Dr. Alexander Kretzschmar, München
Die Inhalte der evidenz- und konsensbasierten AWMF-Leitlinie sollen in insgesamt 170 Empfehlungen zu unterschiedlichen Versorgungsaspekten gegliedert werden, berichtete Prof. Wolfgang Gaebel, Düsseldorf. Gemeinsamer „roter Faden“ aller Empfehlungen ist das Bestreben aller Beteiligten nach möglichst hoher Praxisrelevanz. Damit soll auch gewährleistet werden, dass die Vielzahl von Versorgern und Institutionen mit unterschiedlichen rechtlichen und finanziellen Grundlagen besser miteinander kooperieren können. Neben dieser inhaltlichen Ebene sollen Kitteltaschenversionen und Apps dafür sorgen, dass die neue S3-Leitlinie nicht nur Platz im Regal belegt. Der Wunsch nach elektronischen Tools wird jedoch noch nicht überall unterstützt, so Gaebel. Insbesondere die AWMF steht diesen neuen Anwendungen offenbar noch kritisch gegenüber.
Lebensqualität stärker gewichten
Die größere Praxisrelevanz soll auch gewährleisten, dass mehr schizophrene Patienten eine Recovery erreichen als bisher, betonte Prof. Peter Falkai, München. Dafür sollen künftig auch integrative Versorgungsformen mit leitliniengerechter Pharmakotherapie, Familienintervention, kognitiver Verhaltenstherapie (KVT) und Unterstützung am Arbeitsplatz stärker gewichtet werden. Die Lebensqualität der Patienten sollte ebenfalls stärkeres Gewicht erhalten – in der Praxis wie auch in klinischen Studien, etwa als primärer Studienendpunkt. Bei der antipsychotischen Pharmakotherapie für eine optimale Symptomkontrolle orientiert man sich an aktuellen Metaanalysen sowie den Guidelines der World Federation of Societies of Biological Psychiatry (WFSBP) von 2013 und den Empfehlungen des National Institute for Health and Care Excellence (NICE) von 2014. Sie bewerten die Unterschiede in der Wirksamkeit von Antipsychotika deutlich geringer als die Unterschiede in ihrer Verträglichkeit. Die Auswahl eines Antipsychotikums sollte sich daher vor allem an den Nebenwirkungen orientieren [1, 3, 4]. Mit der verstärkten Berücksichtigung relevanter Komorbiditäten wie Alkohol-, Cannabis- und Tabakabhängigkeit sowie internistischer und kardiometabolischer Begleit- und Folgeerkrankungen soll die „somatische Kompetenz“ von Ärzten in der Psychiatrie gestärkt werden.
In der Pharmakotherapie sind Innovationen mit neuen Wirkansätzen zwar in der Pipeline, aber noch nicht praxisreif. Ein Kandidat ist laut Falkai die Add-on-Therapie von Patienten mit gestörtem Methylierungsmuster ihrer DNA mit einem Histondeacetylase-(HDAC-)Inhibitor. Dies ist etwa bei einem Drittel der Patienten der Fall und wird unter anderem auf frühkindliche Traumata in der Anamnese zurückgeführt. Gestörte Methylierungsmuster in der DNA gelten als Risikofaktor für die Entwicklung einer Schizophrenie.
Stellenwert der Psychotherapie
Intensiv diskutiert wird der Stellenwert nichtmedikamentöser Interventionen. Falkai verwies auf eine Metaanalyse direkter Vergleichsstudien, in der Antipsychotika-Therapien eine deutlich höhere Effektstärke (standardisierte Mittelwertdifferenz [SMD] –0,56; 95%-Konfidenzintervall [KI] –0,98 bis –0,14) erzielten. Die Effektstärke der Kombination einer KVT plus Antipsychotika-Therapie war höher als unter einer Antipsychotika-Therapie allein (SMD 0,33; 95%-KI 0,21–0,45) [2]. Prof. Stefan Klingberg, Tübingen, Dachverband Deutschsprachiger PsychosenPsychotherapie (DDPP), sieht für die Psychotherapie bei schizophrenen Patienten heute deutlich bessere Wirksamkeitsbelege aus randomisierten, kontrollierten Wirksamkeitsstudien (RCT) sowie wissenschaftlich anerkannten Psychotherapieverfahren als noch bei der Vorgänger-Leitlinie. In diesem Kontext zu nennen sind neben der KVT vor allem das metakognitive Training als Optimierung innerhalb des KVT-Modells sowie die kognitive Remediation. KVT und Familieninterventionen sollten allen Patienten angeboten werden. Zur psychodynamischen Psychotherapie liegen keine neuen RCTs vor.
Damit die Patienten von diesen Fortschritten profitieren, müssen nichtmedikamentöse Interventionen besser in das Behandlungssetting integriert werden, forderte Klingberg. Allerdings wurde die alte S3-Leitlinie von vielen Psychotherapeuten als Ausdruck großer Zurückhaltung gegenüber der Psychotherapie verstanden. Er sieht auch heute noch Probleme bei der Implementierung von Psychotherapien in ein Pharmakotherapie-orientiertes Kliniksetting.
Bei soziotherapeutischen und rehabilitativen Verfahren gibt es für gemeindepsychiatrische Interventionen wie „Home Treatment“ und nachgehende gemeindepsychiatrische Teams (Assertive community treatment) gute Wirksamkeitsbelege, so Prof. Thomas Becker, Günzburg. Angebote des „Supported Employment“ haben sich als effektiv bei der Integration psychisch kranker Menschen im Arbeitsleben erwiesen, desgleichen Interventionen nach dem Modell des Pre-Vocational-Trainings. Die Kunsttherapie scheint nur geeignet für spezielle Populationen, etwa mit Präferenz für kognitive Therapien sowie Patienten mit schwerer Negativsymptomatik.
Quelle
Prof. Dr. med. Wolfgang Gaebel, Düsseldorf, Prof. Dr. med. Peter Falkai, München, Dr. med. Stefan Klingberg, Tübingen, Prof. Dr. Thomas Becker, Günzburg; Symposium „Die Aktualisierung der S3-Leitlinie Schizophrenie – aktueller Stand“, veranstaltet im Rahmen der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (DGPPN), Berlin, 25. November 2016.
Literatur
1. Hasan A, et al. World J Biol Psychiatry 2013;14:2–44.
2. Huhn M, et al. JAMA Psychiatry 2014;71: 706–15.
3. Leucht S, et al. Lancet 2013;382:951–62.
4. NICE CG178 Feb. 2014 Im Internet unter www.nice.org.uk/guidance/cg178 .
Psychopharmakotherapie 2017; 24(02)