Prof. Dr. Hans-Jürgen Möller, München
Die Nationale Versorgungsleitlinie zur Behandlung depressiver Patienten in Deutschland (DGPPN et al. 2009) empfiehlt bei Patienten mit mittelgradiger depressiver Episode eine Antidepressiva-Behandlung oder eine Psychotherapie. Bei schwerer depressiver Episode wird eine Kombinationsbehandlung mit Antidepressivum und Psychotherapie empfohlen. Dort werden drei Formen der Abfolge dargestellt:
Bezüglich der Akutbehandlung depressiver Patienten wird in der Leitlinie auf der Basis von Übersichtsarbeiten und Metaanalysen generell kein zusätzlicher Effekt auf der Ebene der Symptomreduktion durch die Kombination mit einer Psychotherapie gesehen, lediglich Zusatzeffekte in anderen Bereichen (Compliance, soziale Anpassung, geringeres Rezidivrisiko). Für spezielle Subgruppen wird hingegen ein Zusatzeffekt einer Kombinationstherapie auch in der Symptomreduktion gesehen. So werden signifikante additive Effekte einer Kombinationstherapie gegenüber einer alleinigen Psychotherapie bei schwerer Depression oder einer Kombinationstherapie gegenüber einer alleinigen Pharmakotherapie bei chronisch depressiven Patienten festgestellt.
Therapie-Leitlinien sind keine Richtlinien und sind somit nicht verpflichtend. Schon deshalb können sie nicht als Indikator für die Realität der Versorgung angesehen werden. Sie geben einen als ideal angesehenen Korridor von Entscheidungsmöglichkeiten an, in dem sich der therapeutisch tätige Arzt oder Psychologe in seinen therapiebezogenen Entscheidungen bewegen kann, wobei aber nicht alle Optionen maximal auszuloten oder gar zu realisieren sind. Einschränkungen sind unter anderem dadurch bedingt, dass beispielsweise ein psychotherapeutisches Behandlungsangebot nicht überall verfügbar (u.a. Stadt-Land-Gefälle in der Psychotherapeuten-Dichte, generelles Missverhältnis zwischen Bedarf und Angebot) und meistens nicht umgehend zu realisieren ist. Im Gegensatz zu medikamentösen Maßnahmen sind psychotherapeutische Maßnahmen obendrein in weit größerem Umfang von Kompetenz und Motivation des Patienten abhängig. Auch sind ökonomische Grenzen zu berücksichtigen: Durchschnittlich ist eine psychotherapeutische Behandlung viel kostenaufwendiger als eine Antidepressiva-Behandlung. Ein Maximalangebot für jeden Patienten würde die personellen und institutionellen Ressourcen des Versorgungssystems sowie den Finanzierungsrahmen der Krankenkassen sprengen. Somit geht es um einen sinnvollen Indikations- und Selektionsprozess.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwieweit die Empfehlungen der Nationalen Versorgungsleitlinie Depression zur Einbeziehung von Psychotherapie in der ambulanten Behandlung depressiver Patienten der deutschen Versorgungsrealität entsprechen. Dazu gibt es nur relativ wenige Angaben, insbesondere aus neuerer Zeit. Nach Angaben der kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) nahmen Ende 2010 rund 13800 psychologische Psychotherapeuten an der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung teil. Die Anzahl der im Erwachsenenbereich psychotherapeutisch tätigen Ärzte wurde mit 5420 von insgesamt 138472 angegeben. Die psychotherapeutischen Praxen sind bundesweit sehr stark überlaufen. Monatlich fragen – so eine Fragebogen-Studie der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK 2011) – durchschnittlich 17,7 Patienten pro Psychotherapeut nach einer psychotherapeutischen Behandlung. Die ambulanten Psychotherapeuten können im Monat durchschnittlich je 4,2 Erstgespräche anbieten, das heißt, dass nur für knapp jede vierte Anfrage ein psychotherapeutisches Erstgespräch erfolgen kann. 51,6% der Patienten, denen ein Erstgespräch angeboten wird, nehmen danach keine Behandlung auf. Angesichts dieser Zahlen muss von einer Unterversorgungssituation hinsichtlich der ambulanten Psychotherapie, jedenfalls in bestimmten Regionen für bestimmte Psychotherapien für bestimmte Subgruppen, ausgegangen werden. Eine schnelle Verfügbarkeit und umgehende Therapierealisierung wird zusätzlich durch die Notwendigkeit der Durchführung eines Antragsverfahrens zur Kostenerstattung im Rahmen der GKV bzw. analoger Genehmigungsverfahren der PKV limitiert.
Die Indikations- und Selektionsprozesse, welche die Realität der therapeutischen Versorgung depressiver Patienten kennzeichnen, sind aber nicht nur durch die Konfigurationen des Versorgungssystems bedingt, sondern auch durch unterschiedliche Vorgehensweisen und Präferenzen des an Depression leidenden Patienten sowie die Vorgehensweisen und Entscheidungsprozesse von Ärzten und Psychotherapeuten. Dabei spielt die primäre Anlaufstelle im Versorgungssystem eine große Rolle dafür, ob zuerst ein psychopharmakologisches oder ein psychotherapeutisches Behandlungsangebot gemacht wird.
Daten zur Inanspruchnahme des Versorgungssystems bei psychischen Erkrankungen liefert eine Studie auf der Basis der patientenbezogenen Versorgungsdaten von drei Ersatzkassen in Deutschland (DAK, KKH, HKK) aus den Jahren 2005 bis 2007 an insgesamt über drei Millionen Patienten mit psychischen Erkrankungen zum Index-Zeitpunkt, darunter 110462 Patienten mit schwerer Depression (Gaebel et al., in press). Von 524 Patienten mit schwerer Depression lagen Versorgungsverläufe vor. Es zeigte sich, dass die Versorgung bei niedergelassenen Allgemeinärzten oder Fachärzten somatischer Disziplinen, teilweise in Kombination mit psychiatrisch-nervenärztlicher Versorgung, dominierte. Die initiale Versorgung zu Beginn des Beobachtungszeitraums (Index-Versorgung) erfolgt überwiegend (74%) bei einem Arzt für Allgemeinmedizin oder einem Facharzt einer somatischen Fachrichtung.
Aus den komplexen Datensätzen wurden von den Autoren fünf vorrangige Behandlungspfade errechnet: ambulanter Allgemeinarzt/somatischer Facharzt ohne Wechsel, ambulanter Psychiater ohne Wechsel, ambulanter Allgemeinarzt/somatischer Facharzt zu ambulantem Psychiater, ambulanter Psychiater zu ambulantem Allgemeinmediziner/somatischem Facharzt, ambulanter Allgemeinmediziner/somatischer Facharzt zu stationär psychiatrischer Fachabteilung. Diese Versorgungspfade betreffen 77,5% der Patienten.
Im ambulanten Bereich ist in der Akutphase der mittelschweren und schweren Depression die alleinige medikamentöse Therapie wesentlich häufiger, Psychotherapie allein oder in Kombination spielt eine wesentlich geringere Rolle. Eine vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) durchgeführte Expertenbefragung ergab, dass im deutschen Versorgungsalltag lediglich etwa 10% der depressiven Patienten in der Akutbehandlung eine begleitende Psychotherapie bekommen.
Nach einer im Jahr 2011 durchgeführten Erhebung der Bundespsychotherapeutenkammer betrug die Wartezeit für ein psychotherapeutisches Erstgespräch durchschnittlich 12,5 Wochen. Bis zum Psychotherapiebeginn dauert es durchschnittlich sechs Monate. Schon wegen dieser Zeithorizonte kommt eine psychotherapeutische Behandlung in der Akutbehandlung einer depressiven Episode im ambulanten Bereich meistens kaum in Betracht.
Aus den dargelegten Untersuchungsergebnissen und Überlegungen ist offensichtlich zu schließen, dass psychotherapeutische Behandlung in der ambulanten Akutbehandlung depressiver Patienten nur eine geringe Rolle spielt und dass weiterhin die Antidepressiva-Behandlung im Zentrum steht. Wie erwähnt, sind die Gründe vielfältig und betreffen neben patienten- und therapeutenbezogenen Variablen auch Strukturen und sonstige Parameter des Versorgungssystems.
Psychopharmakotherapie 2013; 20(06)