Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Essen
Die amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist die häufigste tödliche neurodegenerative Erkrankung des motorischen Systems. Sie führt zu einem Untergang von Pyramidenzellen im Kortex und Motoneuronen im Rückenmark. Klinische Konsequenzen sind zunehmende Paresen der Extremitäten, Rumpf- und Atemmuskulatur sowie der oropharyngealen Muskulatur mit Schluck- und Sprechstörungen. Die mediane Überlebenszeit beträgt bei Patienten mit bulbärer Beteiligung 27,5 Monate und für Patienten mit spinalem Beginn 35,9 Monate. Bisher wurden über 140 randomisierte Studien mit ganz unterschiedlichen Therapieansätzen zur Behandlung der ALS durchgeführt. Die einzige Therapie, die sich bisher als wirksam erwies, war eine Behandlung mit Riluzol, einem Glutamatantagonisten, der in einer Dosis von 100 mg pro Tag die Überlebenszeit um 35 % verbesserte. In absoluten Zahlen überleben verglichen mit Placebo in einem Jahr zusätzlich 9 % der Betroffenen. Bisher ist allerdings nicht gut untersucht, ob Riluzol in allen Phasen der Erkrankung von Beginn bis zum fortgeschrittenen Stadium gleich wirksam ist. Die ursprüngliche Dosisfindungsstudie wurde in den Jahren 1992 und 1993 durchgeführt und im Jahr 1996 publiziert [1].
Für die hier vorliegende Auswertung wurden die Patienten retrospektiv anhand der Studiendaten in einzelne Stadien der ALS von Stadium II bis Stadium IV eingeteilt. Erfasst wurden die Überlebenszeit, der UK Medical Research Council Score für die Muskelkraft, die Vitalkapazität und der Zeitraum, bis eine Ernährung über eine Gastrostomie notwendig wurde.
Für die Analyse standen die Daten von 959 Teilnehmern zur Verfügung (Tab. 1). Die Überlebenszeit im Stadium IV der Erkrankung war bei Patienten, die 100 mg Riluzol pro Tag erhielten, signifikant länger als bei Patienten, die Placebo erhielten. Für die übrigen Krankheitsstadien II und III und die verschiedenen Dosierungen von Riluzol ergaben sich keine signifikanten Unterschiede zu Placebo.
Tab. 1. Studiendesign [nach Fang T et al.]
Erkrankung |
Amyotrophe Lateralsklerose |
Studienziel |
Wirksamkeit von Riluzol im späten Erkrankungsstadium |
Studientyp |
Post-hoc-Analyse |
Eingeschlossene Patienten |
Daten von 959 Teilnehmern einer Dosisfindungsstudie |
Intervention |
Riluzol
Placebo (n = 242) |
Primäre Endpunkte |
Überlebenszeit, UK Medical Research Council Score für die Muskelkraft, Vitalkapazität, Zeitraum, bis eine Ernährung über eine Gastrostomie notwendig wurde |
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Firmenunabhängig |
- Kommentar
Die Post-hoc-Analyse der großen Dosisfindungsstudie zu Riluzol bei amyotropher Lateralsklerose zeigt, dass der Arzneistoff in einer Dosierung von 100 mg pro Tag offenbar am wirksamsten ist, wenn er im fortgeschrittenen Erkrankungsstadium eingesetzt wird. In den Dosisfindungsstudien waren Patienten mit beginnender Symptomatik ausgeschlossen, sodass ein möglicher Nutzen eines sehr frühen Therapiebeginns in randomisierten Studien bisher nicht nachgewiesen ist. Allerdings gibt es Daten aus Registern, die belegen, dass Riluzol im frühen Stadium der Erkrankung die beste Wirkung hat [2–4]. Die Tatsache, dass für die übrigen Dosierungen von Riluzol und die Gabe während der übrigen Erkrankungsstadien kein Unterschied zwischen aktiver Therapie und Placebo bestand, zeigt, dass der absolute Therapieeffekt offenbar gering ist. Ein ethisches Problem besteht darin, dass es diskussionswürdig wäre, die Erkrankung in dem Stadium zu verzögern, in dem die Betroffenen am schwersten betroffen sind. Da Riluzol aber gut vertragen wird und es die derzeit einzige wirksame Therapie der ALS darstellt, sollte es auch regelmäßig zum Einsatz kommen.
Quelle
Fang T, et al. Stage at which riluzole treatment prolongs survival in patients with amyotrophic lateral sclerosis: a retrospective analysis of data from a dose-ranging study. Lancet Neurol 2018;17:416–22.
Literatur
1. Lacomblez L, et al. Dose-ranging study of riluzole in amyotrophic lateral sclerosis. Amyotrophic lateral sclerosis/riluzole study group II. Lancet 1996;347:1425–31.
2. Riviere M, et al. An analysis of extended survival in patients with amyotrophic lateral sclerosis treated with riluzole. Arch Neurol 1998;55:526–8.
3. Traynor BJ, et al. An outcome study of riluzole in amyotrophic lateral sclerosis – a population-based study in Ireland, 1996–2000. J Neurol 2003;250:473–9.
4. Zoing MC, et al. Riluzole therapy for motor neurone disease: an early Australian experience (1996–2002). J Clin Neurosci 2006;13:78–83.
Psychopharmakotherapie 2018; 25(05):263-276