Zu neuen Ufern aufgebrochen


Prof. Dr. med. Heinz Reichmann, Dresden

Viele Leser werden sich an ihr Studium und ihre Erfahrungen mit der Neurologie zurückerinnern. Es war schon damals ein hoch komplexes Fach mit sehr hohen Anforderungen an neuroanatomisches Verständnis und neurophysiologische Abläufe. Dazu kam eine sehr sorgfältige Untersuchungstechnik am Patienten, die zu klinischen, zum Teil klangvollen Diagnosen führte. Die Anerkennung der Neurologen war bereits damals relativ hoch, da sie ein sehr umfangreiches differenzialdiagnostisches Wissen benötigten, andererseits war aber häufig nach der Diagnose eine therapeutische Lösung des liebevoll analysierten Problems nicht möglich. Im Laufe der letzten wenigen Jahre kam es dann zu erheblichen Entwicklungen in der Bildgebung und der Neurogenetik, sodass wir diagnostisch noch weitere große Fortschritte machen konnten.

Erfreulicherweise hat sich mittlerweile die Neurologie aber auch zu einem äußerst erfolgreichen therapeutischen Fach gewandelt. Dies wird auch durch die aktuelle Ausgabe der Psychopharmakotherapie eindrucksvoll unterstrichen. Zum einen gibt es die Erfolgsgeschichte der Behandlung der multiplen Sklerose, die durch die Zulassung von Ocrelizumab (Ocrevus®) einen weiteren Höhepunkt erreicht hat. Linker, Erlangen, stellt in der aktuellen Ausgabe diesen chimären monoklonalen Antikörper gegen das CD20-Antigen vor und beschreibt die vorliegenden Studien, die darauf hinweisen, dass hier erstmalig auch die primär chronisch progrediente Verlaufsform therapeutisch positiv beeinflusst werden kann. In der Phase-III-Studie ORATORIO konnte nämlich gezeigt werden, dass bei Patienten mit primär chronisch progredienter multipler Sklerose die Behinderungsprogression deutlich gesenkt werden konnte.

Nicht nur in der Therapie der multiplen Sklerose setzen Neurologen Antikörper ein, sondern auch bei der Therapie der refraktären Myasthenia gravis. Dies wird von Sieb, Stralsund, in einem Übersichtsartikel eindrucksvoll beleuchtet. Er beschreibt Eculizumab als neue Therapieoption. Dieses Präparat wurde im Herbst 2017 für die therapierefraktäre generalisierte anti-Acetylcholinrezeptor-Antikörper-positive Myasthenia gravis im Erwachsenenalter zugelassen. Auch hier handelt es sich um einen monoklonalen Antikörper. Er verhindert die Aktivierung des terminalen Komplements und damit die Endplattendestruktion durch die Komplement-Aktivierung im Rahmen des Immunprozesses bei anti-Acetylcholinrezeptor-positiver Myasthenia gravis. Sieb stellt die Zulassungsstudie, REGAIN, vor, in der in der Regel innerhalb der ersten 12 Therapiewochen ein klinisches Ansprechen erreicht wurde. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass wir nach der Therapie der spinalen Muskelatrophie mit Nusinersen (Spinraza®) nunmehr eine zweite Therapieform haben und bei Myasthenia gravis ein Präparat benutzen werden, das ebenfalls Behandlungskosten von mehreren 100 000 Euro jährlich verursachen wird. Es ist deswegen vernünftig, dass hier Zulassungseinschränkungen erfolgten, und aus meiner Sicht sollte dieses Medikament ausschließlich in hoch spezialisierten Zentren zum Einsatz kommen.

Jost, Wolfach, stellt die drei zugelassenen Botulinumtoxin-A-Präparate (Botox®, Dysport® und Xeomin®) vor und beschreibt sehr eindrücklich, wofür die jeweiligen Produkte zugelassen sind. Diese Übersicht sollte uns allen erlauben, stets im Rahmen der Zulassung zu verbleiben, und ist deswegen von hohem praktischem Nutzen. Sehr schön abgerundet wird aus Sicht des neurologischen Fachs dieses Heft mit dem Diskussionsforum, wo Häßler et al., Rostock, eine erfolgreiche Behandlung von paroxysmalen, nicht epileptischen Ereignissen mit Piracetam und die Arbeitsgruppe um Bauer, Dresden, die Verwendung von Carbamazepin und Valproinsäure als Stimmungsstabilisierer in der Behandlung bipolarer Störungen vorstellen. Gerade diese Arbeiten unterstreichen, dass Antikonvulsiva weit über das epileptologische Fach ihre Bedeutung als Mood-Stabilizer gewonnen haben.

Nach meiner Überzeugung belegen diese Arbeiten, dass in der Tat auch die Neurologie zu neuen Ufern aufgebrochen ist und die höchst moderne Antikörpertherapie mittlerweile zu ihrem Repertoire zählen darf.

Psychopharmakotherapie 2018; 25(05):225-225