Reimund Freye, Baden-Baden, Prof. Dr. Jürgen Fritze, Pulheim
(Mit einem Kommentar von Prof. Dr. Jürgen Fritze
Gemessen an der Krankheitslast werden im Jahr 2020 psychische Störungen weltweit den größten Anteil an allen Erkrankungen einnehmen. Schon jetzt sind ein Viertel der Hausarztpatienten psychisch krank; seit der Jahrtausendwende sind psychische Störungen der häufigste Grund für Frühverrentungen (Abb. 1) und die stationäre Therapie seelischer Krankheiten benötigt die meisten Krankenhaus-Behandlungstage noch vor den Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und muskulo-skelettalen Erkrankungen.
Abb. 1. Zahl der krankheitsbedingten Berentungen [2]
Neu: Schuldvermutung bei Behandlungsfehlern
Angesichts eines neuen Abrechnungssystems (PEPP, Pauschalierendes Entgeltsystem für psychiatrische und psychosomatische Einrichtungen) in Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik sehen sich Ärzte, Therapeuten, Pflegende, Klinikleitungen, Betroffene und Angehörige gezwungen, in einem Aktionsbündnis mehr „Zeit für psychische Gesundheit“ einzuklagen.
PEPP ist ein pauschalierendes Entgeltsystem für stationäre Behandlung, welches an die Fallpauschalen (DRG) angelehnt ist. Es weist für fast alle Entgelte in der Psychiatrie verweildauerabhängige degressive Tagessätze aus. Dadurch sollen Kliniken bewegt werden, Patienten rascher zu entlassen. Wird jedoch ein Patient nach seiner Entlassung innerhalb von 21 Tagen wieder aufgenommen und ist dabei in dieselbe Strukturkategorie einzustufen, so müssen die Aufenthaltsdaten zusammengefasst werden und es erfolgt die Neueinstufung in ein Entgelt. Damit wird der Anreiz der raschen Entlassung bei gleichzeitiger Wiederaufnahme deutlich reduziert.
Auf einen wachsenden Bedarf an stationärer Behandlung gravierender psychischer Störungen reagiert die Politik mit einer Streichung von Behandlungskapazitäten in entsprechenden Kliniken. Wurden im Jahr 2000 noch 640000 stationäre Behandlungen in der Psychiatrie gezählt, so lag die Fallzahl im Jahr 2011 bereits bei mehr als 930000. Diesem steigenden Bedarf wird mit einer finanziellen Deckelung begegnet.
Hinzu kommt eine Fülle an neuen Gesetzen. Allein von Ende 2012 bis Juni 2013 muss der behandelnde Psychiater zehn Gesetzesnovellen mit berücksichtigen. Darunter das neue Patientenrechtegesetz, welches erstmalig eine Umkehrung der bislang juristisch grundlegenden Unschuldsvermutung beinhaltet: „Für den Schadenseintritt ursächlichen Behandlungsfehler wird das Verschulden der/des Behandelnden grundsätzlich vermutet.“
Zu befürchten steht so ein weiterer Bürokratisierungsschub der medizinischen Versorgung, welcher sich in einer abnehmenden Bereitschaft, den Arztberuf in Deutschland auszuüben, ausdrückt.
Diverse Transmittersysteme gleichzeitig bedienen
Bei der Behandlung der Depression besteht noch immer ein enormer Forschungsbedarf. Aufgrund der schlechten Prognose bei einem Rezidiv wäre nach wie vor ein besseres Verständnis, warum welcher Patient auf welches Antidepressivum respondiert oder nicht, notwendig. Gegen eine pharmakologisch bedingte Therapieresistenz lässt sich therapeutisch mit einer Umstellung auf ein Antidepressivum mit einem anderen Wirkungsmechanismus reagieren. Hier stellt die Entwicklung neuer antidepressiver Präparate verschiedene Optionen zur Verfügung.
Zuweilen hat es sich bereits bezahlt gemacht statt des Racemats (Gemisch aus R- und S-Isomer) nur das deutlich wirksamere Eutomer zu verabreichen: Escitalopram (Cipralex®, S-Citalopram) zeigt weniger Nebenwirkungen und weist zudem deutlich geringere Interaktionen auf als Citalopram (z.B. Cipramil®, Gemisch aus R- und S-Citalopram). Im Cochrane-Review von Cipriani und Kollegen hat Escitalopram das beste Wirksamkeits-Verträglichkeits-Verhältnis [1].
Dennoch ist die Entwicklung neuer Antidepressiva geboten. Einen multimodalen Wirkansatz beinhaltet Vortioxetin, das aber noch nicht zugelassen ist. Es wirkt an verschiedenen Serotonin-Rezeptor-Subtypen teilweise antagonistisch, teilweise stimulierend. Vortioxetin ist außerdem ein Serotonin-Wiederaufnahmehemmer und verstärkt verschiedene Neurotransmitter wie Noradrenalin, Acetylcholin, Dopamin und Histamin.
Durch dieses Wirkungsprofil sollen bestimmte Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme und Sexualstörungen ausgeschaltet und außerdem neben direkt antidepressiven Effekten auch die Kognition positiv beeinflusst werden. Erste Daten aus den Studien sind vielversprechend, sowohl hinsichtlich der Wirksamkeit als auch der Verträglichkeit.
Quelle
Priv.-Doz. Dr. med. Thomas Messer, Pfaffenhofen, Prof. Dr. med. Göran Hajak, Bamberg; Presseveranstaltung 12. Lundbeck Dialog ZNS, Hamburg, 13. Juni 2013, veranstaltet von Lundbeck GmbH.
Literatur
1. Cipriani A, et al. Comparative efficacy and acceptability of 12 new-generation antidepressants: a multiple-treatments meta-analysis. Lancet 2009;373:746–58.
2. Verband Deutscher Rentenversicherungsträger. www.vdr.de .
Kommentar
Anscheinend bestehen unverändert Missverständnisse über das PEPP. Die Budgets der Einrichtungen sind seit rund 20 Jahren „gedeckelt“: verhandelt auf Basis des kalkulierten Personal-Solls gemäß Psychiatrie-Personalverordnung (Psych-PV), grundsätzlich gebunden an die Entwicklung der Grundlohnsumme bzw. den Orientierungswert, mit Ausgleichen für Tarifsteigerungen sowie Mindererlöse (aber auch Mehrerlöse). Dies hat zu krankenhausindividuellen Tagespflegesätzen von etwa 100 € bis 300 € geführt, einer Spannbreite, die mit Leistungsgerechtigkeit wenig zu tun haben dürfte. Folglich ist es kein Wunder, dass der Grad der Erfüllung des Personal-Solls gemäß Psych-PV („Zeit für psychische Gesundheit“) zwischen den Einrichtungen erheblich variiert. Hierüber kontinuierliche Transparenz herbeizuführen, konnten sich die Krankenhäuser nicht entschließen. So bleibt auch im Geheimen, inwieweit Erlöse psychiatrischer Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern – widerrechtlich – zur Subventionierung anderer Abteilungen herangezogen werden.
Ziel des Gesetzes ist deshalb unter anderem, leistungsgerechte, also nach Patientenmerkmalen differenzierte Tagespauschalen einzuführen. Folglich lehnt sich PEPP nicht „an das DRG-System an“. PEPP soll datenbasiert entwickelt werden, also ohne normative Vorgaben („Wunschlisten“). Eine budgetneutrale Einführung sichert die wirtschaftliche Existenz des Krankenhauses. Folglich war und ist PEPP anhand der Ist-Kosten so zu kalkulieren, dass bei gleicher Fallzusammensetzung dieselben Gesamtausgaben resultieren.
Die Kosten je Tag nehmen mit steigender Verweildauer ab. Über die gesamte Verweildauer identische Tagespauschalen wären nicht leistungsgerecht: Kurzlieger wären unterfinanziert. Andererseits wären die Bürokratiekosten unvertretbar, jedem einzelnen Tag eine eigene Bewertungsrelation zuzuordnen.
Als pragmatische Problemlösung wurden die Vergütungsstufen gewählt: Das Krankenhaus stellt z.B. für PEPP P002A für die ersten 55 Tage eine höhere Pauschale je Tag in Rechnung als für die gegebenenfalls späteren Tage. Die Verweildauergrenzen wurden aus Häufigkeitsverteilungen abgeleitet. Ändern sich die Verweildauern, dann werden sich im Rahmen der grundsätzlich jährlichen Anpassung auch die Verweildauergrenzen ändern.
Jedenfalls unter Budgetneutralität würde niemand profitieren, dem ökonomischen Anreiz der Entlassung vor Erreichen der nächsten Vergütungsstufe zu erliegen. Die Pflicht zur Zusammenführung bei Wiederaufnahme dient dazu, diesen Anreiz zusätzlich zu mindern. Mit der Konvergenzphase (2017) wird die Budgetdeckelung schrittweise aufgehoben, also das Gegenteil einer „Streichung von Behandlungskapazitäten“.
Diese Missverständnisse gehören zu den Ursachen des Misstrauens: Die Ärzteschaft hegt die Sorge, von der Klinikadministration zu ökonomischem statt medizinisch indiziertem Handeln gedrängt zu werden: wohl nur etwa 20 Einrichtungen werden im Jahr 2013 für das PEPP optieren. Die Teilnahme am Kalkulationsverfahren scheint aber ungebrochen. Der Sorge der Ärzte kann nur durch systematische Qualitätssicherung (QS) begegnet werden. QS fehlt. Dieser ernste Mangel soll erst 2017 (§137[1c] SGB V) behoben sein.
Die Sorge nicht mehr primär nach medizinischer Indikation handeln zu können, ist auch ohne PEPP berechtigt und könnte z.B. den Kosten der Psychopharmakotherapie gelten, auch wenn die mit nur etwa 5% zu Buche schlagen dürften.
Psychopharmakotherapie 2013; 20(05)