Richard Kessing, Zeiskam
Die Fortschritte im Bereich Diagnose und Therapie der multiplen Sklerose (MS) haben in den vergangenen Jahren zu einer wesentlichen Verbesserung der Behandlungsergebnisse geführt. Eine frühe Behandlung der Erkrankung ist dabei quasi ein therapeutisches Dogma geworden, erklärte Priv.-Doz. Dr. Björn Tackenberg, Marburg. Fragen, die die Therapeuten derzeit bewegen, betreffen die suboptimale Response auf eine medikamentöse Therapie, wie in diesen Fällen die Krankheit zu monitoren ist und die Sicherheitsaspekte beim Therapiewechsel.
Eine Medikamentenumstellung kann notwendig werden, um die Krankheitsaktivität zu kontrollieren und um die körperlichen Behinderungen des Patienten möglichst lange aufzuhalten. Die Umstellung erfordert eine gute Steuerbarkeit der krankheitsmodifizierenden Therapie und eine rasche Reversibilität der Unterdrückung des Immunsystems. Allerdings haben depletierende Therapien zum Teil einen langfristigen Einfluss auf das Immunsystem – auch nach Absetzen der Behandlung. In diesen Fällen ist die Therapieumstellung erst nach längerer Therapieunterbrechung möglich.
Bei dem monoklonalen Antikörper Natalizumab (Tysabri®) setzt die Reversibilität des Wirkungsmechanismus bereits acht Wochen nach der letzten Gabe ein. Daher ist die Therapie vergleichsweise gut steuerbar. Für Tackenberg ist Natalizumab eines der wirksamsten Mittel zur Immunmodulation der MS, das immerhin seit 12 Jahren angewendet wird.
Allerdings beeinträchtigt es die Abwehr gegen Virusinfektionen. Vor und während einer Behandlung mit Natalizumab muss daher insbesondere das Risiko der progressiven multifokalen Leukenzephalopathie (PML), hervorgerufen durch eine Aktivierung des JC-Virus (JCV), im Blick behalten werden. In Abstimmung mit der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) wurde 2016 ein aktualisierter Algorithmus zur Abschätzung des PML-Risikos unter Natalizumab-Behandlung veröffentlicht [1, 2]. Damit können potenziell lebensbedrohliche Folgen der PML durch eine frühzeitige Diagnose verhindert werden. Dem Algorithmus liegen drei prospektive klinische Studien mit insgesamt 37 249 Patienten (darunter 156 PML-Patienten) zugrunde. Basis ist der JCV-Antikörperstatus mit einer Einschätzung des Risikos von niedrig (JCV-Index ≤ 0,9) bis hoch (JCV-Index > 1,5).
Patienten mit einem höheren Risiko profitieren von einem engmaschigen MRT-Monitoring (alle 3 bis 6 Monate) und der somit möglichen frühzeitigen Diagnose einer potenziellen PML. Die Diagnose einer PML mithilfe der MRT-Untersuchung gelingt sogar noch bevor Symptome einer Virusinfektion des Gehirns auftreten oder das Virus selbst im Liquor nachweisbar ist, erklärte Prof. Dr. Achim Gass, Mannheim. Daher ist die MRT-Untersuchung essenziell, um einen günstigen Verlauf der Erkrankung mit früher Defektheilung zu ermöglichen. So hatten Patienten, bei denen die PML im asymptomatischen Stadium festgestellt wurde, sechs Monate nach der Diagnose weniger funktionale Defizite und zwei Drittel von ihnen blieben auch nach 13 Monaten symptomfrei. Zur Früherkennung einer PML wird ein MRT-Kurzprotokoll mit folgenden Sequenzen vorgeschlagen: PD/T2-gewichtet, FLAIR, DWI, T1-gewichtet (± Kontrastmittel). Insbesondere in DWI-Sequenzen(diffusionsgewichteten Sequenzen) lassen sich Bereiche mit frischer Aktivität nachweisen, deren Abgrenzung von den zentralen Regionen der Läsionen von prognostischer Relevanz sein kann. Finden sich im MRT-Scan JC-Virus-Läsionen im Gehirn, wird das MS-Medikament abgesetzt, bis sich das Immunsystem erholt und die Infektion bekämpft hat. Anschließend wird die MS-Therapie mit einem anderen Medikament fortgesetzt.
Quelle
Priv.-Doz. Dr. Björn Tackenberg, Marburg, Prof. Dr. Achim Gass, Mannheim, Fachpressekonferenz „Exklusiver Praxistalk – 12 Jahre Tysabri®: Kontrolle der Krankheitsaktivität und patientenindividuelles Monitoring mittels MRT“, Mannheim, 28. Juni 2018, veranstaltet von Biogen.
Literatur
1. EMA bestätigt Empfehlungen zur Minimierung des Risikos für die Hinrinfektion PML im Zusammenhang mit Tysabri. http://www.ema.europa.eu/docs/de_DE/document_library/Referrals_document/Tysabri_20/European_Commission_final_decision/WC500202394.pdf (Zugriff am 10.08.2018).
2. Fachinformation Tysabri® , Stand Februar 2017.
Psychopharmakotherapie 2018; 25(05):263-276