Multiple Sklerose

Neurodegeneration und Myelinisierung als Ziele neuer Therapien


Dr. Alexander Kretzschmar, München

Die heute verfügbaren Arzneimittel zur Behandlung der multiplen Sklerose (MS) fokussieren auf die Reduktion der Inflammationsprozesse, weniger auf die neurodegenerativen Aspekte der MS. Die Stimulation von Remyelinisierungsprozessen ist jedoch nur ein Aspekt für künftige therapeutische Strategien. In den letzten Jahren vermehrt in den Fokus der Therapieforschung gerückt ist auch die Frage, wie man das Überleben nackter, demyelinisierter Axone verbessern kann. Auf der Jahrestagung der American Academy of Neurology (AAN) wurde hierzu eine Reihe neuer Ergebnisse vorgestellt.

Demyelinisierte, nackte Axone sind einem aggressiven Milieu mit einem erhöhten pH-Wert und einer Dysregulation des Ionengleichgewichts ausgesetzt. Dies lässt das Neuron anschwellen und führt zu oxidativem Stress mit zunehmender Einschränkung der mitochondrialen Energieproduktion. Dadurch verlangsamt sich die neuronale Impulsübertragung und wird schließlich mit dem Zelltod unterbrochen [2, 4, 7]. Eine auf dem AAN-Kongress 2016 vorgestellte Studie bestätigte jetzt, dass eine Schädigung der Mitochondrien und daraus folgende Probleme des Energiehaushalts der Zellen zu einer Demyelinisierung und Degeneration beitragen. Eine gute Versorgung mit mehrfach ungesättigten Fettsäuren stärkt die antioxidative Kapazität der Mitochondrien [15]. Zu den Substanzen, denen hier ein positiver Effekt auf die neuronale Integrität zugeschrieben wird, gehört auch der HMG-CoA-Reductasehemmer Simvastatin, der allerdings vermehrt bei der Alzheimer-Demenz beforscht wird. Beim AAN-Kongress 2016 wurden hierzu neue Daten aus einem Ratten-Modell zur Reduktion der Beta-Amyloid- und Tau-Last vorgelegt [5].

Natalizumab

In der Phase-III-Studie ASCEND mit 887 Patienten mit sekundär progressiver MS (SPMS) verfehlte die Therapie mit Natalizumab 300 mg den kombinierten primären Endpunkt aus Expanded Disability Status Scale (EDSS), Timed 25-Foot Walk Test (T25FW), and 9-Hole Peg Test (9HPT) [16].

Ocrelizumab

Der Anti-CD20-Antikörper Ocrelizumab 600 mg wurde in der Phase-III-Studie ORATORIO (n=732) bei Patienten mit primär progressiver MS (PPMS) untersucht. Die Behandlung führte zu einer signifikanten Reduktion des Risikos einer Behinderungsprogression, bestätigt über 12 Wochen, um 24% (primärer Endpunkt; p=0,032). Die Risikoreduktion, bestätigt über 24 Wochen, (sekundärer Endpunkt) war mit 25% vergleichbar hoch (p=0,0365) [11]. Die Anti-B-Zell-Therapie reduzierte nach 120 Wochen auch die im Magnetresonanztomogramm (MRT) sichtbare Krankheitsaktivität. Die Anzahl der T2-Läsionen nahm im Vergleich zu Placebo signifikant um 91,9% ab (sekundärer Endpunkt; p<0,0001). Das Volumen hyperintenser T2-Läsionen nahm um 3,4% ab, während es im Placebo-Arm weiter um 7,4% anstieg (sekundärer Endpunkt; p<0,00001) [10].

Siponimod

Der Sphingosin-1-Phosphat-(S1P-)Rezeptor-Modulator Siponimod verringerte in einem Cuprizon-Maus-Modell der MS signifikant um 25 bis 40% den Myelinverlust, den Verlust reifer Oligodendrozyten und den axonalen Schaden im Vergleich zu einem neutralen Vehikel [9]. Siponimod wird derzeit in der Phase III bei Patienten mit sekundär progressiver MS (SPMS) geprüft [3].

GNbAC1

Ein weiterer vielversprechender Kandidat ist der humanisierte monoklonale Antikörper GNbAC1, der gegen das Hüllprotein (envelope protein; ENV) des Multiple-Sklerose-assoziierten Retrovirus (MSRV) gerichtet ist. Das Hüllprotein (ENV) dieses Virus wurde im Gehirn von MS-Patienten in unmittelbarer Nähe von Oligodendrozyten-Präkursorzellen (OPC) nachgewiesen, wo es durch Aktivierung von Toll-like Rezeptoren 4 (TLR4) zu einer Hemmung der oligodendrogliären Differenzierung führt [11].

Geprüft wird GNbAC1 bei Patienten mit PPMS, SPMS, aber auch bei schwer behandelbaren Patienten mit RRMS. Vorgestellt wurden Daten aus einer Phase-I-Dosisfindungsstudie (n=33) [11], einer Phase-IIa-Studie zur Sicherheit, der Pharmakokinetik und -dynamik (n=10) [10] sowie einer 12-monatigen Extensionsstudie. Sie zeigen ein gutes Sicherheitsprofil ohne kritische Signale über ein breites Dosisfenster, so die Autoren. Folgen soll eine 6-monatige Phase-IIb-Studie mit 260 Patienten mit 6-monatiger Extensionssphase [1, 12].

IRX4204

Dieser hochspezifische RXR-γ-Agonist befindet sich noch in der präklinischen Phase. IRX4204 stimulierte in einem In-vivo-Maus-Neuroprotektionsmodell die OPC-Differenzierung [13]. In Vancouver wurden neue Ergebnisse präsentiert, wonach die protektive Wirkung von IRX4204 durch die Kombination mit Schilddrüsenhormonen verstärkt werden kann. Im Cuprizon-Modell der Maus wurde durch die Kombination im Vergleich zu IRX4204 allein die Zahl durchtrennter Axone signifikant stärker verringert (–38,3% vs. –13,6%). Die Kombination mit Schilddrüsenhormonen führte darüber hinaus zu einer signifikanten Zunahme Myelin-produzierender Oligodendrozyten vs. IRX4204 allein. Die Studie wurde im Rahmen des amerikanischen National Multiple Sclerosis Society Fast Forward Program gefördert [14].

Indazol-Chlorid

Optische Neuropathien einschließlich der Optikusneuritis werden bei Mäusen mit experimenteller Autoimmunenzephalitis (EAE) und bei Patienten mit MS als Modell zum Nachweis remyelinisierender Effekte benutzt. Für den selektiven Estrogenrezeptor-β-Agonisten Indazol-Chlorid wurden im EAE- und im Cuprizon-Modell neben immunmodulatorischen Effekten auch direkte Effekte bei der Remyelinisierung im Vergleich zu einem neutralen Vehikel beschrieben. Es kam zu einer Reduktion der Entzündung der Retina und des N. opticus, die mithilfe der optischen Kohärenztomographie (OCT) oder der Verkürzung der Latenz visuell evozierter Potenziale (VEP) nachgewiesen werden konnte. OCT und VEP werden als mögliche Biomarker zum Nachweis demyelinisierender bzw. remyelinisierender Prozesse diskutiert [18].

Der Zebrafisch als Liebling der MS-Forscher

Mit dem Zebrafisch-Modell verfügt man jetzt über ein Tiermodell zur Erforschung der Myelinisierung bei neurodegenerativ verlaufenden Erkrankungen wie der MS. Einer seiner besonderen Vorteile ist laut Dr. Alexander McGown, Sheffield, dass sich therapeutische Effekte bereits innerhalb sehr kurzer Zeiträume von nur wenigen Tagen zeigen [12]. Zugleich ist es mithilfe des Zebrafisch-Modells möglich, Myelinisierungsvorgänge am lebenden Organismus zu visualisieren [9]. Wichtigster Vorteil des Zebrafisches gegenüber der Maus und anderen Säugetieren ist seine Fähigkeit, während seines gesamten Lebens durchtrennte Axone im ZNS wieder zu regenerieren. Das komplette Genom des Zebrafisches ist inzwischen bekannt. Erste Erkenntnisse zeigen, so McGown, dass für die initiale embryonale neuronale Myelinisierung offenbar andere Mechanismen verantwortlich sind als bei einer Remyelinisierung.

Quelle

Jahrestagung der American Academy of Neurology (AAN), Vancouver, 15. bis 21. April 2016.

Literatur

1. Curtin F, et al. AAN 2016, Abstract P3.048.

2. Dendrou CA, et al. Nat Rev Immunol 2015;15:545–58.

3. DSouza M, et al. AAN 2016, Abstract P2.112.

4. Dutta R & Trapp BD Neurology 2007;68: S22–S31 discussion S43–S54.

5. KhalafAllah MT AAN 2014, Abstract P5.205.

6. Kremer D, et al. Ann Neurol 2013;74:721–32.

7. Kremer D, et al. Trends Neurosci 2016;246–63.

8. McGown A, et al. AAN 2016, Abstract S2.001.

9. Mensch S, et al. Nat Neurosci 2015;18:628–30.

10. Montalban X, et al. AAN 2016, Abstract S49.001.

11. Montalban X, et al. ECTRIMS 2015; Abstract 2368.

12. Nye S, et al. AAN 2016, Abstract P3.043.

13. Sanders M, et al. AAN 2014, Abstract S14.006.

14. Sanders M, et al. AAN 2016, Abstract P5.406.

15. Shahien R, et al. AAN 2016, Abstract P2.157.

16. Steiner D, et al. AAN 2016, Emerging Science Platform Session 009.

17. Tiwari-Woodruff S, et al. AAN 2016, Abstract P5.325.

18. Tiwari-Woodruff S, et al. AAN 2016, Abstract P5.322.

Psychopharmakotherapie 2016; 23(05)