Regionale Unterschiede bei der Abgabe von Methylphenidat an Apotheken in Deutschland 2013


Eine Studie auf Grundlage von Daten der Bundesopiumstelle

Peter Cremer-Schaeffer, Karl Broich, Bonn, und Jürgen Fritze, Pulheim

Hintergrund: Methylphenidat ist der in Deutschland am häufigsten verordnete Wirkstoff zur Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Aus publizierten Krankenkassendaten ergeben sich Hinweise auf regionale Verordnungsunterschiede. Die vorliegende Untersuchung prüft das Vorkommen regionaler Unterschiede bei der Abgabe von Methylphenidat an Apotheken.
Methoden: In die vorliegende Auswertung wurden alle 1,7 Millionen im Jahr 2013 bei der Bundesopiumstelle vorgelegten Betäubungsmittel-Abgabebelege einbezogen, die mindestens eine Abgabe von Fertigarzneimitteln mit dem Wirkstoff Methylphenidat an eine Apotheke dokumentierten.
Jeder Abgabebeleg wurde dem Kreis oder der kreisfreien Stadt zugeordnet, in dem bzw. der die belieferte Apotheke angesiedelt war. Für alle Abgabebelege eines Kreises oder einer kreisfreien Stadt wurde die darauf dokumentierte Wirkstoffmenge an Methylphenidat berechnet. Aus der Summe der Einzelwerte ergab sich die Gesamtwirkstoffmenge. Die Gesamtwirkstoffmenge wurde durch die Anzahl der im Kreis oder der kreisfreien Stadt wohnenden 3- bis 20-jährigen Personen dividiert. Die so berechneten regionalen Durchschnittswerte wurden graphisch dargestellt.
Ergebnisse: 2013 bestanden regionale Unterschiede bei der Abgabe von Methylphenidat durch Apotheken. Im Regierungsbezirk Unterfranken war die durchschnittliche Abgabemenge am höchsten. Hohe Abgabemengen waren in vielen Kreisen Frankens, im östlichen Rheinland-Pfalz, im östlichen Niedersachsen, in einzelnen Kreisen des westlichen Nordrhein-Westfalens und in einzelnen kreisfreien Städten festzustellen. Die neuen Bundesländer, Hessen und Schleswig-Holstein wiesen insgesamt niedrige Abgabemengen auf.
Schlussfolgerung: Unsere Daten bestätigen regionale Unterschiede in der Versorgung mit Methylphenidat. Weiterführende Untersuchungen sind notwendig, um Ursachen für diese Unterschiede zu erforschen.
Schlüsselwörter: ADHS, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, Methylphenidat, regionale Unterschiede, Abgabebelege
Psychopharmakotherapie 2017;24:63–8.

Hintergrund und Fragestellung

Die öffentliche Diskussion um die Behandlung von Kindern mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) wird seit vielen Jahren sehr emotional geführt und hat über die Darstellung in den Medien die Fachebene längst verlassen. Befürworter der medikamentösen Therapie sprechen von einem Segen für die Kinder [2]. Gegner fordern individuelle Förderung statt medikamentöser Verhaltensbeeinflussung [13]. Zuletzt hat der Arztreport der Barmer GEK aus 2013 die Diskussion neu angefacht [9]. Danach sei die Diagnoserate für ADHS zwischen 2006 und 2011 um nahezu 50% gestiegen. In Publikationen wird vom Heranwachsen einer „Generation ADHS“ gesprochen [16].

Zur medikamentösen Behandlung der ADHS stehen in Deutschland die Wirkstoffe Methylphenidat, Atomoxetin, Dexamfetamin, Lisdexamfetamin und – seit Januar 2016 – Guanfacin zur Verfügung. Methylphenidat ist dabei der bei Weitem am häufigsten verordnete Wirkstoff. Die Zulassung Methylphenidat-haltiger Fertigarzneimittel umfasste zunächst die Behandlung von Kindern und Jugendlichen ab sechs Jahren. In 2011 wurde das erste Fertigarzneimittel zur Behandlung Erwachsener zugelassen. Im Ergebnis eines 2009 durchgeführten europäischen Risikobewertungsverfahrens gab die European Medicines Agency (EMA) Empfehlungen für die sichere Anwendung von Methylphenidat heraus [6]. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) beschloss daraufhin eine geänderte Arzneimittel-Richtlinie, in der die Empfehlungen der EMA berücksichtigt wurden [8]. Danach dürfen Arzneimittel zur Behandlung der ADHS bei Kindern und Jugendlichen, insbesondere bei der Erstanwendung, nur von einem Spezialisten für Verhaltensstörungen bei Kindern und/oder Jugendlichen verordnet und unter dessen Aufsicht angewendet werden.

In den 90er-Jahren stieg die in deutschen Apotheken zu therapeutischen Zwecken abgegebene Menge an Methylphenidat gemäß Daten der Bundesopiumstelle stetig an. Im Jahr 2000 sogar sprunghaft, um mehr als 90%, im Vergleich zum Vorjahr. In den zehn nachfolgenden Jahren verdreifachte sich die Abgabemenge nochmals. 2013 und 2014 waren die Werte erstmals rückläufig (Abb. 1).

Abb. 1. Erwerb von Methylphenidat durch Apotheken in Form von Fertigarzneimitteln. Angaben in kg Methylphenidat (als Base) gemäß Daten der Bundesopiumstelle.

Der Arztreport der Barmer GEK aus 2013 wies auf wohnortbezogen unterschiedliche Verordnungsraten von Methylphenidat hin. Regionale Verordnungsunterschiede von Arzneimitteln zur Behandlung der ADHS wurden unter anderem auch in Norwegen, Schweden, Dänemark und den USA festgestellt [12, 14, 15, 20].

Mit vorliegender Studie wurde das Vorkommen regionaler Unterschiede bei der Abgabe von Methylphenidat an Apotheken untersucht. Dabei konnten erstmals alle Daten von Methylphenidat-haltigen Arzneimitteln berücksichtigt werden, die an Apotheken geliefert und von diesen zu therapeutischen Zwecken abgegeben wurden.

Methode

Die Bundesopiumstelle im Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) überwacht in Deutschland den legalen Betäubungsmittelverkehr. Sie kann anhand ihrer Aufzeichnungen alle Bewegungen von Betäubungsmitteln, von der Herstellung über den Großhandel bis hin zur Apotheke, lückenlos verfolgen. Der Wirkstoff Methylphenidat ist ein Betäubungsmittel der Anlage III zu §1 des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) und unterliegt somit ebenfalls der Betäubungsmittelüberwachung.

Aus den Datenbanken der Bundesopiumstelle wurden alle Abgabebelege nach §1 der Betäubungsmittel-Binnenhandelsverordnung (BtMBinHV) des Jahres 2013 herausgefiltert, auf denen die Lieferung eines Fertigarzneimittels mit dem Wirkstoff Methylphenidat an eine Apotheke verzeichnet war. Es handelte sich um rund 1,7 Millionen Belege. Jeder Abgabebeleg wurde dem Kreis oder der kreisfreien Stadt zugeordnet, in dem bzw. der die belieferte Apotheke angesiedelt war. Für alle Abgabebelege eines Kreises oder einer kreisfreien Stadt wurde die darauf dokumentierte Wirkstoffmenge an Methylphenidat berechnet. Aus der Summe der Einzelwerte ergab sich die Gesamtwirkstoffmenge. Die Gesamtwirkstoffmenge wurde durch die Anzahl der im Kreis oder der kreisfreien Stadt wohnenden 3- bis 20-jährigen Personen dividiert. Daraus ergab sich eine durchschnittliche Pro-Kopf-Abgabemenge in der für die ADHS-Behandlung relevanten Bevölkerungsgruppe.

Die Ergebnisse wurden in einer Verhältnisdarstellung wiedergegeben. Die durchschnittliche Pro-Kopf-Abgabemenge in Deutschland wurde dabei mit dem Wert eins (1,0) festgesetzt.

Die Darstellung erfolgte auf einer Deutschlandkarte, auf der die 402 Kreise und kreisfreien Städte dargestellt waren. Das Kartenmaterial stammte vom Bundesamt für Kartographie und Geodäsie in Frankfurt am Main und wurde für unsere Zwecke bearbeitet.

Ergebnisse

Im Jahr 2013 wurden insgesamt 1803 kg Methylphenidat (als Base) in Form von Fertigarzneimitteln an Apotheken in Deutschland ausgeliefert und von diesen zu therapeutischen Zwecken an Patientinnen und Patienten abgegeben. Bezogen auf die Altersgruppe der 3- bis 20-Jährigen (12648991 Personen, Stand 31.12.2012, statistisches Bundesamt) entsprach das einer durchschnittlichen Pro-Kopf-Abgabemenge von gerundet 143 mg Methylphenidat. Die berechneten Werte in den einzelnen Kreisen und kreisfreien Städten wiesen dabei deutliche Unterschiede auf (Abb. 2).

Abb. 2. Verhältnis der durchschnittlichen Pro-Kopf-Abgabemenge von Methylphenidat in Kreisen und kreisfreien Städten zur durchschnittlichen Pro-Kopf-Abgabemenge in Deutschland (bezogen auf die Altersgruppe der 3- bis 20-Jährigen)

Im Regierungsbezirk Unterfranken war die Abgabemenge am höchsten. Die an Unterfranken angrenzenden Kreise Hessens hingegen wiesen durchgehend durchschnittliche oder unterdurchschnittliche Werte auf. Die Landesgrenze trennte hier Kreise mit unterdurchschnittlichen von Kreisen mit weit überdurchschnittlichen Abgabemengen. Ein ähnlicher Effekt war an der Landesgrenze von Rheinland-Pfalz zu Hessen und an der Grenze Niedersachsens zu Sachsen-Anhalt festzustellen.

Weitere Kreise mit deutlich überdurchschnittlichen Werten fanden sich insbesondere in Oberfranken, Rheinhessen, dem östlichen Niedersachsen, dem Altenburger Land und angrenzenden Kreisen sowie in einzelnen Kreisen im Westen Nordrhein-Westfalens.

Besonders hervorzuheben sind die kreisfreien Städte, in denen die Abgabemenge mehr als dreimal (Bamberg, Coburg, Aschaffenburg und Schweinfurt) oder gar mehr als fünfmal (Landau in der Pfalz und Würzburg) so hoch lag wie im Bundesdurchschnitt. In Städten mit 300000 oder mehr Einwohnern waren meist durchschnittliche oder unterdurchschnittliche Abgabemengen zu verzeichnen. Ausnahmen bildeten Mannheim (Verhältniswert 2,0) und Nürnberg (1,45).

Vor allem in Süddeutschland war in kreisfreien Städten oft eine deutlich höhere Abgabemenge zu beobachten als in den umgebenden Kreisen. In Würzburg (5,2 in der kreisfreien Stadt zu 2,2 im umgebenden Kreis), Landau in der Pfalz (5,1 zu 1,4), Ansbach (1,9 zu 0,9), Amberg (2,7 zu 1,0), Weiden Oberpfalz (2,0 zu 0,6), Regensburg (2,3 zu 1,0), Straubing (2,0 zu 0,5), Landshut (1,8 zu 0,6), Kempten (2,1 zu 0,7) und Kaufbeuren (1,8 zu 0,8) war dieser Effekt besonders ausgeprägt. Hierfür waren unter anderen methodische Gründe verantwortlich, auf die wir in der Diskussion genauer eingehen.

Bei Darstellung der Durchschnittswerte für die einzelnen Bundesländer (Abb. 3) ergaben sich in Bayern (1,15), aber vor allem in Rheinland-Pfalz (1,34) überdurchschnittliche, in den nord-östlichen und östlichen Bundesländern (0,74–0,88) sowie in Bremen (0,83) und Hessen (0,79) unterdurchschnittliche Werte.

Abb. 3. Verhältnis der durchschnittlichen Pro-Kopf-Abgabemenge von Methylphenidat in Bundesländern zur durchschnittlichen Pro-Kopf-Abgabemenge in Deutschland (bezogen auf die Altersgruppe der 3- bis 20-Jährigen)

Diskussion

Die Abgabemenge von Methylphenidat zur Therapie der ADHS hat sich gemäß Daten der Bundesopiumstelle in den Jahren 2002 bis 2012 mehr als verdreifacht. Die Medien nahmen den Anstieg der Zahlen zunehmend zum Anlass, die medikamentöse Therapie der ADHS grundsätzlich infrage zu stellen. Auch einzelne Fachleute kritisierten die angeblich zu häufige Methylphenidat-Anwendung. Dabei hatte die fachinterne Diskussion schon frühzeitig zur Festlegung von evidenzbasierten Diagnosekriterien sowie zur Etablierung therapeutischer Standards geführt. Die Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie enthält ausführliche Empfehlungen zur störungsspezifischen Diagnostik [4]. Gleiches gilt für die Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder und Jugendärzte e.V. [10]. Die Bindung der Therapie an Spezialisten wurde durch Beschluss in einem europäischen Schiedsverfahren – aufgrund von Sicherheitsbedenken zur Anwendung von Methylphenidat – untermauert und in den Fachinformationen der zugelassenen Fertigarzneimittel seit 2009 berücksichtigt.

In der Diskussion wurde pauschal von einer Übertherapie in Deutschland gesprochen. Regionale Daten zur Anwendung von Methylphenidat wurden nicht einbezogen.

Diese legte die Barmer GEK mit ihrem Report aus 2013 erstmals vor. Im Report wurden die Verschreibungsdaten der 2011 bei der Barmer GEK versicherten Personen ausgewertet und auf die Gesamtbevölkerung in Deutschland extrapoliert. Die Stichprobe umfasste mehr als 10% der in Deutschland gesetzlich Versicherten.

Die Ergebnisse wiesen auf regionale Unterschiede in den Diagnoseraten für ADHS sowie den Verordnungsraten für Methylphenidat hin. Ähnliche Ergebnisse wurden am 3. Dezember 2014 vom Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland veröffentlicht [11].

Die mit dieser Arbeit vorgelegten Daten zu regionalen Unterschieden bezüglich der Abgabemengen von Methylphenidat berücksichtigen erstmals alle Lieferungen von Fertigarzneimitteln mit dem Wirkstoff Methylphenidat an Apotheken in Deutschland. Da Apotheken Betäubungsmittel nur in sehr geringen Mengen lagern, konnten wir davon ausgehen, dass die gesamte gelieferte Menge Methylphenidat von den Apotheken an Patienten abgegeben wurde.

Die Methodik der Untersuchung ist dadurch bestimmt, dass der Bundesopiumstelle keine Daten zur Verschreibung vorliegen, wie häufig fälschlicherweise angenommen wird [3]. Die Auswertung konnte daher nicht wohnortbezogen vorgenommen werden. Bei der Interpretation der Ergebnisse müssen die folgenden Aspekte bedacht werden, die insbesondere beim Stadt-Land-Vergleich zu Verzerrungen führen können:

  • Die Apotheke, die Methylphenidat an einen Patienten abgegeben hat, liegt nicht zwingend im selben Kreis wie der Wohnort des Patienten.
  • Spezialisten zur Behandlung der ADHS sind vermehrt in Städten angesiedelt. Es ist davon auszugehen, dass viele Patienten, die in ländlichen Gebieten leben, Methylphenidat in Städten verschrieben bekommen und zum Teil aus städtischen Apotheken beziehen. Dieses Methylphenidat wird bei der Berechnung der Pro-Kopf-Abgabemenge auf die in der Stadt lebenden Personen umgerechnet. Hieraus ergeben sich zu hohe Durchschnittswerte für die städtische und zu niedrige für die ländliche Bevölkerung. Dieser Effekt wird in Abbildung 2 deutlich. Besonders ausgeprägt ist er in Bayern, dem Bundesland mit den meisten kreisfreien Städten. Spezialkliniken für die stationäre Behandlung von Kindern mit ADHS werden über Krankenhausapotheken versorgt. In der Berechnung wird das im Krankenhaus abgegebene Methylphenidat den Einwohnern des Kreises, in dem die Klinik steht, zugeordnet.

Im Vergleich zur Auswertung von Verschreibungsdaten ergeben sich auch Vorteile. Rezepte über Methylphenidat, die ausgestellt, aber nicht eingelöst werden, führen nicht zur Abgabe eines Arzneimittels in der Apotheke. Sie bleiben somit in dieser Auswertung unberücksichtigt.

Die Auswertung der Abgabedaten von Betäubungsmitteln durch die Bundesopiumstelle kann aus oben genannten Gründen nur Apotheken-bezogen erfolgen. Zur Sicherstellung des Datenschutzes für Einzelapotheken wurde die Auswertung für Kreise und kreisfreie Städte durchgeführt.

Die Berechnung der Pro-Kopf-Abgabemenge erfolgte für die Gruppe der 3- bis 20-Jährigen, da mit dieser Altersgruppe über 90% der behandelten Patienten erfasst werden konnten [7]. Die probehalber durchgeführte Berechnung von Durchschnittswerten, unter Ausklammerung der Gruppe der 3- bis 6-Jährigen, veränderte die relativen Werte nur unwesentlich. Die Berechnung von Durchschnittswerten für die Gesamtbevölkerung ließ das West-Ost-Gefälle in der Verhältnisdarstellung noch stärker erscheinen. Begründbar ist dies mit dem unterdurchschnittlichen Anteil der 3- bis 20-Jährigen an der Gesamtbevölkerung in allen fünf neuen Bundesländern [19].

Trotz obengenannter Schwächen belegen die in Abbildung 2 dargestellten Berechnungen deutliche regionale Unterschiede bei der Abgabemenge von Methylphenidat. Einzelwerte unterscheiden sich um den Faktor zehn und mehr. Bemerkenswert ist darüber hinaus die Feststellung von ausgeprägten Unterschieden an einzelnen Landesgrenzen. Diese Effekte an den südlichen Grenzen Hessens und der Grenze Niedersachsens zu Sachsen-Anhalt sind aus den Daten heraus nicht erklärbar. Regional unterschiedliche Empfehlungen zur medikamentösen Behandlung der ADHS bestehen nicht. Ob andere Aspekte, wie Morbiditätsunterschiede, Unterschiede in nichtmedikamentösen Therapiekonzepten, Ärztedichte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, unterschiedliche Schulsysteme oder sozioökonomische Faktoren hierfür eine Erklärung darstellen können, kann anhand der vorliegenden Daten nicht geprüft werden. Da an Landesgrenzen meist auch Grenzen zwischen Zuständigkeiten der kassenärztlichen Vereinigungen liegen, wäre zu untersuchen, ob dies, beispielsweise durch unterschiedliche Versorgungsverträge, Einfluss auf die Abgabemengen haben könnte.

Die Verschreibungsdaten des Barmer-GEK-Reports 2013 weisen auf ganz ähnliche regionale Unterschiede in der Versorgung mit Methylphenidat hin. Das betrifft sowohl die regional unterschiedlichen Verordnungsmengen als auch die Abgrenzung von Regionen mit unterdurchschnittlichem und überdurchschnittlichem Verbrauch an Landesgrenzen. Die geringere Verordnungshäufigkeit in Hessen wird durch eine Analyse der Versichertenstichprobe AOK Hessen/KV Hessen für die Jahre 2000 bis 2007 ebenfalls bestätigt [17]. Insofern scheint ein Vergleich von Verordnungsdaten mit unseren Daten zur Abgabe von Methylphenidat in Apotheken zulässig. Jedoch sollten die Unterschiede in kreisfreien Städten und ihren umgebenden Kreisen weitgehend vernachlässigt werden, da hier die Abgabedaten in größerem Ausmaß durch die höhere Facharzt- und Apothekendichte in Städten beeinflusst sein könnten.

Ein Vergleich mit bundesweiten Verordnungsdaten ist nahezu uneingeschränkt möglich und soll hier nochmals aufgegriffen werden. Der Barmer-GEK-Report 2013 war umstritten [1]. Insbesondere die Hochrechnung von Verordnungsdaten für Methylphenidat auf das gesamte Bundesgebiet wurde kritisiert [5].

Mit der vorliegenden Auswertung können diese Hochrechnungen weitgehend validiert werden.

Unsere Erhebung erfasst alle Methylphenidat-haltigen Fertigarzneimittel, die an Apotheken ausgeliefert und dort zu therapeutischen Zwecken abgegeben wurden. Die Gesamtmenge lag 2013 bei 1803 kg Methylphenidat (Base). Daraus kann die Gesamtzahl der in Deutschland abgegebenen definierten Tagesdosen (Defined daily dose, DDD) berechnet werden. Die DDD wird als Maß für die durchschnittlich pro Tag angewendete Arzneimittelmenge in einer bestimmten Indikation angesehen.

Für Kinder und Jugendliche wird die DDD von Methylphenidat mit 30 mg angegeben [21]. Allerdings bezieht sich diese Dosisangabe auf das in Fertigarzneimitteln enthaltene Methylphenidathydrochlorid und nicht auf die Base. 10 mg Methylphenidathydrochlorid entsprechen 8,648 mg Methylphenidat als Base. Für die weitere Berechnung wird daher die DDD mit 25,944 mg zugrunde gelegt. Die Abgabemenge von 1803 kg Methylphenidat im Jahr 2013 entspricht etwa 69,5 Millionen DDD. Für 2011 hätten sich bei einem Gesamtverbrauch von 1791 kg etwa 69 Millionen DDD ergeben. Die Hochrechnungen der Barmer GEK hatten für 2011 einen Verbrauch von 67,6 Millionen DDD ergeben. Die beiden Werte weichen lediglich 2% voneinander ab. Der Arzneiverordnungsreport 2013 gibt für 2012 eine Verschreibungsmenge von lediglich 58 Millionen und für 2011 von 56 Millionen DDD an [18]. Im Verordnungsreport werden allerdings ausschließlich die Daten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und hier die 3000 verordnungsstärksten Arzneimittel berücksichtigt.

Nach dem Barmer-GEK-Report 2013 haben Patienten, die 2011 mindestens einmal Methylphenidat verschrieben bekommen haben, durchschnittlich 201 DDD im gesamten Jahr erhalten. Legt man diese 201 DDD für die weiteren Berechnungen mit unseren Daten zugrunde, so wären im Jahr 2013 etwa 343000 Patienten in Deutschland mit Methylphenidat behandelt worden. Das entspricht nahezu 2,7% der 3- bis 20-Jährigen.

Die Unterschiede auf Ebene der Bundesländer sind weit weniger deutlich ausgeprägt als auf Kreisebene. Zu beobachten ist ein Ost-West-Gefälle. Die größte Differenz der Einzelwerte ergibt sich zwischen Rheinland-Pfalz, mit einem Verhältniswert von 1,34 und Mecklenburg-Vorpommern, mit einem Wert von 0,74.

Daten zu regionalen Unterschieden in der Versorgung von ADHS-Patienten liegen unter anderem aus Skandinavien und den USA vor. In Dänemark wurde in fünf Regionen die Zahl der aufgrund einer ADHS zwischen 1995 und 2011 medikamentös behandelten Patienten verglichen [15]. Für Zentraldänemark ergab sich dabei der höchste Verhältniswert mit 1,45; für Süddänemark mit 0,64 der niedrigste Wert. Aus Norwegen liegen regionale Verschreibungsdaten aus 2011 vor [14]. Dort ist die Verschreibungshäufigkeit im Norden (umgerechnet 1,18) höher als im Zentrum, Südosten und Westen (0,90–0,97). Allerdings sind diese Unterschiede nur gering ausgeprägt.

In den 20 Regierungsbezirken Schwedens waren die Unterschiede in 2007 teilweise größer [12]. Die durchschnittliche Pro-Kopf-Verordnungsmenge lag in einzelnen Bezirken bis zu viermal höher als in Blekinge, dem Bezirk mit der niedrigsten Verordnungsmenge.

In den USA sind ähnlich große Unterschiede feststellbar [20]. Es besteht ein Ost-West-Gefälle bei den Verordnungen. In Arkansas, Kentucky und Louisiana werden durchschnittlich dreimal so viele Medikamente zur Behandlung der ADHS verordnet wie in Utah und Kalifornien und etwa fünfmal so viel wie in Nevada.

Fazit

Es bestehen regionale Unterschiede im Verbrauch von Methylphenidat. Die Auswertung bestätigt Untersuchungen, die ähnliche regionale Unterschiede bei den Verordnungsdaten für Methylphenidat festgestellt haben. Zur Erklärung regionaler Unterschiede sind weiterführende Untersuchungen notwendig. Dabei könnte die regionale Dichte von Kinder- und Jugendpsychiatern genauso berücksichtigt werden wie sozioökonomische Unterschiede oder die Etablierung nicht medikamentöser Therapieverfahren. Aufgrund der teilweise markanten Versorgungsunterschiede an Landesgrenzen – und damit auch an Grenzen zwischen Zuständigkeitsbereichen der jeweiligen Kassenärztlichen Vereinigungen – sollten die bestehenden ADHS-Versorgungsverträge ebenfalls in die Untersuchungen mit einbezogen werden.

Interessenkonflikterklärung

J.F. hat in den letzten fünf Jahren Honorare für Beratertätigkeit von Amgen, Janssen, Lilly, Lundbeck, Nestlé, Novartis, Pfizer, Roche, St. Jude Medical, 3M, Sanvartis, Teva und dem Verband der privaten Krankenversicherung e.V. erhalten.

Die anderen Autoren geben an, keine Interessenkonflikte zu haben.

Literatur

1. ADHS Deutschland e.V. Zu viel, zu wenig, zu einseitig. Anmerkungen zum BARMER GEK Arztreport 2013 sowie der aktuellen Medienberichterstattung. Von Johannes Streif vom 31. Januar 2013.

2. Alfred A. Es kann ein Segen sein. Süddeutsche Zeitung, 2. Februar 2013.

3. Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung vom 20. Januar 1998 (BGBl. I S. 74, 80), die zuletzt durch Artikel 2 Absatz 4 der Verordnung vom 14. August 2014 (BGBl. I S. 1383) geändert worden ist.

4. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie u.a. (Hrsg.). Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter. 3., überarbeitete Auflage. Köln: Deutscher Ärzteverlag, 2007:239–54.

5. Die Zeit. Ein Krankenkassen-Bericht ist keine valide ADHS-Studie. „In Deutschland wächst eine Generation ADHS heran“, warnt die Barmer und geißelt „Pillen gegen Erziehungsprobleme“. Doch für diese Deutung fehlt die Datengrundlage. Von Lydia Klöckner und Dagny Lüdemann vom 29. Januar 2013.

6. European Medicines Agency. European Medicines Agency makes recommendations for safer use of Ritalin and other methylphenidate-containing medicines in the EU. Presseerklärung vom 21.01.2009.

7. Fritze J, Riedel C, Escherich A, Beinlich P, et al. „Psychostimulanzien“: Spektrum der Verordnung und Morbidität. Explorative Analyse anhand einer Vollerfassung der Abrechnungsdaten der Gesetzlichen Krankenversicherung. Psychopharmakotherapie 2017;24;56–62.

8. Gemeinsamer Bundesausschuss gemäß §91 SGB V. Bekanntmachung eines Beschlusses des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Arzneimittel-Richtlinie: Anlage III Nummer 44 Stimulanzien. BAnz. Nr. 181 (S. 3975) vom 30. November 2010.

9. Grobe TG, Bitzer EM, Schwartz FW. BARMER GEK Arztreport 2013.

10. Grosse KP, Skodzki K. Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte e.V.. Aktualisierte Fassung, Januar 2007.

11. Hering R, Schulz M, Wuppermann A, Bätzing-Feigenbaum J. Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Kindern und Jugendlichen in der ambulanten Versorgung in Deutschland. Teil 1 – Entwicklung der Diagnose- und Medikationsprävalenzen von ADHS zwischen 2008 und 2011 im regionalen Vergleich. Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland, der Versorgungsatlas, 3. Dezember 2014.

12. Janols L-O, Liliemark J, Klintberg K, von Knorring A-L. Central stimulants in the treatment of attention-deficit hyperactivity disorder (ADHD) in children and adolescents. A naturalistic study of the prescription in Sweden, 1977–2007. Nord J Psychiatry 2009;63:508–16.

13. Largo R. ADHS: „Das Problem sind die Erwachsenen“. ZDF, Frontal 21, 4. Juni 2013.

14. Norum J, Olsen AI, Nohr FI, Heyd A, et al. Medical treatment of children and youths with attention-deficit/hyperactivity disorder (ADHD): A Norwegian prescription registry based study. Global Journal of Health and Science 2014;6:155–62.

15. Pottegard A, Bjerregaard BK, Glintborg D, Hallas J, et al. The use of medication against attention deficit hyperactivity disorder in Denmark: a drug use study from a national perspective. Eur J Clin Pharmacol 2012;68:1443–50.

16. Richter-Kuhlmann E. Barmer GEK Arztreport 2013: „Generation ADHS“ wächst heran. Dtsch Ärztebl PP 2013;12:64.

17. Schubert I, Köster I, Lehmkuhl G. Prävalenzentwicklung von hyperkinetischen Störungen und Methylphenidatverordnungen: Analyse der Versichertenstichprobe AOK Hessen/KV Hessen zwischen 2000 und 2007. Dtsch Arztebl Int 2010;107:615–21.

18. Schwabe U, Paffrath D (Hrsg.). Arzneiverordnungs-Report 2013. Heidelberg: Springer-Verlag, 2013.

19. Statistisches Bundesamt.

20. Visser SN, Danielso ML, Birsko RH, et al. Trends in the parent-report of health care provider-diagnosed and medicated attention-deficit/hyperactivity disorder: United States, 2003–2011. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 2014;53:34–46.

21. WHO Collaborating Centre for Drug Statistics Methodology: ATC classification index with DDD, 2014.


Dr. Peter Cremer-Schaeffer, Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Kurt-Georg-Kiesinger-Allee 3, 53175 Bonn, E-Mail: peter.cremer-schaeffer@bfarm.de

Prof. Dr. Karl Broich, Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, Kurt-Georg-Kiesinger-Allee 3, 53175 Bonn

Prof. Dr. Jürgen Fritze, Asternweg 65, 50259 Pulheim

Regional differences in the supply of methylphenidate to pharmacies in Germany 2013 – A study based on data of the Federal Opium Agency

Background: Methylphenidate is the most frequently prescribed active substance for the management of ADHD. Data published by health insurances suggests that there are regional differences in prescribing behavior. This paper investigates regional differences in the supply of methylphenidate to pharmacies.

Methods: This evaluation includes all of the 1.7 million documents related to dispensing of narcotic drugs submitted to the Federal Opium Agency in 2013 that recorded the supply of at least one medicinal product containing methylphenidate to a pharmacy. Each of these dispensing documents was allocated to the district or town where the pharmacy supplied was located. The documented amount of active substance was calculated for all dispensing documents of one district or town. The individual values were then added up to the total amount of active substance. The per capita consumption is calculated by dividing the entire amount of active substance in a district or town by the number of people in the relevant population group. These regional mean averages have been plotted in a graph.

Results: There were regional differences in the supply of methylphenidate to pharmacies in 2013; the highest average amount was dispensed in Lower Franconia. High amounts were determined in many districts of Franconia, in the east of Rhineland-Palatinate, in the east of Lower Saxony, in isolated districts in the west of North Rhine-Westphalia, and in individual towns. In general, the new federal states as well as Hessen and Schleswig-Holstein present low amounts.

Conclusion: Our data confirm that there are regional differences regarding the supply of methylphenidate. Further research is needed to clarify the reasons for these differences.

Key words: ADHD, attention-deficit/hyperactivity disorder, methylphenidate, regional differences, drug dispensing documents


Psychopharmakotherapie 2017; 24(02)