Prof. Dr. Hans-Christoph Diener, Essen
Die spinale Muskelatrophie (SMA) ist eine autosomal-rezessiv vererbliche muskuläre Erkrankung. Zu den Symptomen zählt neben der progredient fortschreitenden Atrophie auch Schwäche der Skelett- und Atmungsmuskulatur sowie der bulbären Muskulatur. Für die Krankheit ist eine Loss-of-Function-Mutation auf dem SMN1(Survival motorneuron 1)-Gen verantwortlich, sodass weniger funktionsfähiges SMN-Protein gebildet wird. Das ebenfalls für SMN-Protein kodierende SMN2-Gen bildet aufgrund von Splicing-Varianten nur 5 bis 10 % des SMN-Proteins im Vergleich zu SMN1. Nusinersen ist ein modifiziertes Antisense-Oligonukleotid, das spezifisch innerhalb der SMN2-prä-Messenger-RNA bindet und so das Splicing modifiziert, wodurch mehr funktionsfähiges SMN-Protein exprimiert werden kann.
Die spinale Muskelatrophie wird je nach Auftreten der Krankheit in Gruppen eingeteilt. Bei Typ 1 tritt die Erkrankung vor dem 6. Lebensmonat auf, wobei die Kinder nie in der Lage sind zu sitzen. Der SMA-Typ 2 beginnt im Alter von 6 bis 18 Monaten und die Kinder erlernen nicht zu gehen. Für Kinder mit früh beginnender SMA ist die Wirkung von Nusinersen bereits belegt und publiziert [1]. Für diese Altersgruppe ist die Behandlung bereits zugelassen.
Studiendesign
Die vorliegende multizentrische doppelblinde Placebo-kontrollierte Phase-III-Studie umfasste 126 Kinder mit spinaler Muskelatrophie, bei denen die Symptome nach dem 6. Lebensmonat einsetzten (Tab. 1). Die Kinder wurden im Verhältnis 2 : 1 randomisiert.
- In der Verum-Gruppe erhielten die Kinder eine intrathekale Gabe von Nusinersen 12 mg an den Tagen 1, 29, 85 und 274.
- In der Kontrollgruppe wurde an denselben Tagen eine Liquorpunktion durchgeführt.
Tab. 1. Studiendesign von CHERISH [nach Mercuri et al. 2018]
Erkrankung |
Spinale Muskelatrophie (SMA) |
Studienziel |
Wirksamkeit und Verträglichkeit von Nusinersen bei Kindern mit SMA, bei denen die Erkrankung nach dem 6. Lebensmonat einsetzt |
Studientyp |
Interventionsstudie |
Studienphase |
Phase III |
Studiendesign |
Multizentrisch, randomisiert, doppelblind, Placebo-kontrolliert, parallel |
Eingeschlossene Patienten |
126 Patienten |
Intervention |
Nusinersen (n = 84) Placebo (n = 42) |
Primäre Endpunkte |
Veränderungen der Hammersmith Functional Motor Scale Expanded (HFMSE) |
Sekundäre Endpunkte |
Prozentsatz der Kinder, bei denen sich der HFMSE-Score um ≥ 3 Punkte verbesserte |
Sponsor |
Biogen |
Studienregisternummer |
NCT02292537 |
Der primäre Endpunkt war eine Veränderung der motorischen Funktion gemessen an der Hammersmith Functional Motor Scale Expanded (HFMSE) nach 15 Monaten. Die HFMSE-Skala reicht von 0 bis 66, wobei höhere Werte eine Besserung der motorischen Funktion belegen. Der sekundäre Endpunkt war der Prozentsatz der Kinder, bei denen sich der HFMSE-Score um mindestens 3 Punkte verbesserte. Im Rahmen der Studie wurden 84 Kinder mit Nusinersen und 42 mit Placebo behandelt. Die Hälfte der Kinder hatte ein weibliches Geschlecht. Das mittlere Alter lag bei drei bis vier Jahren. Der Krankheitsbeginn lag im Mittel zwischen dem 10. und 11. Lebensmonat. Alle Kinder konnten sitzen, aber nur ein Viertel konnte mit Hilfe gehen. Der HFMSE-Score in der Baseline betrug 22,4 in der Behandlungsgruppe und 19,9 in der Placebo-Gruppe. Nach Nusinersen-Therapie verbesserte sich der HFMSE-Score nach 15 Monaten um 4 Punkte, in der Kontrollgruppe nahm er um 1,9 Punkte ab. Dieser Unterschied von 5,9 Punkten war mit einem p-Wert von < 0,001 signifikant. 57 % der Kinder in der Nusinersen-Gruppe erreichten eine Verbesserung von 3 Punkten oder mehr nach 15 Monaten, verglichen mit 26 % in der Kontrollgruppe (p = 0,001). Unerwünschte Arzneimittelwirkungen waren in beiden Behandlungsgruppen gleich häufig.
- Kommentar
Die Therapieeffekte, die in dieser Studie gezeigt wurden, entsprechen denen, die bei Kindern mit frühem Krankheitseintritt beobachtet wurden. Bemerkenswert ist, dass das Fortschreiten der Erkrankung durch Nusinersen offenbar nicht nur bei einem Teil der Patienten angehalten wurde, sondern dass es bei zwei Drittel der Betroffenen zu einer Besserung der motorischen Funktionen kam. Mit Nusinersen wird nun eine bisher nicht therapierbare, stetig progrediente und zum vorzeitigen Tod führende, schwerwiegende muskuläre Erkrankung behandelbar. Ob mit dieser Therapie auch die Lebenserwartung verbessert werden kann, bleibt zum jetzigen Zeitpunkt ungeklärt. Ein Wermutstropfen bei dieser Therapie sind die erheblichen Kosten. Dies führt dazu, dass die Behandlung nur dann durchgeführt werden kann, wenn eine entsprechende Kostenübernahmeerklärung der Krankenkasse vorliegt.
Quelle
Mercuri E, et al. Nusinersen versus sham control in later-onset spinal muscular atrophy. N Engl J Med 2018;378:625–35.
Literatur
1. Finkel RS, et al. Nusinersen versus sham control in infantile-onset spinal muscular atrophy. N Engl J Med 2017;377:1723–32.
Psychopharmakotherapie 2018; 25(04):219-228