Carbamazepin und Valproinsäure als Stimmungsstabilisierer in der Behandlung bipolarer Störungen
Emanuel Severus, Juliane Fiebig, Andrea Pfennig und Michael Bauer, Dresden
Die Zulassung von Carbamazepin und Valproinsäure für die Behandlung bipolarer (manisch-depressiver) Erkrankungen resultiert aus einer Zeit, in der Lithium praktisch die einzige evidenzbasierte Behandlungsoption in der rezidivprophylaktischen Langzeitbehandlung bipolarer Erkrankungen darstellte. Dies zeigt sich auch in dem Zulassungsstatus beider Substanzen, in dem auf Lithium explizit Bezug genommen wird. So ist Carbamazepin zur Prophylaxe manisch-depressiver Episoden, wenn die Therapie mit Lithium versagt hat bzw. wenn Patienten unter Lithium schnelle Phasenwechsel erlebten, und wenn mit Lithium nicht behandelt werden darf, zugelassen. Valproinsäure ist zur Behandlung von manischen Episoden bei einer bipolaren Störung, wenn Lithium kontraindiziert ist oder nicht vertragen wird, zugelassen. Des Weiteren kann Valproinsäure für die weiterführende Behandlung nach einer manischen Episode bei Patienten in Erwägung gezogen werden, die auf Valproinsäure bei der Behandlung der akuten Manie angesprochen haben.
Zulassung vs. Datenlage
Interessant bei diesem Zulassungsstatus ist im Fall von Carbamazepin, dass für die Indikation, für welche die beste Evidenz bezüglich einer Wirksamkeit vorliegt, nämlich die Akutbehandlung manischer Episoden, keine Zulassung besteht [3, 22, 23, 24]. Für die Indikation hingegen, für die eine Zulassung besteht, nämlich die Rezidivprophylaxe bipolarer Erkrankungen, existieren keine aussagekräftigen Placebo-kontrollierten Studien, sondern ausschließlich randomisierte kontrollierte Studien im Vergleich zu Lithium, in denen Carbamazepin Lithium in der Wirksamkeit nicht überlegen, sondern tendenziell eher unterlegen ist [8, 14], wenngleich sich in Bezug auf die Hauptkriterien kein signifikanter Unterschied zeigt [4, 9, 11]. Vor dem Hintergrund dieser Datenlage erging in der S3-Leitlinie bipolare Störungen von Januar 2014 bezüglich der Prophylaxe bipolarer Erkrankungen lediglich eine offene Empfehlung, das heißt, Carbamazepin kann in dieser Indikation eingesetzt werden (Empfehlungsgrad 0) – eine Einschätzung, an der sich wohl auch in der aktualisierten Version der Leitlinie nichts verändern wird –, wohingegen Carbamazepin für die Akutbehandlung manischer Episoden eingesetzt werden sollte (Empfehlungsgrad B).
Die jüngste Netzwerk-Metaanalyse von Miura et al. (2014) [17] weist diesbezüglich ein ähnliches Bild auf. Hier zeigt sich Carbamazepin Placebo gegenüber weder für die Prophylaxe affektiver Episoden jeglicher Polarität (Risk-Ratio [RR]: 0,68; 95 % Credible Interval [CrI]: 0,44–1,06) noch für die Prophylaxe manischer (RR: 1,67; 95%-CrI: 0,28–9,57) oder depressiver Episoden (RR: 2,59; 95%-CrI: 0,61–10,78) überlegen, auch zeigt sich keine Überlegenheit hinsichtlich der Akzeptanz der Substanz (RR: 0,96; 95%-CrI: 0,66–1,37), definiert über die Anzahl der Studienteilnehmer, die die Studie vorzeitig beenden mussten bzw. beendeten [17]. Im Gegensatz dazu zeigte sich Carbamazepin gegenüber Placebo hinsichtlich der Verträglichkeit unterlegen (RR: 3,60; 95%-CrI: 1,05–12,94), definiert über das Ausscheiden aus der Studie aufgrund von unerwünschten Wirkungen der Substanz, was im Einklang insbesondere mit den wohlbekannten sedierenden Eigenschaften der Substanz steht. Nicht beachtet wurde in der Netzwerk-Metaanalyse das hohe Interaktionspotenzial von Carbamazepin [5], das den Einsatz der Substanz in der Kombinationsbehandlung vor dem Hintergrund von Sicherheit und Wirksamkeit oftmals zusätzlich einschränkt.
Valproinsäure – Zulassung spiegelt die Evidenz
Im Fall von Valproinsäure spiegelt der Zulassungsstatus der Substanz auch die Evidenz bezüglich des Wirkungsschwerpunkts wider, das heißt, aufgrund der aktuellen, insbesondere auch Placebo-kontrollierten Datenlage bezüglich Wirksamkeit sollte Valproinsäure in der Akutbehandlung manischer Episoden eingesetzt werden (S3-Leitlinie bipolare Störungen, Januar 2014, Empfehlungsgrad B) [2, 12, 15, 16, 20, 21] – allerdings versehen mit der Einschränkung, dass Valproinsäure wegen der Teratogenität und des Risikos polyzystischer Ovarien nicht für Frauen im gebärfähigen Alter empfohlen wird. Im Dezember 2014 erging dann auch ein Rote-Hand-Brief der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, in dem darauf hingewiesen wurde, dass bei Kindern, die im Mutterleib Valproinsäure ausgesetzt waren, ein hohes Risiko für schwerwiegende Entwicklungsstörungen (in bis zu 30 bis 40 % der Fälle) und/oder angeborene Missbildungen (in etwa 10 % der Fälle) besteht, sodass Valproinsäure Mädchen, weiblichen Jugendlichen, Frauen im gebärfähigen Alter oder schwangeren Frauen nur verschrieben werden sollte, wenn andere Arzneimittel nicht wirksam sind oder nicht vertragen werden. Dies schränkt damit die Einsatzmöglichkeiten über die bereits im aktuellen Zulassungsstatus formulierten Einschränkungen hinaus weiter ein, auch vor dem Hintergrund, dass mittlerweile eine Vielzahl an Behandlungsoptionen gerade für die Akutbehandlung manischer Episoden im Rahmen bipolarer Erkrankungen zur Verfügung steht [19].
Was die Rezidivprophylaxe bipolarer Erkrankungen angeht, so zeigt die diesbezüglich einzige Placebo-kontrollierte Studie ausschließlich für Patienten, die für eine akute manische Episode mit Valproinsäure behandelt wurden, für die Zeit bis zu einer depressiven Episode einen signifikanten Vorteil gegenüber Lithium, interessanterweise nicht jedoch gegenüber Placebo (Post-hoc-Analyse) [1, 10]. Einschränkend muss hier jedoch angemerkt werden, dass es sich bei dieser Studie um eine „failed study“ handelt, da auch Lithium sich nicht signifikant von Placebo unterschied. In der Balance-Studie wiederum, einer offenen, randomisierten „Real-World“-Studie bei Bipolar-I-Patienten war Lithium Valproinsäure hinsichtlich des primären Outcomes (Einleitung einer neuen Intervention für eine sich entwickelnde affektive Episode) überlegen; die Kombination von Lithium und Valproinsäure zeigte sich einer Lithium-Monotherapie hingegen nicht signifikant überlegen [6] – ein Ergebnis, das sich in ähnlicher Form auch in naturalistischen Daten zeigt [13, 18]. Vor diesem Hintergrund erhielt Valproinsäure in der S3-Leitlinie bipolare Störungen hinsichtlich der Phasenprophylaxe lediglich eine Kann-Empfehlung (Empfehlungsgrad 0) – und auch für diese Indikation versehen mit der Einschränkung, dass Valproinsäure wegen der Teratogenität und des Risikos polyzystischer Ovarien nicht für Frauen im gebärfähigen Alter empfohlen wird.
In der Netzwerk-Metaanalyse von Miura et al. (2014) [17] wiederum zeigte sich Valproinsäure Placebo gegenüber bezüglich Prophylaxe affektiver Episoden jeglicher Polarität gegenüber überlegen (RR: 0,63; 95%-CrI: 0,47–0,83), mit einer grenzwertigen statistischen Signifikanz für manische Episoden (RR: 0,66; 95%-CrI: 0,43–1,00), jedoch keiner statistischen Signifikanz für depressive Episoden (RR: 0,78; 95%-CrI: 0,50–1,16), Verträglichkeit (RR: 1,35; 95%-CrI: 0,35–5,32) bzw. Akzeptanz der Substanz (RR: 0,79; 95%-CrI: 0,60–1,03) [17].
Hinsichtlich möglicher Nebenwirkungen von Valproinsäure sind vor allem gastrointestinale Beschwerden und Fatigue beschrieben, sowie unter Sicherheitsaspekten neben der Teratogenität Thrombozytopenien, wenn diese auch eher ein seltenes Ereignis darstellen. Auch sollte Valproinsäure gerade bei Älteren nur bei regelhafter Kontrolle des kognitiven Status eingesetzt werden („Valproat-Enzephalopathie“).
Akuttherapie bipolarer Depression?
Hinsichtlich einer akuten antidepressiven Wirksamkeit von Valproinsäure bzw. Carbamazepin kann Carbamazepin zur Akutbehandlung einer bipolaren Depression laut S3-Leitlinie eingesetzt werden (Empfehlungsgrad 0) [24], während für Valproinsäure Hinweise auf eine akut-antidepressive Wirkung fehlen – und folgerichtig in der S3-Leitlinie der Einsatz für diese Indikation auch nicht empfohlen wird.
Wann Carbamezepin oder Valproinsäure?
Ist nun der Einsatz von Carbamazepin und Valproinsäure als Stimmungsstabilisierer in der Behandlung bipolarer Erkrankungen überhaupt noch gerechtfertigt? Die Autoren dieses Artikels möchten dies prinzipiell bejahen, vor dem Hintergrund der Heterogenität dessen, was wir nach DSM-5 bzw. ICD-10 (und bald ICD-11) bipolare Erkrankungen nennen, und der klinischen Wirklichkeit, dass es trotz der erfreulich gestiegenen Anzahl von medikamentösen Optionen in der Behandlung der verschiedenen Phasen bipolarer Erkrankungen weiterhin Patientinnen und Patienten gibt, denen wir mit Lithium, Lamotrigin oder den verschiedenen zugelassenen atypischen Antipsychotika nicht oder nur unzufriedenstellend helfen können, im Sinne des Erzielens einer nachhaltigen Remission. Allerdings gilt es, die oben dargestellte Datenlage bezüglich Wirksamkeit, Verträglichkeit, Akzeptanz, Sicherheit (inklusive der Notwendigkeit von Medikamentenspiegelbestimmungen) als auch Zulassungsstatus zu beachten, insbesondere im Vergleich mit den anderen für die jeweilige klinische Situation infrage kommenden Behandlungsoptionen, bevor der Einsatz dieser beiden Medikamente erwogen werden sollte. Vor diesem Hintergrund ist daher auch zu konstatieren, dass die praktische Bedeutung beider Substanzen in der Behandlung bipolarer Erkrankungen im heutigen klinischen Alltag berechtigterweise eher gering ist. Perspektivisch wäre es wünschenswert, wie dies für Lithium als auch Carbamazepin anhand der Daten der MAP-Studie bereits versucht wurde [7], Untergruppen von bipolar Erkrankten zu definieren, die besser oder weniger gut auf die eine oder andere Substanz ansprechen, um den Weg für eine personalisierte Behandlung bipolarer Störungen weiter zu ebnen.
Interessenkonflikterklärung
ES: Referentenhonorare bzw. Reisekostenübernahme von Servier, Lundbeck und Roche.
JF: Es werden keine Interessenskonflikte benannt.
AP: Referentenhonorare und Reisekostenübernahme von Janssen, AstraZeneca, Lundbeck und Lilly.
MB: Beratertätigkeit für Allergan, Janssen, Lundbeck, neuraxpharm, Honorare von Lilly, neuraxpharm.
Literatur
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Priv.-Doz. Dr. med. habil. Emanuel Severus, Juliane Fiebig, Prof. Dr. med. Andrea Pfennig, M. Sc., Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Michael Bauer, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden, Technische Universität Dresden, Fetscherstraße 74, 01307 Dresden, E-Mail: emanuel.severus@uniklinikum-dresden.de
Carbamazepine and valproic acid as mood stabilizers in the therapy of bipolar disorder. Is their use still justified?
For many years lithium salts have been the only treatment option in the prophylactic treatment of bipolar disorders. Beginning in the 1990s other pharmacological treatment approaches, in particular anticonvulsants, have been developed to broaden the treatment options. In Germany, for 30 years, carbamazepine has been used as an anticonvulsant. Since the mid 1990s it is used in clinical practice as second choice in the prophylactic treatment of bipolar disorders. Valproic acid was approved as an anticonvulsant in 1975 and for the acute treatment of manic episodes and prophylactic treatment of manic and depressive episodes in bipolar disorders in 2005. However, the evidence on which the approval was based, was relatively weak, compared with today’s regulatory standards. In addition, in particular in the case of carbamazepine, substantial negative pharmacokinetic interactions and side effects may occur. Therefore, nowadays, both valproate and carbamazepine should only be used in psychiatric clinical practice in case other potentially suitable and approved treatment options for the respective clinical scenario had been been thoroughly discussed and discarded as not appropriate. Therefore the practical importance of both drugs is understandably considered as rather low.
Key words: Bipolar disorder, S3 guideline, valproic acid, carbamazepine, pharmacotherapy
Psychopharmakotherapie 2018; 25(05):247-250