Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Essen
Die Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankung (NMOSD) ist eine Autoimmunerkrankung des Zentralnervensystems mit Manifestation an den Sehnerven und im Rückenmark. Die Erkrankung verläuft typischerweise in Schüben. Die meisten Leitlinien empfehlen bisher eine Therapie mit Azathioprin, obwohl es dazu keine guten randomisierten Studien gibt. Tocilizumab (RoActemra®) ist ein humanisierter IgG1-Antikörper gegen lösliche und membrangebundene Interleukin-6-Rezeptoren, der bisher zur Behandlung der rheumatoiden Arthritis verwendet wird. Eine Zulassung besteht auch für die Riesenzellarteriitis. Eine Vergleichsstudie zwischen Azathioprin und Tocilizumab wurde bisher nicht durchgeführt.
Studiendesign
Die offene, multizentrische, randomisierte Phase-II-Studie wurde an sechs Krankenhäusern in China durchgeführt und umfasste 60 Wochen. Eingeschlossen wurden erwachsene Patienten mit NMOSD und hoher Schubfrequenz mit einem Wert auf der EDSS-Skala (Extended disability status scale) von 7,5 oder weniger und mindestens zwei Erkrankungsschüben in den letzten 12 Monaten. Die Patienten erhielten entweder 8 mg/kg Tocilizumab i. v. alle vier Wochen oder 2 bis 3 mg/kg Azathioprin pro Tag als orale Gabe. Die Erhebung der Endpunkte erfolgte verblindet. Der primäre Studienendpunkt war die Zeit bis zum ersten erneuten Krankheitsschub.
Ergebnisse
Zwischen November 2017 und August 2018 wurden 118 Patienten rekrutiert, von denen 59 Tocilizumab und 59 Azathioprin erhielten. Die Patienten waren im Mittel 47 Jahre alt und die Erkrankung bestand seit 6,1 Jahren. Bei 87 % der Patienten ließen sich Aquaporin-4-Antikörper nachweisen. Die Schubrate in den vorausgegangenen 24 Monaten betrug 1,7. Der EDSS-Score zu Beginn der Studie betrug 4,5. 79 % der Patienten hatten eine Optikusneuritis erlitten und 94 % eine Myelitis. Bei 39 % der Patienten bestanden andere Autoimmunerkrankungen.
Die mediane Zeit bis zum ersten Rezidiv der NMOSD betrug 78,9 Wochen in der Tocilizumab-Gruppe versus 56,7 in der Azathioprin-Gruppe (Interquartilspanne [IQR] 58,3–90,6 vs. 32,9–81,7; p = 0,0026). Acht (14 %) der 59 Patienten in der Tocilizumab-Gruppe und 28 (47 %) von 59 Patienten in der Azathioprin-Gruppe hatten am Ende der Studie einen Rückfall (Hazard-Ratio [HR] 0,236; 95%-Konfidenzintervall [KI] 0,107–0,518; p < 0,0001). In einer vordefinierten Subgruppenanalyse bei Patienten ohne begleitende Autoimmunerkrankungen hatten drei (9 %) von 34 Patienten in der Tocilizumab-Gruppe und 13 (35 %) von 37 Patienten in der Azathioprin-Gruppe am Ende der Studie einen erneuten Schub erlitten. Bei Patienten mit begleitenden Autoimmunkrankheiten hatten fünf von 25 Patienten (20 %) in der Tocilizumab-Gruppe einen Rückfall erlitten versus 15 von 22 Patienten (68 %) in der Azathioprin-Gruppe (HR 0,192; 95%-KI 0,070–0,531; p = 0,0004).
Unerwünschte Wirkungen wurden bei 57 (97 %) von 59 Patienten in der Tocilizumab-Gruppe und 56 (95 %) von 59 Patienten in der Azathioprin-Gruppe dokumentiert. Behandlungsassoziierte unerwünschte Arzneimittelwirkungen traten bei 36 (61 %) von 59 mit Tocilizumab behandelten Patienten auf und bei 49 (83 %) von 59 mit Azathioprin behandelten Patienten. Die häufigsten Nebenwirkungen waren Leberschäden, Infektionen, Anämie, Leukopenie (bei Azathioprin) und Müdigkeit. Je ein Todesfall trat ein in der Tocilizumab- und der Azathioprin-Gruppe auf.
Kommentar
Die vorliegende offene Studie aus China ist die erste Studie, die eine hoch spezifische immunmodulatorische Therapie mit einem Antikörper gegen den Interleukin-6-Rezeptor mit einer traditionellen Immunsuppression mit Azathioprin vergleicht. Die Studie zeigt eindeutig, dass Tocilizumab wirksamer ist als Azathioprin. Für die anderen modernen immunmodulatorischen Therapien wie zuletzt Eculizumab [1], Inebilizumab [2] und Satralizumab [3] liegen bisher nur Placebo-kontrollierte Studien, aber keine Vergleichsstudien zu Azathioprin vor. Ein Schwachpunkt der Studie ist, dass sie nicht verblindet war. Die Patienten der Studie hatten eine relativ hohe Schubrate, sodass keine Aussagen darüber getroffen werden können, ob Patienten mit einer weniger aggressiven Erkrankung von der Therapie profitieren würden. Der Löwenanteil der Patienten hatte Aquaporin-4-Antikörper. Die Population der Patienten ohne Aquaporin-Antikörper war zu klein, um eine Wirksamkeit von Tocilizumab zu belegen. Darüber hinaus sind die Studienergebnisse bei einer chinesischen Population erhoben worden. Ob die Ergebnisse auf Kaukasier übertragen werden können, ist im Moment nicht bekannt. Ein potenzieller Vorteil von Tocilizumab gegenüber den anderen bisher untersuchten Substanzen dürften die geringeren Kosten sein.
Quelle
Zhang C, et al. Safety and efficacy of tocilizumab versus azathioprine in highly relapsing neuromyelitis optica spectrum disorder (TANGO): an open-label, multicentre, randomised, phase 2 trial. Lancet Neurol 2020;19:391–401.
Literatur
1. Pittock SJ, et al. Eculizumab in aquaporin-4-positive neuromyelitis optica spectrum disorder. N Engl J Med 2019;381:614–25.
2. Cree BAC, et al. Inebilizumab for the treatment of neuromyelitis optica spectrum disorder (N-MOmentum): a double-blind, randomised placebo-controlled phase 2/3 trial. Lancet 2019;394:1352–63.
3. Yamamura T, et al. Trial of satralizumab in neuromyelitis optica spectrum disorder. N Engl J Med 2019;381:2114–24.
Psychopharmakotherapie 2020; 27(04):216-221