Klinisch relevante Behandlungsziele in der Therapie der Alkoholabhängigkeit


Erhebungen aus einem Delphi-Panel

Thomas Hillemacher, Hannover, Falk Kiefer, Mannheim, Stefan Bleich, Hannover, Uwe Schneider, Lübbecke, Helge Frieling, Uwe Albrecht, Hannover, und Wibke Flürenbrock, Hamburg

Ziel der Untersuchung: Mithilfe dieser Delphi-Panel-Erhebung sollte eine Gewichtung von Behandlungszielen in der Therapie der Alkoholabhängigkeit aus dem praktischen Alltag erhoben werden.
Methodik: Es wurde eine Delphi-Panel-Befragung von niedergelassenen Haus- und Fachärzten in Deutschland durchgeführt.
Ergebnisse: Die Therapieziele „Anzahl schwerer Trinktage (HDD)/Monat“ und „Durchschnittlicher Alkoholkonsum/Tag“ wurden signifikant wichtiger bewertet als die übrigen Therapieziele. Die „Reduktion der Mortalität/Jahr“ wurde als signifikant weniger relevant erachtet als die restlichen Therapieziele. Bei der Wahl zwischen zwei gleich wirksamen Behandlungsmethoden wäre für die meisten der befragten Ärzte der Wunsch des Patienten der entscheidende Faktor, die Kosten spielten die geringste Rolle.
Schlussfolgerung: Die Behandlungsziele „Anzahl schwerer Trinktage (HDD)/Monat“ und „durchschnittlicher Alkoholkonsum/Tag“ sind nach Einschätzung von niedergelassenen Haus- und Fachärzten klinisch relevante Behandlungsziele in der Therapie der Alkoholabhängigkeit.
Schlüsselwörter: Alkoholabhängigkeit, klinische Relevanz, Behandlungsziele, schwere Trinktage, Gesamt-Alkoholkonsum
Psychopharmakotherapie 2016;23:197–203.

Die negativen Folgen des übermäßigen Alkoholkonsums stellen ein schwerwiegendes und wachsendes Problem im öffentlichen Gesundheitswesen dar. Neben Bluthochdruck gehören Tabak- und Alkoholkonsum weltweit zu den drei führenden Risikofaktoren für die Entwicklung von Krankheiten [18]. Aber nicht nur gesundheitliche Schäden und eine erhöhte Mortalität gehören zu den Folgen von Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit, auch soziale Konsequenzen wie Gewalt oder familiäre Probleme werden in Zusammenhang mit dem Alkoholkonsum gebracht [6]. Dabei gehört Deutschland zu den Ländern mit dem höchsten Alkoholkonsum [12]. In einer Untersuchung in Deutschland im Jahr 2012 wurde bei 3,1% der befragten Testpersonen zwischen 18 und 64 Jahren ein Alkoholmissbrauch nach den Kriterien der DSM-IV und DSM-5 festgestellt. Weitere 3,4% der Befragten erfüllten die DSM-IV-Kriterien für Alkoholabhängigkeit [21]. Gleichzeitig wird nur ein kleiner Anteil der Alkoholkranken behandelt; in einer Untersuchung der World Health Organization (WHO) hatten Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit mit 78,1% den höchsten Anteil an unbehandelten Fällen unter allen psychischen Erkrankungen [15].

Die Abstinenz galt lange Zeit als der einzige Weg aus der Alkoholabhängigkeit und auch heute gilt dies noch als das finale Ziel bei der Behandlung von Alkoholerkrankungen. Aber bereits seit den 60er-Jahren wird auch über eine Reduktion des Alkoholkonsums als alternatives Therapieziel diskutiert [2, 16]. In einigen europäischen Ländern [10, 20] oder auch Australien ist die Konsumreduktion bereits seit einigen Jahren eine offizielle Alternative bei der Behandlung von Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit und seit 2014 ist auch in Deutschland die Reduktion des Alkoholkonsums ein anerkanntes Therapieziel [7]. Dies wird durch die aktuelle deutsche S3-Leitlinie zum Screening, zur Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen bestätigt, in der die Reduktion des Alkoholkonsums als weiteres Therapieziel aufgeführt wird [3].

Die beiden Behandlungsziele „Abstinenz“ und „Konsumreduktion“ müssen auch nicht im Widerspruch zueinander stehen, sondern können sich ergänzen. Für 10 bis 30% der Patienten, die die Behandlung mit einer Reduktion des Alkoholkonsums beginnen, wird dies zu einer Brücke hin zur Abstinenz [1, 13, 16].

In Deutschland werden die meisten alkoholabhängigen Patienten nicht von Suchtberatungsstellen, Selbsthilfegruppen oder Suchtfachkliniken erreicht, sondern von hausärztlich tätigen niedergelassenen Ärzten [16]. Hier gibt es Bedarf an Fortbildung bezüglich Diagnose und Therapie von Alkoholproblemen [4], aber dennoch haben Hausärzte eine Schlüsselposition auf diesem Gebiet; die meisten Behandlungen von Patienten mit Alkoholerkrankungen finden hier statt oder beginnen bei ihnen. Eine langjährige, vertrauensvolle Beziehung zwischen dem Patienten und seinem Hausarzt ist die beste Voraussetzung, um ein Alkoholproblem anzusprechen und eine Behandlung in Angriff zu nehmen. Es wäre daher interessant zu wissen, welche konkreten Therapieziele und Outcome-Kriterien bei der Behandlung von Alkoholerkrankungen für einen Arzt und seine Patienten in der alltäglichen Praxis relevant sind.

Für den deutschen Versorgungskontext existiert derzeit keine strukturierte Erhebung zur Relevanz von Behandlungszielen bei Alkoholabhängigkeit; daher wird unter Anlehnung an die Arbeit von Miller & Manuel [19] die hier vorgestellte Erhebung durchgeführt. Die deutschlandweite Befragung niedergelassener Ärzte versucht, oben genannte Lücke zu schließen und dabei auf das Erfahrungswissen dieser Ärztegruppe zuzugreifen. Folgende Fragestellungen standen im Vordergrund:

  • Welche Behandlungsziele sind in der Therapie der Alkoholabhängigkeit in Deutschland klinisch relevant?
  • Welche dieser Behandlungsziele sind besonders relevant, welche weniger?
  • Gibt es Faktoren, die die Wahl zwischen ansonsten gleichwertigen Behandlungsverfahren beeinflussen?
  • Welche Behandlungsziele sind aus Sicht der Patienten und Angehörigen relevant?

Methoden

Methodisches Vorbild für diese Untersuchung ist eine Veröffentlichung von Miller und Manuel aus dem Jahr 2008 mit dem Titel „How large must a treatment effect be before it matters to practitioners? An estimation method and demonstration“ [19]. In dieser Publikation wird eine Delphi-Umfrage zur klinischen Relevanz von Therapiezielen bei der Behandlung von Alkoholerkrankungen unter amerikanischen Suchtmedizinern vorgestellt. Auch bei der vorliegenden Untersuchung in Deutschland wurde eine Variation der Delphi-Methode [8] eingesetzt, die verwendet wird, wenn es um Sachverhalte geht, über die unsicheres bzw. unvollständiges Wissen existiert und das durch eine Gruppe von Experten beurteilt werden soll.

Ein unabhängiges Gremium von fünf Experten aus dem Bereich Suchtmedizin und Akutpsychiatrie, mit langjähriger wissenschaftlicher Tätigkeit in diesen Bereichen, stellte eine Liste von möglichen Behandlungszielen zusammen und erarbeitete einen Fragebogen, mit dessen Hilfe die vorgeschlagenen Behandlungsziele durch eine größere Gruppe von Experten beurteilt werden sollten. Die Erhebung der Daten erfolgte vor der Markteinführung von Nalmefen.

Für die Befragung wurden Ärzte aus allen 16 Bundesländern sowohl im städtischen als auch im ländlichen Milieu angeschrieben, um Verzerrungen durch regionsspezifische oder populationsbezogene Besonderheiten im Versorgungsverhalten zu verhindern. Grundlage für die Verteilung der anzuschreibenden Fachrichtungen der Ärzte waren die Daten der Gesundheitsberichterstattung des Bundes zu Alkoholkonsum und alkoholbezogenen Störungen [6]. Demnach werden in Deutschland die meisten Patienten mit Alkoholproblemen von niedergelassenen Allgemeinmedizinern, Internisten oder praktischen Ärzten, den klassischen Hausärzten, erreicht; die meisten Behandlungen finden hier statt oder beginnen zumindest bei ihnen. Weniger häufig sind niedergelassene Fachärzte auf Gebieten wie Neurologie oder Psychiatrie der erste Kontakt. Dementsprechend wurden zwei Drittel der 205 Fragebögen deutschlandweit an hausärztlich tätige niedergelassene Ärzte versandt und ein Drittel an Fachärzte aus dem Bereich Neurologie/Psychiatrie. Grundlage für die regionale Verteilung des Versands der Fragebögen war die Prävalenz der Alkoholabhängigkeit nach DSM-IV bzw. ICD 10 F10.2 nach Bundesländern (Berechnungen nach Pabst & Kraus 2008 [22]). Außer einer repräsentativen Auswahl der kontaktierten Ärzte bestanden keine steuernden Einflussmöglichkeiten auf die Verteilung der Rückläufer.

Folgende Informationen wurden abgefragt:

Teil 1. Ranking von klinisch relevanten Behandlungszielen

  • Anzahl der schweren Trinktage/Monat (HDD)
  • Durchschnittlicher Alkoholkonsum/Tag (TAC) in g Ethanol/Tag
  • Punktnüchternheit
  • Leberwerte
  • Fehltage/Monat (AU-Tage)
  • Häusliche und/oder berufliche Konfliktsituationen im Monat
  • Abstinente Tage/Monat
  • Reduktion der Mortalität pro Jahr

Teil 2. Behandlungsziel Ranking aus Sicht von Patienten und Angehörigen (eingeschätzt vom behandelnden Arzt)

  • Weniger schwere Trinktage
  • Geringere Durchschnittstrinkmenge
  • Weniger Terminversäumnisse
  • Stabilere Leistung am Arbeitsplatz
  • Weniger familiäre Streitereien
  • Bessere körperliche Gesundheit

Teil 3. Welcher Parameter entscheidet bei zwei ansonsten gleichwertigen Behandlungsverfahren?

  • Zeitaufwand
  • Kosten
  • Nebenwirkungen
  • Personeller Aufwand
  • Verfügbarkeit
  • Vereinbarkeit mit Patientenwunsch

Die Ärzte wurden gebeten, jeweils ein Ranking ohne Mehrfachnennung unter den Items der drei Listen vorzunehmen. Dabei ging es einerseits um mögliche Behandlungsziele, andererseits um Faktoren, die die Wahl der Behandlungsmethode beeinflussen. Bei der Auswertung erfolgte die Berechnung der Signifikanzschwellen nach Bonferroni-Holm [14], um bei den multiplen Tests eine Kumulation des Alpha-Fehlers zu vermeiden.

Zusätzlich wurden von den befragten Ärzten demographische Informationen erhoben: Alter, Geschlecht, Facharztbezeichnung, Zusatzbezeichnungen, Praxisstandort (Bundesland, ländlich/städtisch), Dauer der ärztlichen Tätigkeit, Dauer der suchtmedizinischen Tätigkeit. Ebenfalls erhoben wurden Informationen über Häufigkeit und Art der Erfahrung mit alkoholabhängigen Patienten in der Praxis, ob offene Gespräche über das Thema „Alkohol“ möglich sind, sowie Informationen über den sozioökonomischen Kontext der Patienten (Einkommensverhältnisse, Alter).

Ergebnisse

Die Rücklaufquote der Fragebögen betrug 24,8% (51 von 205 versendeten Bögen), wobei 32% der kontaktierten hausärztlich tätigen Allgemeinmediziner, Internisten und praktischen Ärzte antworteten, aber nur 10% der kontaktierten Fachärzte aus den Bereichen Neurologie/Psychiatrie. Für die Auswertung stellten die Antworten der hausärztlich tätigen Ärzte mit 90,6% aller Rückläufe den größten Pool dar, gegenüber 9,4% von den nervenärztlich tätigen niedergelassenen Fachärzten (Tab. 1).

Tab. 1. Erhebungsbogen-Rücklauf nach Facharztbezeichnung

Facharztbezeichnung

N

Anteil [%]

Allgemeinmedizin

45

84,9

90,6%

*+Allergologie

1

1,9

Innere Medizin

1

1,9

Praktischer Arzt

1

1,9

Psychiatrie/Psychotherapie

2

3,8

9,4%

Neurologie und Psychiatrie

3

5,7

Beim Rücklauf der Fragebögen waren alle Bundesländer vertreten, allerdings waren die Stadtstaaten, das Saarland, Schleswig-Holstein und Thüringen überrepräsentiert, während die einwohnerreichen Bundesländer Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen unterrepräsentiert waren (Tab. 2). Die Ärzte, die ihren Fragebogen zurücksandten, hatten ihre Praxis in etwa drei Viertel der Fälle in der Stadt und zu etwa einem Viertel in ländlichen oder intermediären Regionen.

Tab. 2. Erhebungsbogen-Rücklauf nach Bundesland

Bundesland

Anzahl Ärzte

Anteil [%]

Thüringen

6

11,8

Bayern

6

11,8

Hamburg

4

7,8

Berlin

4

7,8

Nordrhein-Westfalen

4

7,8

Schleswig-Holstein

4

7,8

Saarland

3

5,9

Brandenburg

3

5,9

Sachsen

3

5,9

Bremen

3

5,9

Hessen

3

5,9

Rheinland-Pfalz

2

3,9

Baden-Württemberg

2

3,9

Mecklenburg-Vorpommern

2

3,9

Sachsen-Anhalt

1

2,0

Niedersachsen

1

2,0

Summe

51

100

Über die Hälfte der hausärztlich tätigen Mediziner war zwischen 51 und 60 Jahre alt, ein Fünftel lag je darunter und darüber, der älteste Teilnehmer war 68 Jahre alt (Abb. 1). Die wenigen nervenärztlich tätigen niedergelassenen Ärzte waren im Schnitt jünger (Abb. 1). Das Durchschnittsalter aller Befragten lag bei 53,9 Jahren.

Abb. 1. Altersverteilung der teilnehmenden Ärzte

Die teilnehmenden Ärzte brachten meist langjährige Berufserfahrung in die Untersuchung ein; im Durchschnitt waren es 25,5 Jahre ärztlicher Tätigkeit (Tab. 3). Die suchtmedizinische Erfahrung der Befragten betrug durchschnittlich 15,6 Jahre und 29,4% der Befragten gaben an, in Praxis oder Klinik Substitutionstherapien für Opiatabhängige betreut zu haben. Die überwiegende Mehrheit (90%) aller befragten Ärzte berichtete, täglich oder mehrmals wöchentlich alkoholabhängige Patienten in ihrer Praxis zu haben. Allerdings hatten nur etwa 30% der Befragten eine für die Behandlung von Alkoholkranken relevante Zusatzbezeichnung (suchtmedizinische Grundversorgung, Psychosomatik). Das therapeutische Verhältnis zu den Patienten mit Alkoholproblemen wurde als meist gut (86%) beschrieben, mit der Möglichkeit, offene Gespräche über diese Probleme zu führen. Mit 65% wurden überwiegend Patienten, die dem unteren Mittelstand angehören, behandelt. Der Anteil an Patienten des gehobenen Mittelstands war mit 4% eher gering.

Tab. 3. Erfahrung der Ärzte

Erfahrung

Mittelwert (Standardfehler) bzw. %

Jahre als Arzt tätig

25,5 (1,1)

Jahre als Suchtmediziner tätig

15,6 (1,5)

Ärzte, die Substitutionstherapie für Opiatabhängige betreuen

29,4%

Tägliche bzw. mehrmals wöchentliche Betreuung von alkoholabhängigen Patienten

90%

Ärzte mit relevanter Zusatzbezeichnung

30%

Abbildung 2 zeigt die Bewertung der verschiedenen Behandlungsziele bei der Reduktion des Alkoholkonsums. Für die befragten Ärzte hatten die Anzahl der schweren Trinktage (HDD) pro Monat und der durchschnittliche Alkoholkonsum pro Tag (TAC) die größte Bedeutung, während die Reduktion der Mortalität eine untergeordnete Rolle spielte. Berechnet man die Signifikanzschwellen, ergibt sich folgende Einordnung: HDD und TAC sind hochsignifikant die Spitzenreiter unter allen Kriterien, untereinander besteht aber kein signifikanter Unterschied. Mortalität ist signifikant weniger relevant als die anderen Kriterien, mit Ausnahme der Leberwerte. Die mittlere Kriterien-Gruppe zeigt signifikante Unterschiede gegenüber HDD/TAC sowie gegenüber der Mortalität aber nicht untereinander.

Eine Subgruppenanalyse der nervenärztlich und hausärztlich tätigen Ärzte zeigte keinen wesentlichen Unterschied bei der Beurteilung der Behandlungsziele zwischen diesen beiden Gruppen (Abb. 3).

Abb. 2. Ranking der Behandlungsziele (Mittelwerte und 95%-Konfidenzintervall in positiver Richtung). Gruppe 1: HDD und TAC; Gruppe 2: Punktnüchternheit, AU-Tage, häusliche Konflikte und abstinente Tage; Gruppe 3: Leberwerte und Mortalität. HDD: Anzahl der schweren Trinktage pro Monat; TAC: durchschnittlicher Alkoholkonsum pro Tag; *p0,05 gegenüber den übrigen Kriteriengruppen

Abb. 3. Ranking nach Haus- und Fachärzten getrennt (Mittelwerte und 95%-Konfidenzintervall in positiver Richtung)

Unterschiede bei der Bewertung der Behandlungsziele ergeben sich, wenn man Ärzte mit unterschiedlich langer Berufserfahrung (unter oder über 21 Jahre) betrachtet. Aber auch bei dieser Unterteilung halten beide Gruppen HDD und TAC für die wichtigsten Behandlungsziele und Mortalität für das Unwichtigste (Abb. 4).

Abb. 4. Einfluss der Berufserfahrung auf das Ranking (Mittelwerte und 95%-Konfidenzintervall)

Für die Einschätzung unterschiedlicher Behandlungsziele aus Sicht der Patienten und ihrer Angehörigen wurden die Ziele im Teil 2 der Befragung etwas anders formuliert als in Teil 1; Labormesswerte für die Leberfunktion entfielen. Aus Gesprächen mit ihren Patienten ergibt sich für die befragten Ärzte, dass für den Patienten eine stabilere Leistung am Arbeitsplatz die oberste Priorität hat, allerdings gleich gefolgt von einer Reduktion der HDD. Die körperliche Gesundheit und TAC spielen untergeordnete Rollen (Abb. 5). Für den Partner eines alkoholkranken Patienten ist nach Ansicht der befragten Ärzte „weniger familiäre Streitereien“ das wichtigste Behandlungsziel, auch hier gilt die „bessere körperliche Gesundheit des Patienten“ als nicht so wichtig (Abb. 6).

Abb. 5. Relevante Behandlungsziele für den Patienten (nach Einschätzung des Arztes) (Mittelwerte und 95%-Konfidenzintervall in positiver Richtung)

Abb. 6. Relevante Behandlungsziele für den Lebenspartner (nach Einschätzung des Arztes) (Mittelwerte und 95%-Konfidenzintervall in positiver Richtung)

Bei der Wahl zwischen zwei gleich wirksamen Behandlungsmethoden wäre für die meisten der befragten Ärzte der Wunsch des Patienten der entscheidende Faktor, die Kosten spielten die geringste Rolle (Abb. 7).

Abb. 7. Parameter, die die Relevanz von Behandlungsverfahren beeinflussen (Mittelwerte und 95%-Konfidenzintervall in positiver Richtung)

Diskussion

Die teilnehmenden Ärzte brachten eine hohe Anzahl von Jahren ärztlicher Tätigkeit in die Untersuchung ein, im Durchschnitt waren es 25,5 Jahre; bei der suchtmedizinischen Erfahrung waren es durchschnittlich 15,6 Jahre. Ihre Einschätzung der Relevanz verschiedener Therapieziele dürfte somit praxisorientiert sein, da sie auf langjähriger Berufserfahrung und der Behandlung sehr vieler Patienten mit Alkoholproblemen beruht. Bei den zurückgesendeten Fragebögen waren die Stadtstaaten, das Saarland, Schleswig-Holstein und Thüringen überrepräsentiert, während die einwohnerreichen Bundesländer Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen unterrepräsentiert waren. Die Praxen lagen in etwa drei Viertel der Fälle in der Stadt und zu etwa einem Viertel in ländlichen oder intermediären Regionen. Dies liegt wahrscheinlich an dem hohen Anteil von Rückläufern aus den Stadtstaaten. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes leben derzeit 89% der Bevölkerung Deutschlands in Städten und Ballungsgebieten [11], sodass die Anteile der Rückläufer aus den städtischen bzw. ländlichen Regionen dem Trend entsprechen dürften.

Interessant war die Aussage der befragten Ärzte über ihr therapeutisches Verhältnis zu den Patienten mit Alkoholproblemen: Zu 86% wurde das Verhältnis als gut beschrieben, mit der Möglichkeit, auch offen über diese Probleme zu sprechen. Einen Hinweis gibt möglicherweise eine Publikation von Schomerus et al. (2014) [24], in der untersucht wurde, ob und wie sich die Einstellung gegenüber Alkoholikern in Deutschland zwischen 1990 und 2011 geändert hat. Die Autoren stellten fest, dass die Stigmatisierung Alkoholabhängiger seit 1990 nachgelassen hat. Dies betrifft nicht so sehr Personen, die aktuell unter Alkoholproblemen leiden; vielmehr hat sich das Image von Menschen verbessert, die eine Behandlung gegen Alkoholabhängigkeit durchlaufen haben. Gleichzeitig macht sich eine optimistischere Einstellung gegenüber der professionellen Behandlung von Alkoholerkrankungen bemerkbar [24]. Diese Tendenz dürfte sich auch in der Hausarztpraxis widerspiegeln.

Die besondere Rolle des Hausarztes bei der Behandlung von Alkoholkranken wurde auch deutlich in einer Umfrage unter Patienten mit Alkoholproblemen in amerikanischen Hausarztpraxen [17]. Hier gab es eine hohe Bereitschaft, sich behandeln zu lassen. Bei der Frage nach der bevorzugten Behandlungsmethode schnitten die von Ärzten am häufigsten empfohlenen Methoden – von Experten geleitete Gruppentherapie oder Mitgliedschaft bei den anonymen Alkoholikern – am schlechtesten ab. Die Mehrheit der Patienten wollte primär von ihrem Hausarzt behandelt werden. Ob in Deutschland oder in den USA: Ein persönliches Problem zugeben, das mit einem Stigma behaftet ist, und in Angriff nehmen setzt Vertrauen voraus. Der Hausarzt ist daher der Ansprechpartner bei diesem Vorhaben, zumindest für diejenigen Alkoholkranken, die in relativ geordneten Verhältnissen leben und regelmäßig Kontakt zu einem Hausarzt haben. Umgekehrt gaben die Hausärzte in einer Befragung in Deutschland an, dass sie die Prävention und Behandlung von Alkoholproblemen als ihre Verantwortung ansehen, beklagten allerdings ihre mangelnde Ausbildung auf diesem Gebiet [5]. Dies spiegelt sich auch in der vorliegenden Untersuchung wider: Nur etwa 30% der Befragten in der Studie hatten eine Zusatzbezeichnung, die auf eine spezifische Ausbildung bezüglich Alkoholprobleme bzw. Suchtbehandlung allgemein schließen lässt.

Sowohl Hausärzte, ob mit langer oder kürzerer Berufserfahrung, als auch niedergelassene Fachärzte der Richtungen Neurologie oder Psychiatrie waren sich einig, welche Behandlungsziele sie für relevant halten: die Anzahl der schweren Trinktage (HDD) pro Monat und den durchschnittlichen Alkoholkonsum pro Tag. Das ebenfalls eindeutige schlechte Abschneiden des möglichen Behandlungsziels „Reduktion der Mortalität pro Jahr“ ist nicht erstaunlich. Dies ist eine Größe, die eher im Zusammenhang mit statistischen Untersuchungen über lange Zeiträume und mit vielen Patienten interessant wird.

Bei der Wahl zwischen zwei gleich wirksamen Behandlungsmethoden wäre für die meisten der befragten Ärzte der Wunsch des Patienten der entscheidende Faktor, die Kosten spielten die geringste Rolle. Im Ergebnis der Befragung spiegelt sich eine wichtige Erkenntnis der letzten Jahrzehnte wider, nämlich die Bedeutung einer patientenorientierten Therapie („patient-centered care“). Es hat sich gezeigt, dass die Behandlungsergebnisse positiv beeinflusst werden, wenn die Patienten eine Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Verfahren haben und die Therapie mitgestalten können, insbesondere auch in der Suchttherapie [9, 23]. Bei einer Subgruppenanalyse zeigte sich, dass für die hausärztlich tätigen Ärzte auch der Zeitfaktor ein wichtiges Kriterium ist. Dies ist sicherlich ein Faktor, der nicht nur bei der Behandlung von Alkoholerkrankungen mitspielt, sondern ein generelles Problem in der Hausarztpraxis darstellt.

Aus Sicht der befragten Ärzte ist für die Patienten selbst zwar HDD auch ein interessantes Therapieziel, aber an erster Stelle stehen für die Patienten und ihre Lebenspartner Ziele aus dem Alltagsleben, die zwar indirekt mit HDD in Beziehung stehen, aber weniger abstrakt sind: „Stabilere Leistung am Arbeitsplatz“ für den Patienten selbst und „weniger häusliche Streitereien“ für die Partner.

Insgesamt herrscht unter den befragten niedergelassenen Ärzten große Einigkeit darüber, was relevante Ziele bei der Behandlung von Alkoholerkrankungen im Praxisalltag sind: Die Verringerung der Anzahl schwerer Trinktage pro Monat und des durchschnittlichen Alkoholkonsums pro Tag. Hier handelt es sich um zwei relativ leicht quantifizierbare Kriterien, die Mitarbeit des Patienten vorausgesetzt, die sich sowohl für eine Abstinenz-orientierte Behandlung eignet als auch für eine Therapie mit dem Ziel der Konsumreduktion. Dies sind Outcome-Kriterien, die bereits einen festen Platz in der klinischen Forschung haben; so decken sie sich auch mit den zwei Outcome-Kriterien, die in der europäischen Richtlinie für die Durchführung klinischer Studien mit Arzneimitteln zur Reduktion des Alkoholkonsums vorgeschrieben werden: entweder die Anzahl der Tage mit starkem Alkoholkonsum („Heavy drinking days“, HDD) oder die Gesamtmenge des konsumierten Alkohols [10]. Die von den Ärzten formulierten primären Behandlungsziele bei Alkoholerkrankungen im Praxisalltag sind somit konform mit Zielen, wie sie auch in der klinischen Forschung verwendet werden. Die von den Patienten und ihren Lebenspartnern geäußerten Ziele weichen in ihrer Priorisierung davon ab.

Fazit für die Praxis

  • Hausärzte spielen eine wichtige Rolle bei der Behandlung von Alkoholkranken.
  • Die Verringerung der Anzahl schwerer Trinktage pro Monat und die Reduktion des durchschnittlichen Alkoholkonsums pro Tag sind für die Ärzte die wichtigsten Ziele bei der Behandlung von Alkoholkranken.
  • Für die Patienten ist aus Sicht der Ärzte das Erreichen einer stabileren Leistung am Arbeitsplatz das wichtigste Ziel.
  • Der Wunsch des Patienten sollte bei der Wahl der Behandlungsmethode berücksichtigt werden.

Danksagung

Die Delphi-Panel-Erhebung wurde dankenswerterweise von der Lundbeck GmbH gefördert. Die Autoren danken der Mediconomics GmbH für die Organisation und die statistische Auswertung.

Interessenkonflikterklärung

T. Hillemacher ist Mitglied in einem Beratergremium für Lundbeck und erhielt Honorare und Zuwendungen von den Firmen Servier, Otsuka, Lundbeck, Bristol-Myers Squibb, Merz und Desitin. Zudem war er für die Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie und Pharmakopsychiatrie (AGNP) an der Leitlinienentwicklung tabak- und alkoholbezogene Störungen beteiligt.

F. Kiefer erhielt Vortrags- und Beraterhonorare, Unterstützung für Forschungsvorhaben und Erstattungen für Reisekosten für Fortbildungsveranstaltungen.

S. Bleich erhielt Honorare von Lundbeck und Servier.

U. Schneider erhielt ein Beraterhonorar von Lundbeck und es wurden Reisekosten erstattet.

H. Frieling erhält Berater- bzw. Vortragshonorare von Lundbeck GmbH, Oberberg GmbH, Trommsdorff GmbH, Janssen-Cilag GmbH, Otsuka GmbH und Servier Deutschland GmbH.

U. Albrecht erhält als Dienstleister der pharmazeutischen Industrie Vertragshonorare.

W. Flürenbrock ist Mitarbeiterin der Firma Lundbeck.

Literatur

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Prof. Dr. med. Thomas Hillemacher, Medizinische Hochschule Hannover, Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie, Carl-Neuberg-Straße 1, 30625 Hannover, E-Mail: Hillemacher.thomas@mh-hannover.de

Prof. Dr.med. Falk Kiefer, Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim

Prof. Dr. med. Stefan Bleich, Prof. Dr. med. Helge Frieling, Medizinische Hochschule Hannover, Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie, Carl-Neuberg-Straße 1, 30625 Hannover

Prof. Dr. med. Uwe Schneider, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ruhr Universität Bochum, Lübbecke

Dr. med. Uwe Albrecht, Mediconomics GmbH, Hannover

Dr. med. Wibke Flürenbrock, Hamburg

Clinically relevant treatment goals in the therapy of alcohol dependence. Results from a Delphi Panel

Objective: On the basis of this Delphi panel survey a ranking of outcome parameters in the treatment of alcohol dependence in clinical practice was planned.

Method: A Delphi panel survey with primary care physicians and specialists in Germany was performed.

Results: The treatment goals “number of heavy drinking days (HDD)/month” and “total alcohol consumption (TAC)/day” were regarded as significantly the most relevant goals; “reduction in mortality/year” was significantly the least relevant goal. When choosing between otherwise equally efficient treatment methods most physicians would consider the patients’ choice as the most relevant and the costs as the least relevant factor.

Conclusion: The outcome parameter “number of heavy drinking days (HDD)/month” and “average alcohol consumption/day” are clinical relevant outcome parameter in the treatment of alcohol dependence.

Key words: Alcohol dependence, clinical relevance, outcome parameter, heavy drinking days, total alcohol consumption

Psychopharmakotherapie 2016; 23(05)