Sekundär-progrediente multiple Sklerose

Neues Einsatzfeld für bekannte Neuroprotektiva?


Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Essen

Mit einem Kommentar des Verfassers
Die Charakteristika von Amilorid, Fluoxetin und Riluzol sind aus anderen, jeweils eigenen Indikationen bekannt. Wegen eines bekannten neuroprotektiven Potenzials wurden sie nun in einer randomisierten, Placebo-kontrollierte Phase-IIb-Studie in Hinblick auf eine mögliche Wirksamkeit für die Therapie der sekundär-progredienten multiplen Sklerose geprüft.

Bei der multiplen Sklerose (MS) werden zwei Verlaufstypen unterschieden. Bei der schubförmigen MS spielt die Demyelinisierung zentraler Bahnsystem im Gehirn und Rückenmark eine Rolle. Bei der sekundär-progredienten multiplen Sklerose (SPMS) kommt es dagegen zu einer axonalen Schädigung und Neurodegeneration. Die Autoren identifizierten drei zugelassene Arzneistoffe, die in präklinischen Modellen der Neurodegeneration in der Lage waren axonale Schäden zu verhindern: ein Diuretikum (Amilorid), einen selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (Fluoxetin) und Riluzol, eine Substanz zur Therapie der amyotrophen Lateralsklerose. Ziel der SMART-MS-Studie (Multiple sclerosis – secondary progressive multi-arm randomisation trial) war es, zu prüfen, ob diese Arzneistoffe bei der sekundär progredienten MS eine neuroprotektive Wirkung entfalten können.

Studiendesign und -ergebnis

Es handelte sich um eine mehrarmige, doppelblinde, randomisierte, Placebo-kontrollierte Phase-IIb-Studie an 13 MS-Zentren im Vereinigten Königreich. Eingeschlossen wurden Patienten im Alter von 25 bis 65 Jahren mit SPMS, die keine immunmodulatorische Behandlung erhielten und einen EDSS(Extended disability status scale)-Score zwischen 4,0 und 6,0 hatten. Die Teilnehmer wurden zu Beginn der Studie nach dem Zufallsprinzip (1 : 1 : 1 : 1) randomisiert und erhielten zweimal täglich eine orale Behandlung mit 5 mg Amilorid, 20 mg Fluoxetin, 50 mg Riluzol oder Placebo für insgesamt 96 Wochen. Der primäre Endpunkt war die prozentuale Veränderung des Hirnvolumens (PBVC [percentage brain volume change]) im MRT von der Eingangsmessung bis zu Woche 96.

Zwischen Januar 2015 und Juni 2016 begannen 445 Patienten die Behandlung mit Amilorid (n = 111), Fluoxetin (n = 111), Riluzol (n = 111) oder Placebo (n = 112). Die Patienten waren im Mittel 55 Jahre alt und die MS bestand im Mittel seit 20 Jahren. Der mittlere EDSS-Wert betrug 6,0.

Für den primären Endpunkt wurden keine signifikanten Unterschiede zwischen den drei aktiven Behandlungsgruppen und Placebo gefunden. Das Hirnvolumen nahm in allen vier Gruppen um durchschnittlich 1,3 bis 1,4 % ab. Als adjustierte Mittelwertdifferenz gegenüber Placebo ergab sich für Amilorid 0,0 % (95%-Konfidenzintervall [95%-KI] –0,4 bis 0,5; p = 0,99), für Fluoxetin –0,1 % (95%-KI –0,5 bis 0,3; p = 0,86) und für Riluzol –0,1 % (95%-KI –0,6 bis 0,3; p = 0,77). Die Studie war auch für die sekundären Endpunkte negativ. Die Inzidenz schwerer unerwünschter Arzneimittelwirkungen war gering und in allen Studiengruppen ähnlich: zehn Patienten in der Amilorid-Gruppe, sieben in der Fluoxetin-Gruppe, 12 in der Riluzol-Gruppe und 13 in der Placebo-Gruppe. Meist handelte es sich um Infektionen.

Kommentar

Der wissenschaftliche Ansatz der Autorengruppe ist interessant: Zunächst werden bereits zugelassene Medikamente in präklinischen Modellen auf ihre potenzielle Wirksamkeit untersucht und dann beim Menschen in Placebo-kontrollierten Studien getestet. Mit diesem Ansatz lässt sich die komplizierte Art, in der neue Arzneimittel beim Menschen untersucht werden, dramatisch verkürzen, weil Pharmakokinetik und Sicherheitsprofil bereits bekannt sind. Die Autoren identifizierten drei Arzneistoffgruppen, die in Tiermodellen neuroprotektiv wirksam waren: ein Diuretikum, ein Antidepressivum und einen Glutamat-Antagonisten, weil der genaue Wirkungsmechanismus nicht bekannt ist)). Leider war die Studie bei Patienten mit sekundär-progredienter MS negativ. Zuvor hatten schon Studien mit Fluoxetin in der Regeneration nach Schlaganfall kein positives Ergebnis erbracht [3]. Ähnliche Ergebnisse erbrachte eine Studie mit Citalopram [4]. Eine Studie mit Riluzol bei Parkinson-Krankheit war ebenfalls negativ [1]. Für die Therapie der SPMS bleibt daher im Moment nur Siponimod, ein synthetischer Sphingosin-1-Phosphat-(S1P-)Rezeptor-Modulator, der immunmodulierende Effekte ausübt, indem er die Migration reifer B- und T-Zellen aus sekundären lymphatischen Organen behindert [2].

Quelle

Chataway J, et al. Efficacy of three neuroprotective drugs in secondary progressive multiple sclerosis (MS-SMART): a phase 2b, multiarm, double-blind, randomised placebo-controlled trial. Lancet Neurol 2020;19:214–25.

Literatur

1. Fang T, et al. Stage at which riluzole treatment prolongs survival in patients with amyotrophic lateral sclerosis: a retrospective analysis of data from a dose-ranging study. Lancet Neurol 2018;17:416–22.

2. Kappos L, et al. Siponimod versus placebo in secondary progressive multiple sclerosis (EXPAND): a double-blind, randomised, phase 3 study. Lancet 2018;391:1263–73.

3. Focus Trial Collaboration. Effects of fluoxetine on functional outcomes after acute stroke (FOCUS): a pragmatic, double-blind, randomised, controlled trial. Lancet 2018;393: 265–74.

4. Kraglund KL, et al. Neuroregeneration and vascular protection by citalopram in acute ischemic stroke (TALOS). Stroke 2018;49:2568–76.

Psychopharmakotherapie 2020; 27(02):85-95