Multiple Sklerose (MS)

Ocrelizumab verhindert Fortschreiten der neurologischen Behinderung bei MS


Dr. med. Marianne Schoppmeyer, Nordhorn

Der monoklonale Anti-CD20-Antikörper Ocrelizumab verlangsamt als erste Substanz das Fortschreiten der körperlichen Behinderung bei Menschen mit primär progredienter multipler Sklerose (PPMS) in einer Phase-III-Studie (ORATORIO). Zudem schneidet er auch in zwei weiteren Phase-III-Studien bei der schubförmig remittierenden multiplen Sklerose (RMS) signifikant besser ab als eine hochdosierte Therapie mit Interferon beta-1a (OPERA I und II). Diese Studien sind die Grundlage für eine noch in diesem Jahr angestrebte Zulassung der Substanz in Europa.

Bei der Entstehung typischer MS-Entzündungen im zentralen Nervensystem spielen neben den T-Lymphozyten auch B-Lymphozyten eine zentrale Rolle. Ocrelizumab – eine Variante des Rheuma- und Krebsmedikaments Rituximab – ist selektiv gegen CD20-positive B-Lymphozyten gerichtet. Es bindet an die CD20-Rezeptoren der Zellmembran und führt zur vollständigen Depletion der B-Lymphozyten. Bisher ist zur Therapie der chronisch progredienten MS nur Mitoxantron zugelassen.

ORATORIO bei PPMS

In die randomisierte und doppelblinde Phase-III-Studie ORATORIO (Tab. 1) wurden 732 Patienten mit primär progredienter MS eingeschlossen. Sie erhielten entweder 600 mg Ocrelizumab i.v. oder Placebo alle 24 Wochen. Die Therapie erfolgte über 120 Wochen und bis ein vordefinierter Anstieg in der EDSS (Expanded disability status scale) gemessen wurde, welche MS-bedingte Behinderungen systematisch erfasst. Jeder Patient bekam vor der Infusion Methylprednisolon (i.v. 100 mg). Primärer Endpunkt der Studie war der Prozentsatz Patienten mit nach 12 Wochen bestätigter Krankheitsprogression.

Tab. 1. Studiendesign von ORATORIO [nach 2]

Erkrankung

Primär progrediente multiple Sklerose

Studienziel

Vergleich von Ocrelizumab gegenüber Placebo

Studientyp

Interventionsstudie, Phase III

Studiendesign

Randomisiert, doppelblind, multizentrisch

Intervention

  • Ocrelizumab 600 mg alle 24 Wochen i.v. (n=488)
  • Placebo (n=244)

Primärer Endpunkt

Prozentualer Anteil der Patienten mit anhaltender (nach 12 Wochen bestätigter) Behinderungsprogression

Sekundäre Endpunkte

  • Prozentualer Anteil der Patienten mit anhaltender (nach 24 Wochen bestätigter) Behinderungsprogression
  • Veränderung im 25-Meter-Gehtest
  • Veränderung des Volumens der Hirnläsionen im T2-gewichteten MRT
  • Veränderung des Hirnvolumens
  • Veränderung im SF-36 (Short Form 36; physische Komponente)
  • Sicherheitsprofil und Nebenwirkungen von Ocrelizumab

Studienregisternummer

NCT01194570 (ClinicalTrials.gov)

MRT: Magnetresonanztomogramm

Ocrelizumab verlangsamt Fortschreiten der PPMS

In der Ocrelizumab-Gruppe verzeichneten die Forscher bei 32,9% der Patienten eine anhaltende Krankheitsprogression; in der Placebo-Gruppe bei 39,3%. Dies entspricht einer relativen Risikoreduktion von 24% durch den Anti-CD20-Antikörper (Hazard-Ratio [HR] 0,76; 95%-Konfidenzintervall [KI] 0,59–0,98; p=0,03). Eine nach 24 Wochen bestätigte Krankheitsprogression betraf unter Ocrelizumab nur 29,6% der Patienten gegenüber 35,7% unter Placebo (HR 0,75; 95%-KI 0,58–0,98; p=0,04).

Im 25-Meter-Gehtest verschlechterten sich unter Ocrelizumab ebenfalls weniger Patienten nach 120 Wochen: 38,9% versus 55,1% (p=0,04).

Das Hirnvolumen verringerte sich unter Ocrelizumab um 0,90% gegenüber 1,09% unter Placebo (p=0,02).

Gering waren hingegen die Unterschiede in der Lebensqualität, die mittels SF36-Fragebogen erfasst wurden.

OPERA I und II bei RMS

In die zwei identischen Phase-III-Studien OPERA I und OPERA II (Tab. 2) wurden Patienten mit schubförmig verlaufender MS eingeschlossen. Sie erhielten randomisiert Ocrelizumab 600 mg i.v. alle 24 Wochen oder Interferon beta-1a s.c. in einer Dosierung von 44 µg dreimal wöchentlich für 96 Wochen. Alle Patienten bekamen zudem ein entsprechendes Placebo i.v. oder s.c. und vor jeder Infusion Methylprednisolon (100 mg i.v.). Der primäre Endpunkt der beiden Studien war die jährliche Schubrate.

Tab. 2. Studiendesign der identischen Studien OPERA I und OPERA II [nach 1]

Erkrankung

Remittierende schubförmige multiple Sklerose

Studienziel

Vergleich von Ocrelizumab gegenüber Interferon beta-1a

Studientyp

Interventionsstudie, Phase III

Studiendesign

Randomisiert, Placebo-kontrolliert, multizentrisch, international

Intervention

  • Ocrelizumab 600 mg alle 24 Wochen i.v. (n=410 bzw. n=417)
  • Interferon beta-1a 44 µg dreimal wöchentlich s.c. (n=411 bzw. n=418)

Primärer Endpunkt

Jährliche Rezidivquote nach 96 Wochen

Sekundäre Endpunkte

  • Fortschreiten der körperlichen Behinderung nach EDSS
  • Zahl der Gadolinium-anreichernden Läsionen im MRT
  • Zahl der neu aufgetretenen und vergrößerten hyperintensen bzw. hypointensen Läsionen im MRT
  • Veränderung im Multiple Sclerosis Functional Composite Score
  • Prozentuale Veränderung des Hirnvolumens
  • Veränderung im SF-36
  • Pharmakokinetik, Pharmakodynamik, Immunogenität von Ocrelizumab
  • Sicherheitsprofil von Ocrelizumab

Studienregisternummer

NCT01247324 (ClinicalTrials.gov)

EDSS: expanded disability status scale; MRT: Magnetresonanztomogramm

Weniger Schübe unter Ocrelizumab

Die jährliche Schubrate war unter Ocrelizumab relativ um 46 bzw. 47% reduziert. Sie lag in jeder der beiden Studien bei 0,16 unter Ocrelizumab gegenüber 0,29 unter Interferon beta-1a (p<0,001).

Auch der Anteil der Patienten mit anhaltender, nach 12 Wochen bestätigter Behinderung war in der Ocrelizumab-Gruppe signifikant niedriger (9,1% vs. 13,6%; HR 0,60; 95%-KI 0,45–0,81; p<0,001). Diese Zahlen bestätigten sich nach 24 Wochen: 6,9% gegenüber 10,5% (HR 0,60; 95%-KI 0,43–0,84; p<0,003).

Deutliche Unterschiede zeigten sich auch in der mittleren Zahl der Gadolinium-aufnehmenden Läsionen im T1-gewichteten MRT: 0,02 unter Ocrelizumab gegenüber 0,29 bzw. 0,42 unter Interferon beta-1a, was einer Reduktion um 94% bzw. 95% entspricht (p<0,001).

Gute Verträglichkeit von Ocrelizumab

Insgesamt wurde der vollständig humanisierte Antikörper Ocrelizumab in allen drei Studien gut vertragen. Allerdings wurden in der ORATORIO-Studie in einigen wenigen Fällen Tumore beschrieben. Diese traten mit 2,3% häufiger im Ocrelizumab-Arm auf als unter Placebo mit 0,8%. Weiterhin wurden vermehrt infusionsbedingte Reaktionen, obere Atemwegsinfektionen und Herpes-simplex-Infektionen unter Ocrelizumab beobachtet. Sorgfältige Beobachtungen in Bezug auf Langzeitnebenwirkungen nach Zulassung des Medikaments sind laut Studienautoren notwendig.

Fazit

Ocrelizumab ist der zweite Arzneistoff, der in randomisierten klinischen Phase-III-Studien sowohl bei der RMS als auch bei der PPMS wirksam ist. ORATORIO sowie OPERA I und II bilden die Grundlage für die Zulassung der Substanz durch die Europäische Zulassungsbehörde, die noch in diesem Jahr erwartet wird.

Quellen

1. Hauser SL, et al. Ocrelizumab versus interferon beta-1a in relapsing multiple sclerosis. N Engl J Med 2017;376:221–34.

2. Montalban X, et al. Ocrelizumab versus placebo in primary progressive multiple sclerosis. N Engl J Med 2017;376:209–20.

Psychopharmakotherapie 2017; 24(02)