Prof. Dr.med. Drs.h.c. Hans-Jürgen Möller, München
Die Benennung von Psychopharmaka hat sich seit Einführung der ersten Vertreter dieser Wirkstoffklasse entwickelt. Sie ist vielen, nicht nur Ärzten, inzwischen sehr vertraut, aber unter zahlreichen Aspekten nicht mehr zeitgemäß. Sie richtet sich in der Regel nach der zuerst zugelassenen Indikation für das jeweilige Medikament, und so kennen wir Antidepressiva, Antipsychotika, Anxiolytika etc. und gegebenenfalls zusätzliche Charakterisierungen, zum Beispiel in Hinblick auf die Strukturformel trizyklisch, aber meist nicht nach den Wirkungsmechanismen. Diese historisch gewachsene Nomenklatur wird dem durch die enormen Forschungsanstrengungen der letzten Jahrzehnte gewachsenen neurobiologischen Wissen nicht mehr gerecht und ist obendrein auch im klinischen Alltag nicht mehr zweckmäßig. Manche traditionell fest verankerte Begriffe wie Neuroleptikum sind obendrein in ihrem Bedeutungsgehalt für viele nicht unmittelbar erschließbar, andere sind in ihrer Definition unklar, zum Beispiel atypische Neuroleptika oder Antipsychotika der zweiten Generation.
Im klinischen Alltag entstehen schon seit langem Probleme dadurch, dass Psychopharmaka häufig im Laufe ihrer weiteren klinischen und wissenschaftlichen Evaluierung zusätzlich zur ursprünglichen Indikation weitere Indikationen erhalten haben. So wirken viele Antidepressiva, beispielsweise die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (selective serotonin reuptake inhibitors =SSRI), auch bei Angsterkrankungen und Antipsychotika nicht nur bei schizophrenen Erkrankungen, sondern auch bei Manien und gegebenenfalls bei bipolaren Depressionen (Depressionen im Rahmen manisch-depressiver Erkrankungen). Andere Psychopharmaka haben zwar keine offizielle weitere Indikation erreicht, werden aber aufgrund ihres pharmakologischen Profils und vorhandener orientierender klinischer Erfahrungen als Medikamente angesehen, die neben der offiziell zugelassenen Indikation auch noch eine Wirksamkeit hinsichtlich anderer Syndrome haben. Man könnte fast sagen, dass es häufig eine relativ willkürliche beziehungsweise nach außerwissenschaftlichen Gesichtspunkten getroffene Entscheidung einer pharmazeutischen Firma ist, ob zum Beispiel eine Substanz mit einem für ein Antipsychotikum charakteristischen pharmakologischen Wirkungsmechanismus primär in der Indikation Schizophrenie/psychotische Erkrankung entwickelt wird oder ob man primär und möglicherweise ausschließlich die Indikation Manie/bipolare Erkrankung anstrebt. Besonders kompliziert wird es, wie im Fall von Asenapin, wenn ein Psychopharmakon in den USA die Indikationen Schizophrenie und Manie hat, in Europa aber nur die Indikation Manie.
Im klinischen Alltag ergibt sich dadurch die insbesondere für den Patienten zu Missverständnissen führende Situation, dass zum Beispiel ein Patient, der an einer Angsterkrankung leidet, ein Medikament erhält, das als Antidepressivum bezeichnet wird, was den Patienten verwirrt. Oder ein Patient mit einer therapieresistenten Depression bekommt zusätzlich zum Antidepressivum ein Antipsychotikum (sogenannte Add-on- oder Augmentationstherapie), um ein besseres therapeutisches Ansprechen zu erreichen. Die Tatsache, dass der Patient ein Antipsychotikum erhält, lässt ihn vermuten, dass er nun eine viel schlimmere Erkrankung hat als „nur“ eine Depression. Diese und viele andere Probleme lassen sich vermeiden, wenn man Psychopharmaka nicht indikationsbezogen benennt, sondern nach ihren pharmakologischen Wirkungsmechanismen, wie dies zum Beispiel auch in der internistischen Hypertonie-Therapie der Fall ist.
Im Fall der SSRI ist das besonders einfach, weil die Bezeichnung bereits den Wirkungsmechanismus kennzeichnet. Bei anderen Psychopharmaka mit komplexeren Wirkungsmechanismen ist das komplizierter, aber trotzdem machbar.
Eine Expertengruppe, die in Kooperation mit verschiedenen internationalen psychopharmakologischen Fachgesellschaften einberufen wurde, hat nach mehrjähriger Arbeit ein Buch (J. Zohar, S. Stahl, H.-J. Möller et al.: Neuroscience based Nomenclature, Cambridge University Press 2014) vorgelegt, in dem eine solche, auf pharmakologischen Wirkungsmechanismen basierende neue Nomenklatur der Psychopharmaka beschrieben wird. Dieser Ansatz wurde von Teilnehmern verschiedener nationaler und internationaler Fachkongresse, zum Beispiel im Rahmen der letzten Kongresse des ECNP und des CINP, wie auch von den Herausgebern mehrerer internationaler psychopharmakologischer Zeitschriften, die im Rahmen des ECNP-Kongresses 2014 (Berlin) eingeladen worden waren, mit großem Interesse aufgenommen. Das Buch soll die Basis geben für eine Erprobung der neuen Nomenklatur im klinischen und wissenschaftlichen Alltag und für kritische Anregungen und Diskussionen, unter anderem im Internet und mit einer entsprechenden App. Auf diese Weise soll dieser Nomenklatur-Vorschlag kontinuierlich weiterentwickelt werden und unter anderem an die Bedürfnisse der klinischen Praxis angepasst werden. Wie immer wird es sicherlich nicht leicht werden, die traditionellen Pfade zu verlassen. Ich glaube aber, dass sich die Mühe lohnt.
Psychopharmakotherapie 2015; 22(03)