Dr. Claudia Bruhn, Berlin
Rund 83 % der Patienten mit multipler Sklerose (MS) leiden unter krankheitsbedingter Spastik. Sie ist eine der Hauptursachen für schwere Einschränkungen der Betroffenen im Alltag. Herkömmliche Antispastika wie Baclofen oder Tizanidin sind oft nicht ausreichend wirksam. Bei notwendiger höherer Dosierung steigt ihre Nebenwirkungsrate. Seit 2010 ist in Deutschland zur Behandlung der mittelschweren bis schweren MS-induzierten Spastik das Cannabinoid-basierte Fertigarzneimittel Sativex® als Oromukosal-Spray zugelassen. Es enthält die Wirkstoffe Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD), die mit den Cannabinoidrezeptoren CB1 und CB2 interagieren. THC wirkt als Partialagonist an CB1, der hauptsächlich in ZNS-Bereichen vorkommt, die unter anderem mit Schmerz- und Sinneswahrnehmung, Kognition, Emotionen oder Appetit verbunden sind. CBD besitzt eine geringere Affinität zu beiden Rezeptoren und wirkt antagonistisch an CB1. Man vermutet, dass CBD deshalb die psychoaktiven Effekte von THC mildert und gleichzeitig seine therapeutischen Effekte verstärkt.
Indiziert ist Sativex® als Zusatztherapeutikum bei MS-Patienten, die auf eine vorherige Therapie mit anderen Antispastika nicht ausreichend angesprochen haben und die während eines Anfangstherapieversuchs eine erhebliche klinische Verbesserung von mit der Spastik verbundenen Symptomen zeigen [1].
Neue Studiendaten für mittelschwere bis schwere Spastik
Die bisher vorliegenden Studien [2, 4, 5] zur Wirksamkeit und Sicherheit des Arzneimittels wurden kürzlich durch eine weitere Untersuchung ergänzt [3]. Darin eingeschlossen waren Patienten, die mit antispastischer Standardtherapie keinen ausreichenden Therapieerfolg erreicht hatten. Das therapeutische Ansprechen wurde mit der numerischen Ratingskala (NRS) beurteilt (0 = keine Spastik; 10 = schlimmste vorstellbare Spastik innerhalb der vergangenen 24 Stunden).
Die Studie war in drei Phasen aufgeteilt. In der vierwöchigen Phase A identifizierte man als mögliche Responder solche Patienten, die unter Sativex® als Zusatztherapie eine Reduktion (≥ 20 % des NRS-Ausgangswerts) und in der darauffolgenden ein- bis vierwöchigen Auswaschphase eine Verschlechterung (auf ≥ 80 % des NRS-Ausgangswerts) ihrer Spastik zeigten. Daran schloss sich die 12-wöchige Phase B mit 106 identifizierten Patienten zur Wirksamkeit von Sativex® als Zusatztherapie gegenüber optimierter Standardtherapie an (Tab. 1).
Tab. 1. Studiendesign von SAVANT (nach [3])
Erkrankung |
Multiple Sklerose |
Studienziel |
Wirksamkeit und Verträglichkeit von Sativex® als Zusatztherapie zu einer optimierten antispastischen Standardtherapie im Vergleich zu einer optimierten antispastischen Standardtherapie |
Studientyp |
Interventionsstudie |
Studienphase |
Phase IV |
Studiendesign |
Multizentrisch, prospektiv, randomisiert, doppelblind, Placebo-kontrolliert, parallel |
Eingeschlossene Patienten |
MS-Patienten (Mindestalter 18 Jahre) mit mittelschwerer bis schwerer Spastik, die keinen ausreichenden Therapieerfolg mit zwei optimiert eingesetzten Standardantispastika erreicht hatten |
Intervention |
|
Primärer Endpunkt |
Anteil der Patienten, die nach 12 Wochen Behandlung eine klinisch relevante, |
Sekundärer Endpunkt |
Wirksamkeit Spastik-assoziierter Symptome (z. B. Schmerzen) |
Sponsor |
Almirall |
Signifikante überlegene Wirksamkeit
Nach Abschluss der Phase A hatten 134 Patienten (n = 70,5 %) auf die Behandlung angesprochen. Nach Ende der Auswaschphase trat bei 79,1 % der initialen Responder eine Verschlechterung auf; sie wurden 1 : 1 auf eine Behandlung mit Sativex® (n = 53) oder Placebo (n = 53) randomisiert. Die mittlere Anzahl der täglich applizierten Sprühstöße lag in der Verum-Gruppe bei 7,3, in der Placebo-Gruppe bei 8,5.
Am Ende der Phase B wurde der primäre Endpunkt in der Verum-Gruppe von signifikant mehr Patienten erreicht als unter Placebo (77,4 % vs. 32,1 %, adjustiertes Odds-Ratio [OR] 7,03; 95%-Konfidenzintervall [KI]: 2,95–16,74; p < 0,0001). Die Spastik-assoziierten Schmerzen (NRS 0–10) waren nach 12 Wochen ebenfalls signifikant reduziert (–3,2 vs. –1,8; p < 0,0013).
Bei 22,6 % der Patienten in der Verum-Gruppe und bei 13,2 % der Patienten unter Placebo traten unerwünschte Ereignisse (meist Schwindel und Fatigue) auf. Sie waren leicht bzw. moderat ausgeprägt. Eine als schwerwiegend eingestufte Nebenwirkung wurde als nicht Behandlungs-assoziiert eingestuft. Zum Therapieabbruch wegen unerwünschter Wirkungen kam es in der Placebo-Gruppe bei keinem, unter Verum bei zwei Patienten.
Quelle
Prof. Dr. med. Michael Haupts, Isselburg, Prof. Dr. med. Mathias Mäurer, Würzburg, Pressegespräch „Cannabinoide: Therapeutische Option nur für die MS-Spastik?“, veranstaltet von Almirall im Rahmen der 62. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und Funktionelle Bildgebung (DGKN), Berlin, 15. März 2018.
Literatur
1. Fachinformation Sativex® Spray zur Anwendung in der Mundhöhle, Stand März 2015.
2. Flachenecker P, et al. Nabiximols (THC/CBD oromucosal spray, Sativex®) in clinical practice – results of a multicenter, non-interventional study (MOVE 2) in patients with multiple sclerosis spasticity. Eur Neurol 2014;71:271–9.
3. Markova J. Sativex® as add-on therapy vs. further optimized first-line anti-spastics (SAVANT) in resistant multiple sclerosis spasticity double blind randomized clinical trial. ECTRIMS, Paris, #1862, ECTRIMS Online Library 2017; 199882.
4. Novotna A, et al. A randomized, double-blind, placebo-controlled, parallel-group, enriched-design study of nabiximols* (Sativex®), as add-on therapy, in subjects with refractory spasticity caused by multiple sclerosis. Eur J Neurol 2011;18:1122–31.
5. Patti F, et al. Efficacy and safety of cannabinoid oromucosal spray for multiple sclerosis spasticity. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2016;87:944–51.
Psychopharmakotherapie 2018; 25(04):219-228