Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung

Neue Leitlinie, neue Perspektiven


Martin Bischoff, Planegg

In Berlin fand Ende April die 12. International Conference on ADHD statt. Zentrales Thema der Veranstaltung war die neue deutsche S3-Leitlinie zu Diagnose und Therapie von Patienten mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Diskutiert wurde darüber hinaus die ADHS-Therapie der Zukunft. Nach Ansicht der Experten geht auch bei dieser Erkrankung die Entwicklung in Richtung personalisierte Medizin.

Die Erstellung der S3-Leitlinie erwies sich als Mammutaufgabe, denn es galt, unter insgesamt 26 Fachgesellschaften, Berufsverbänden und Arbeitsgemeinschaften einen weitestmöglichen Konsens herzustellen in Bezug auf Diagnostik und Therapie der ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, berichtete Prof. Dr. Manfred Döpfner, Köln. Ein wichtiger Punkt in dieser Publikation betrifft die Frage, wer die Diagnose stellen sollte. Nach übereinstimmender Expertenmeinung sind dies bei Kindern und Jugendlichen die Kinder- und Jugendpsychiater, Kinder- und Jugendpsychotherapeuten beziehungsweise Kinderärzte mit spezieller Expertise. Bei Erwachsenen nennt die Leitlinie Psychiater, Neurologen, Fachärzte für Psychosomatik oder Psychotherapeuten.

Am Beginn des Therapiealgorithmus bei Kindern und Jugendlichen steht die Psychoedukation, das heißt Aufklärung, Beratung, Führung von Patienten, Eltern und Pädagogen. Im Weiteren orientiert sich das Vorgehen an der Schwere der Erkrankung, wobei Kinder unter sechs Jahren primär psychosozial und Kinder unter drei Jahren in jedem Fall ohne Medikamente behandelt werden sollten. Bei den Älteren wird zwischen leichter, moderater und schwerer Symptomatik unterschieden. Bei leichten Verläufen wird primär zu psychosozialer Intervention auf verhaltenstherapeutischer Basis geraten. Diese Option bietet sich in intensivierter Form auch bei der moderaten ADHS, allerdings kommt hier bereits die Pharmakotherapie als mögliche Alternative oder Ergänzung ins Spiel. Schwere Verläufe bedingen auf jeden Fall die medikamentöse Behandlung.

Stimulanzien als medikamentöser Goldstandard

In der neuen Leitlinie stehen Stimulanzien an erster Stelle bei allen Formen der ADHS: ADHS mit/ohne koexistierende Störungen, mit Verhaltensstörung und oppositionell aggressivem Verhalten, mit Tics, Angststörungen oder mit Substanzmissbrauch. Als Mittel der Wahl bietet sich Methylphenidat (zum Beispiel Medikinet® retard, Medikinet®adult oder Kinecteen®) als auch (Dex-)Amfetamin-Präparate (zum Beispiel Attentin®) an. Als weitere Option nennt die Leitlinie auch Guanfacin. Nicht empfohlen wird der Einsatz von Antipsychotika, Antidepressiva oder Cannabis.

Optimales Therapiemanagement für längerfristig gute Wirkung

Pro und contra Langzeiteffekte der Stimulanzientherapie diskutierten Prof. Dr. David Coghill, Melbourne, und Prof. Michael Huss, Mainz. Nach Ansicht von Coghill liegt mittlerweile ausreichend Evidenz vor, die einen längerfristigen Nutzen der Pharmakotherapie bestätigt. Voraussetzung sei allerdings, dass die Medikation kontinuierlich und zuverlässig eingenommen wird. Huss hingegen verwies darauf, dass wirkliche Langzeitdaten aus Studien über mehr als 14 Monaten bisher nicht vorlägen. Beide waren sich jedoch einig über die Bedeutung eines optimalen Therapiemanagements mit ausreichender Dosierung und guter Compliance.

Personalisierte Therapie, die Strategie der Zukunft?

Zunehmend bedeutsamer wird in Zukunft auch bei der ADHS die personalisierte Medizin werden, weg von „one fits all“ hin zu einer Medizin, die sich neben klinischen Faktoren an individuellen genetischen/genomischen Biomarkern orientiert. In diesem Zusammenhang berichtete Prof. Dr. Jan Buitelaar, Nijmegen, über eine Pilotstudie, bei der ADHS-Patienten mit bestimmten Genvarianten, die die glutamaterge Neurotransmission stören, mit einem Aktivator des metabotropen Glutamatrezeptors behandelt wurden. Bei diesen Patienten wurde die ADHS-Symptomatik signifikant gebessert. Bei Patienten ohne diese Genvarianten zeigte sich diese Wirkung dagegen nicht (siehe Kasten).


Pilotstudie mit mGluR-Aktivator Fasoracetam

Die offene, einfachblinde Pilotstudie mit 30 jugendlichen ADHS-Patienten diente primär der Ermittlung von pharmakokinetischen und Sicherheitsdaten. Daneben wurden auch verschiedene Wirksamkeitsparameter erhoben (Clinical global impression – improvement [CGI-I], Clinical global impression – severity [CGI-S], Vanderbilt-Skala u. a.). Zudem erfolgte doppelblind eine genetische Testung auf Kopienzahlvariationen (CNV; Deletionen, Duplikationen) bei Genen aus dem mGluR-Netzwerk, die in unterschiedlichem Maß für ADHS prädisponieren. Bei 17 Probanden lag eine von 79 CNV mit bekannt enger Assoziation zu ADHS (Rang 1) vor. CNV mit weniger enger Assoziation fand man bei sieben Probanden (Rang 2; rund 200 CNV) bzw. sechs Probanden (Rang 3; rund 600 CNV in Nicht-mGluR-Genen).

Im Vergleich zur einleitenden einwöchigen Placebo-Phase führte die vierwöchige Einnahme von Fasoracetam (50–800 mg/Tag) zu einer statistisch signifikanten Besserung der Wirksamkeitsparameter. Die genetisch stratifizierte Analyse ergab, dass der Effekt für CGI-I und CGI-S auf Probanden mit Rang-1- und Rang-2-CNV beschränkt war. Eine Besserung der Vanderbilt-Skala fand sich nur bei Probanden mit eng ADHS-assoziierten Genvarianten (Rang 1).

[Elia J, et al. Nat Commun 2018;9:4.]

Quelle

12th International Conference on ADHD „Pharmacotherapy of ADHD within a multimodal treatment approach“, Berlin, 21. April 2018; veranstaltet von MEDICE.

Psychopharmakotherapie 2018; 25(05):263-276