Paradigmenwechsel in der Therapie der Alkoholabhängigkeit?


Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Gerd Laux Wasserburg/München

Neue epidemiologische Zahlen gehen davon aus, dass etwa 4% der deutschen Bevölkerung – also rund 2,6 Mio. Erwachsene – alkoholabhängig sind. Mit einem Pro-Kopf-Konsum von reinem Alkohol von etwa 10 Litern pro Jahr gehört Deutschland im weltweiten Vergleich zu den Hochkonsumländern. Im Jahr 2010 mussten rund 27000 Kinder und Jugendliche unter der Diagnose „akute Alkoholintoxikation“ („binge drinking“, „k.o.-Saufen“) stationär behandelt werden! In somatischen Krankenhäusern rangiert bei Männern die Diagnose „Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol“ nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen auf Platz 2, in psychiatrischen Versorgungskrankenhäusern stellen Alkoholkranke die größte Patientengruppe, bei männlichen Patienten etwa 30 bis 40% der Gesamtklientel. An den Folgen ihrer Alkoholerkrankung sterben in Deutschland etwa 74000 Menschen, die volkswirtschaftlichen Folgekosten der Alkoholabhängigkeit werden auf rund 28 Mrd. Euro jährlich beziffert. Die Alkoholkrankheit ist somit das sozialmedizinische Problem Nummer 1.

Für die Akutbehandlung alkoholabhängiger Patienten wurden Behandlungsleitlinien publiziert (AWMF). Die häufige stationäre Entzugsbehandlung in somatischen Krankenhäusern muss als ineffektiv bezeichnet werden, Standard sollte die sogenannte „qualifizierte Entzugsbehandlung“ in suchtmedizinischen Abteilungen von psychiatrischen Kliniken sein. Die stationäre Entwöhnungsbehandlung als nicht krankenkassenfinanzierte Maßnahme über etwa vier Monate gilt als Kernstück der Rehabilitation alkoholabhängiger Patienten. Es unterziehen sich aber weniger als 10% der Alkoholabhängigen einer Entwöhnungstherapie!

Angesichts dieser kurz skizzierten Situation halten es die Herausgeber der PPT für dringend geboten, ein Schwerpunktheft zum Themenkreis Suchtmedizin vorzulegen.

K. Mann, Mannheim, und J. Körkel, Nürnberg, fassen im ersten Beitrag die Entwicklung der Therapieansätze bei Alkoholabhängigkeit zusammen. Der „Goldstandard“ dauerhafte Abstinenz wird nur von einer Minderheit der Patienten erreicht, die Reduktion von Trinkmengen dagegen von erstaunlich vielen Betroffenen. Letzteres hat die europäische Zulassungsbehörde für Medizinalprodukte (EMA) 2010 zumindest als intermediäres Behandlungsziel im Sinne eines Schaden minimierenden Ansatzes anerkannt. In Deutschland hat das mangelnde ärztliche Interesse an Menschen mit Alkoholproblemen zur Entstehung eines dualen, parallelen Suchthilfesystems beigetragen. Neben krankenkassenfinanzierten Entgiftungen und Entzugsbehandlungen entstand ein überwiegend von Rentenversicherungsträgern finanziertes Hilfesystem primär stationärer Entwöhnungsbehandlungen. Der Ansatz des „kontrollierten Trinkens“ wurde vehement diskutiert, trotz relativ günstiger Datenlage erfolgte in Deutschland bis heute keine Öffnung der therapeutischen Angebote für reduktionsorientierte Ansätze. International wurden in groß angelegten kontrollierten Studien alternative Therapieansätze im Sinne der Reduktion des Alkoholkonsums sowie zur Rückfallprophylaxe mit Medikamenten untersucht. Studienziel war überwiegend die medikamentös gestützte Abstinenz, erst spätere Auswertungen von neukonzipierten Studien implementierten als Therapie- und Studienziel die Schadensminimierung („Harm-Reduction“) durch Reduktion des Alkoholkonsums.

R. Spanagel und F. Kiefer, Mannheim, beschreiben in ihrem Beitrag zur Neurobiologie der Alkoholabhängigkeit anschaulich die zum Teil fundamentalen Erkenntnisse der Grundlagenforschung. Es konnten Bindungsstellen für Ethanolmoleküle an Rezeptoren und Ionenkanälen charakterisiert werden; für die akute psychotrope Alkoholwirkung sind insbesondere NMDA- und GABAA-Rezeptoren von Bedeutung. Für die verstärkenden und belohnenden Eigenschaften von Alkohol scheinen indirekte Wirkungen auf Neurotransmitter-/Neuropeptid-Systeme eine wichtige Rolle zu spielen (Dopamin, endogenes Opioidsystem). Bahnbrechend für die Entschlüsselung neurobiologischer Suchtmechanismen war die Entdeckung des mesokortikolimbischen dopaminergen Belohnungssystems, begleitet von einer verminderten präfrontalen Kontrolle. Aus diesen Erkenntnissen lassen sich neue therapeutische Interventionsmöglichkeiten ableiten.

W. E. Müller, Frankfurt, gibt im anschließenden dritten Beitrag eine profunde Übersicht zur Pharmakologie und Pharmakokinetik der in Deutschland zugelassenen Substanzen zur Behandlung der Alkoholabhängigkeit. Es sind dies das „alte“ alkoholaversiv wirkende Disufiram, die Anti-Craving Substanz Acamprosat, der Opioid-Antagonist Naltrexon und der neue Opioid-Modulator Nalmefen.

K. Mann, Mannheim, präsentiert im vierten Beitrag die Ergebnisse der ersten klinischen Prüfungen mit Nalmefen und ausführlich die Ergebnisse neuer Phase-III-Studien. Hiernach kann die Wirksamkeit von Nalmefen über Plazebo in der Reduktion des Alkoholkonsums bei Alkoholabhängigen als überzeugend belegt gelten.

Der abschließende Beitrag von G. Mundle, Berlin, und J. Aldenhoff, Kiel, befasst sich mit der Frage wie ein modernes Suchthilfesystem in Deutschland aussehen sollte. Nach Skizzierung der strukturellen Besonderheiten (getrennte Behandlungsnetzwerke) konstatieren sie, dass bislang das Prinzip einer medikamentösen Behandlung bei der Alkoholkrankheit nicht etabliert ist, auch eine Kombinationsbehandlung Psychotherapie und Pharmakotherapie wie bei den meisten seelischen Krankheiten, spielt bislang praktisch keine Rolle. Sonst in der Medizin übliche abgestufte Handlungskonzepte in Abhängigkeit von Schweregrad und Verlauf existieren bislang nicht – Therapieziel in der Behandlung des Alkoholismus ist nach wie vor die Abstinenz. Das Abstinenzgebot als alleiniges Therapieziel ist aber zu hinterfragen, nur eine kleine Gruppe von Patienten erreicht langfristig stabile Abstinenz. Durch die Wahlfreiheit bezüglich des Therapieziels könnten deutlich mehr Patienten erreicht werden, unterstützende medikamentöse Angebote sollten gegen Widerstände der Abstinenzphilosophie angesetzt werden, insbesondere auf der hausärztlichen, ambulanten Behandlungsebene.

Von entscheidender Bedeutung für die breite Anwendung des neuen Therapieansatzes der medikamentös unterstützten Trinkmengenreduktion wird es sein, ob die Arzneimittelrichtlinie den Einsatz von Arzneimitteln zur Reduktion des Alkoholkonsums erstattbar macht, wenn die Patienten Abstinenz nach mehrmaligen erfolglosen Therapieversuchen nicht erreichen können.

Psychopharmakotherapie 2013; 20(05)