92 mg (n = 433) |
IFN beta-1a i. m. 30 μg (n = 441) |
|
Klinische Endpunkte |
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Jährliche Schubrate (ARR; primärer Endpunkt) |
0,18 % |
0,35 % |
0,17 % |
0,28 % |
Relative Reduktion |
48 % (p < 0,0001) |
38 % (p < 0,0001) |
||
Patienten mit bestätigter Behinderungsprogression nach 3 Monaten† (Hazard Ratio [95%-KI]) |
7,6 % vs. 7,8 % (0,95 [0,68–1,33]) |
|||
Patienten mit bestätigter Behinderungsprogression nach 6 Monaten† (Hazard Ratio [95%-KI]) |
5,8 % vs. 4,0 % (1,41 [0,92–2,17]) |
|||
MRT-Endpunkte |
||||
Mittlere Anzahl neuer oder sich vergrößernder hyperintenser T2-Läsionen im MRT |
1,47 |
2,84 |
1,84 |
3,18 |
Relative Reduktion |
48 % (p < 0,0001) |
42 % (p < 0,0001) |
||
Mittlere Anzahl Gd-anreichernde T1-Läsionen |
0,16 |
0,43 |
0,18 |
0,37 |
Relative Reduktion |
63 % (p < 0,0001) |
53 % (p = 0,0006) |
Gd: Gadolinium; IFN: Interferon; i. m.: intramuskulär; KI: Konfidenzintervall; MRT: Magnetresonanztomographie
†Behinderungsprogression definiert als Anstieg des EDSS-Punktwerts um 1 Punkt, gepoolte Daten
In der Extensionsphase DAYBREAK konnte die Wirksamkeit bestätigt werden: Patienten, die seit den Hauptstudien auf 0,92 mg Ozanimod eingestellt waren, zeigten eine konstante Schubrate, während Patienten, die von Interferon auf die hohe Ozanimod-Dosis wechselten, eine weitere Reduktion der Schubrate zeigten.
In den Studien zeigte sich auch die Verträglichkeit des S1P-Rezeptor-Modulators. Therapiebedingte unerwünschte Ereignisse traten unter Ozanimod etwas seltener auf als unter Interferon (67 % vs. 75 %). Das Infektionsrisiko war in allen Studienarmen ähnlich. Ozanimod führte allerdings zu einer transienten Erhöhung der Leberwerte. Zwei Studienteilnehmer hatten unter Ozanimod einen AV-Block 1. Grades, niemand hatte einen AV-Block ≥ 2. Grades.
Ganz ohne kardiales Risiko geht es auch bei Umgehen des S1P3-Rezeptors nicht. Ozanimod ist daher neben schweren aktiven Infektionen, Immunschwäche, aktiven malignen Erkrankungen oder Schwangerschaft unter anderem bei verschiedenen kardialen Erkrankungen kontraindiziert. Bei Patienten ohne kardiale Vorerkrankungen erfordert die Gabe von Ozanimod jedoch keine kardiale Überwachung.
Fazit
Eine frühzeitige Behandlung mit effektiven Therapeutika ist für MS-Patienten wichtig, um die Progression – insbesondere auch die Hirnatrophie – zu verlangsamen oder gar zu stoppen. Für jede Therapieentscheidung ist die Einschätzung des jeweiligen Nutzen-Risiko-Profils wichtig – sowohl bei Initiierung einer Ersttherapie als auch bei einem Wechsel der bestehenden Therapie. Dabei solle man die wirksamste Therapie wählen, die in das Setting des Patienten passe, so Linker. Für Patienten mit aktiver RRMS ist Ozanimod nach den derzeitigen Studienergebnissen eine effektive und gut verträgliche Therapieoption. Die orale Gabe ermöglicht es zudem, dass Patienten die Therapie gut in ihren Alltag integrieren können. Linker und Ziemssen hoffen, dass sich hocheffektive Therapeutika wie Ozanimod nicht nur in den Zentren, sondern „in der Breite“ – also auch im ländlichen Bereich – etablieren.
Quelle
Prof. Dr. med. Ralf Linker, Regensburg, Prof. Dr. med. Tjalf Ziemssen, Dresden, virtuelles Launch-Fachpressegespräch: „Neue Behandlungsoption bei schubförmig-remittierender MS: Mit ZEPOSIA® (Ozanimod) zielgerichtet früh und effektiv therapieren“, veranstaltet von Bristol-Myers Squibb am 15. Juli 2020.
Literatur
1. Cohan JA, et al. Safety and efficacy of ozanimod versus interferon beta-1a in relapsing multiple sclerosis (RADIANCE): a multicentre, randomised, 24-month, phase 3 trial. Lancet Neurol 2019;18:1021–33.
2. Comi G, et al. Safety and efficacy of ozanimod versus interferon beta-1a in relapsing multiple sclerosis (SUNBEAM): a multicentre, randomised, minimum 12-month, phase 3 trial. Lancet Neurol 2019;18:1009–20.
3. Fachinformation Zeposia®. Celgene. Mai 2020.
Psychopharmakotherapie 2020; 27(05):258-267