Eine Lanze für innovative Therapieansätze aus der klinischen Praxis


Prof. Dr. Walter E. Müller, Worms/Frankfurt a.M.

Auf der 54. Jahrestagung der ACNP (American College of Neuropsychopharmacology), der hochangesehenen amerikanischen Gesellschaft für experimentelle und klinische Psychopharmakologie im Dezember letzten Jahres fand ich im Programm ein halbtägiges Symposium über Massage als Therapie von Angst und Depressivität. Trotz meiner sehr kritischen, um nicht zu sagen ablehnenden Haltung habe ich mir die Vorträge angehört. Ich bin zwar immer noch nicht ganz überzeugt, muss aber zugeben, dass in diesem Konzept wahrscheinlich doch mehr steckt als reine Placebo-Wirkung, auch wenn dem Pharmakologen präklinische Erklärungsansätze fehlen. Ich werde trotzdem dieses Therapiekonzept weiter kritisch verfolgen, sicher aber mit einem etwas geänderten Blickwinkel.

Ähnlich ging es mir vor einigen Jahren, als ich auf der gleichen Tagung zum ersten Mal einen Beitrag fand über den möglichen Einsatz von Botulinumtoxin-Injektionen in der Behandlung depressiver Störungen. Auch hier war ich zweifelnd, konnte aber das Poster ausführlich mit dem präsentierenden Autor diskutieren. Ich war überrascht über die Qualität der Daten und musste auch hier meine Skepsis zurücknehmen.

Die Forschung zu Botulinumtoxin als Antidepressivum ist in der Zwischenzeit deutlich weitergekommen und so können Krüger et al. in ihrem Beitrag im vorliegenden Heft eine Reihe von kontrollierten Studien zu diesem Thema zusammenfassen, die bei aller gebührenden Vorsicht ein therapeutisches Potenzial von Botulinumtoxin bei der Depression möglich erscheinen lassen. Auch hier sind mögliche pharmakologische Grundlagen noch sehr vage.

Beide Konzepte zeigen, dass auch ohne ein klares präklinisches Konzept wichtige Anregungen aus der klinischen Anwendung kommen können. Dies ist eigentlich banal, denn sehr viele unserer Psychopharmaka gehen auf solche Erfahrungen zurück und nicht auf eine rationale präklinische Entwicklung. Ähnliche Erkenntnisse drohen in der heutigen Zeit verloren zu gehen, wo von vielen meiner molekularbiologisch getriebenen Kollegen das klare molekulare Target als wesentliches Kriterium erachtet wird. Die Debakel mit der fehlenden klinischen Wirksamkeit von extensiv experimentell untersuchten neuen Entwicklungen Glutamat-Rezeptor Liganden in der Behandlung der Schizophrenie oder Beta-Amyloid-gerichteten Therapiekonzepten bei der Alzheimer-Demenz sind dafür Beispiele.

Kurz erwähnt werden soll noch, dass selbst wenn eine solche Innovation die erste Hürde passiert, sie wahrscheinlich von einer rein biostatistisch getriebenen Nutzen-Bewertung ausgebremst wird.

Dass die Anwendung praktisch aller Antidepressiva mit dem Hinweis auf eine mögliche eingeschränkte Verkehrssicherheit verbunden sein soll, ist in allen Fachinformationen nachzulesen, was zu Problemen bei der Initiierung einer antidepressiven Therapie führen kann. Dies geht bei vielen neueren, eher nicht sedierenden Antidepressiva meist nicht auf gute Daten zurück, sondern häufig nur auf Analogschlüsse. Wie wichtig aber auch hier der klinische Befund ist, zeigt der Beitrag von Brunnauer et al. über eine Studie zur Einschränkung der Verkehrssicherheit unter der Behandlung mit Agomelatin oder Venlafaxin. Am deutlichsten beeinträchtigt in verschiedenen Tests waren hier die unbehandelten Patienten, deren Leistungseinschränkung sich unter der Behandlung mit beiden Substanzen aber deutlich besserte, sodass nach vier Wochen Therapie beide Behandlungsgruppen fast so gut abschnitten wie die gesunde Kontrollgruppe. Ergo, ein mögliches Problem sind sicher eher unbehandelte als mit den untersuchten Substanzen adäquat behandelte Patienten, was man mit Ausnahme deutlich sedierender Substanzen wahrscheinlich auch auf viele andere Antidepressiva übertragen kann.

Einen ganz anderen Bereich primär klinischer Ansätze für die Therapieoptimierung zeigt die Arbeit von Ehlers et al. zur Behandlung fortgeschrittener Parkinson-Patienten mit Levodopa/Carbidopa über eine gastrointestinale Sonde: Es ließen sich deutliche Verbesserungen der On-off-Problematik und ein Gewinn an Lebensqualität für die Patienten belegen.

Zwei Kurzbeiträge über eine seltene UAW (Somnambulismus) unter Olanzapin und über mögliche pharmakokinetische Interaktionen von Reserve-Antikonvulsiva sowie einige Literatur- und Veranstaltungsberichte runden den Inhalt des Hefts ab.

Wir Herausgeber hoffen, dass wir auch im ersten Heft des 23. Jahrgangs unserer PPT wichtige und relevante Informationen zur Psychopharmakotherapie geben können.

Psychopharmakotherapie 2016; 23(01)