Dr. Bettina Hellwig, Konstanz
Bei einem Drittel der Patienten mit multipler Sklerose (MS) treten Spastiken bereits zu Beginn der Erkrankung auf. Diese Muskelkrämpfe können vor allem in den Beinen ständig oder auch einschießend vorkommen, sehr schmerzhaft sein und unter anderem die Nachtruhe beeinträchtigen. Zur Behandlung werden verschiedene Spasmolytika eingesetzt. Dazu gehören Baclofen und Tizanidin, die als unerwünschte Wirkung Müdigkeit auslösen können.
Cannabinoide zur Behandlung von Spastiken
Seit zwei Jahren steht das Cannabinoid-Spray Sativex® zur Verfügung; es gehört zur Gruppe der verschreibungsfähigen Betäubungsmittel (Anlage III des Betäubungsmittelgesetzes; nur als Fertigarzneimittel). Das Präparat enthält Nabiximols, eine Mischung von zwei Extrakten aus Blättern und Blüten von Cannabis sativa, die auf feste Gehalte an Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD) eingestellt wird.
Diese Wirkstoffe binden an körpereigene Cannabinoid-Rezeptoren, unter anderem im zentralen Nervensystem, und beeinflussen die Freisetzung von Neurotransmittern und -modulatoren. Bei Patienten, die auf Nabiximols ansprechen, führt dies zu einer Verringerung der Spastik.
Bis zu zwölfmal am Tag
Verabreicht wird der Extrakt in Form eines Mundsprays, das auf die Innenseiten der Wangen gesprüht wird. Das Spray ist als Add-on-Therapeutikum für Patienten mit mittelschwerer bis schwerer MS-induzierter Spastik zugelassen. Voraussetzung für die Anwendung ist, dass die Patienten nicht ausreichend auf eine andere antispastische Therapie angesprochen haben und sich die Beschwerden durch die Therapie mit Nabiximols klinisch erheblich verbessern.
Als Dosis sind bis zu zwölf Sprühstöße täglich möglich. Die individuell notwendige Dosis wird durch eine langsame Steigerung über mehrere Wochen ermittelt, dabei können auch zwei bis drei Hübe täglich ausreichen.
Zu den häufigen unerwünschten Wirkungen des Mundsprays gehören Müdigkeit und Schwindel. Diese treten am häufigsten innerhalb der ersten vier Wochen auf und lassen meist nach einigen Tagen nach. Bei jeder Dosisänderung sowie in Verbindung mit Alkohol oder Beruhigungsmitteln muss jedoch mit weiteren Beeinträchtigungen gerechnet werden.
Fahrsicherheit bleibt erhalten
Bisher standen für MS-Patienten mit Spastik unter der Therapie mit Nabiximols in Bezug auf Fahrsicherheitsaspekte lediglich Pharmakovigilanz-Daten zur Verfügung. So waren in kontrollierten Studien oder Registerstudien keine kognitiven Einschränkungen beobachtet worden.
Dass das Cannabinoid-Spray auch die Fahrsicherheit und -tüchtigkeit nicht beeinträchtigt, zeigt eine prospektive, multizentrische, nichtkontrollierte, nichtinterventionelle Beobachtungsstudie mit 33 Anwendern. An der Studie waren drei deutsche spezialisierte Zentren beteiligt.
Ziel der Studie war es, über eine Dauer von vier bis sechs Wochen Daten über die Fahrtüchtigkeit von MS-Patienten mit Spastik unter Sativex® zu sammeln. Dazu wurden spezifische Tests eingesetzt, die den Anforderungen der Bundesanstalt für Straßenwesen zur Kraftfahreignung entsprechen. Die Fahrtüchtigkeit wurde durch computergestützte Erhebungen in den fünf Dimensionen visuelle Orientierung, Konzentration, reaktive Stresstoleranz, Reaktionsgeschwindigkeit und Überblicksgewinnung untersucht. Zusätzlich wurde die Tagesschläfrigkeit ermittelt. Zu Beginn wurden unter anderem Daten zur aktuellen medikamentösen Behandlung erhoben und die Patienten auf das Oromukosalspray eingestellt.
Am Ende der Studie war keiner der Patienten durch die Therapie mit Nabiximols in der Fahrtauglichkeit eingeschränkt. Zu Studienbeginn waren von 33 Patienten 14 (42,4%) als kraftfahrgeeignet eingestuft worden. Dieser Wert veränderte sich im Laufe der Studie unter der Anwendung des Cannabinoid-Sprays nicht. Auch der mithilfe der Epworth-Schläfrigkeits-Skala (ESS) bestimmte Wert zur Einschätzung der Tagesschläfrigkeit hatte sich nicht signifikant verändert.
Die tägliche Zahl der Spasmen sank bis zum Ende der Studie im Mittel von 15 auf 7,5 (n=20), auch waren die auftretenden Spastiken leichter. Alle Patienten führten die Therapie nach Studien-ende fort.
Alltagsrelevante Aspekte
Bei der Anwendung von Sativex® ist der THC-Blutspiegel niedriger als beim Rauchen von Haschisch, weshalb der Unterschied bei einer Blutuntersuchung leicht festgestellt werden kann. Patienten sollten bei der Anwendung des Sprays beim Autofahren eine entsprechende ärztliche Bescheinigung mit sich führen, in welcher der bestimmungsgemäße Gebrauch der Cannabinoide bestätigt wird.
Quelle
Dipl.-Psych. Matthias Freidel, Kaltenkirchen; Pressegespräch „Behandlung der MS-induzierten Spastik: Neue Studiendaten zu Fahrtauglichkeit und Betäubungsmitteln“, veranstaltet von Almirall Hermal GmbH im Rahmen des Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), Dresden, 20. September 2013.
Psychopharmakotherapie 2013; 20(06)